Paul Scott (1920–1978) darf in Deutschland als unbekannter Autor gelten und das, obwohl gleich acht seiner Romane ins Deutsche übersetzt wurden: In den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts zwei bei Kiepenheuer & Witsch sowie einer bei Blanvalet; dann von 1985 an sein Raj-Quartet, das zwischen 1965 und 1975 entstanden ist, und zusätzlich den Nachzügler zu dieser Tetralogie, der 1977 sogar den Booker-Preis gewann, den der schon sehr kranke Autor aber leider nicht mehr entgegennehmen konnte. Die fünf zuletzt genannten Bände legte 1997/1998 Goldmann noch einmal im Taschenbuch vor, um Scott damit in die erneute Vergessenheit zu verabschieden.
Ich habe „Das Juwel in der Krone“, den ersten Band des Raj-Quartets, vor 20 Jahren auf eine Empfehlung hin gelesen, und seitdem immer vorgehabt, die Reihe komplett zur Kenntnis zu nehmen. Nun habe ich mich innerlich verpflichtet gefühlt, dem doch noch nachzukommen, bevor ich die Bände wegen des eklatanten Platzmangels in der Bibliothek aussortiere, und habe daher erneut mit diesem Auftaktband begonnen.
Die Handlung spielt im Wesentlichen im Jahr 1942 in der erfundenen nordindischen Stadt Majapur. Den Kern bilden einige wenige Tage im August, nachdem die Cripp’s Mission gescheitert ist und Gandhi den Konflikt mit der britischen Obrigkeit bewusst verschärft. Auch in Majapur und Umgebung kommt es zu Unruhen: Die Leiterin einer Missionsschule wird auf einer Inspektionsfahrt zu einer ihrer Schulen von einer Gruppe Aufständiger überfallen, und dabei wird ein indischer Lehrer getötet. Und es kommt unter anderem in Majapur zur Vergewaltigung einer Engländerin in einem Park durch eine Gruppe von Indern; besonders dieser Vorfall ist in seinen Umständen sehr komplex, und es benötigt das gesamte Buch, bis dem Leser die tatsächlichen Abläufe und ihre Folgen klar sind.
Neben den in diese Ereignisse direkt verwickelten Figuren weist der Roman eine ganze Reihe weiterer Hauotpersonen auf, die dem Geschehen mehr oder weniger nahestehen: der örtlichen Polizeichef, der der später vergewaltigten Engländerin einen Heiratsantrag macht, aber abgewiesen wird, eine reiche Inderin, bei der die junge Engländerin wohnt, und die stellvertretend das aus Sicht der Engländer gesellschaftsfähige Indien repräsentiert, eine russische Emigantin, die ein Hospiz für diejenigen betreibt, die sonst auf der Straße sterben würden, einen jungen Inder, der in England aufgewachsen ist und nach Bankrott und Suizid seines Vaters nach Indien zurückgekehren musste, nur um sich dort als doppelter Außenseiter wiederzufinden, der militärische Anführer und der Chef der zivilen Verwaltung und noch einige mehr.
Scott hat für seine komplexe Schilderung der sozialen Verhältnisse, die den eigentlichen Gehalt des Buches darstellen, und der Ereignisse während der Tage des Aufstandes eine sich langsam fortentwickelnde Erzählform erfunden, die als auktoriale Erzählung zu beginnen scheint, sich aber zunehmend in den Bericht eines namenlosen Erzählers verwandelt, der versucht, die Umstände der Vergewaltigung zu rekonstruieren. So liefert das Buch in der zweiten Hälfte nicht nur Briefe der Figuren, sondern auch Auszüge aus biografischen Erinnerungen, die Niederschrift eines Interviews, Auszüge aus dem Tagebuch des Opfers etc. pp.
Insgesamt muss ich leider sagen, dass dem Roman die Zweitlektüre nicht unbedingt gut getan hat: Wenn der Leser einmal um die Umstände der Vergewaltigung weiß, ist ein wichtiges Spannungselement des Romans verschwunden, so dass mir besonders die ersten zwei Drittel diesmal einige Mühe gemacht haben. Ich schreibe das aber komplett der erneuten Lektüre zu, so dass man sich von einer ersten dadurch nicht abhalten lassen sollte. Ich hoffe, es gelingt mir in der nächsten Zeit einigermaßen zügig die anderen Bände folgen zu lassen.
Paul Scott: Das Juwel in der Krone. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72102. München: Goldmann, 1997. Broschur, 669 Seiten. Nicht mehr lieferbar.
Welch ein Zufall: In der Phantasie bin ich auch gerade im Fernen Osten, im zweiten Teil von Jane Gardams Trilogie (Ein untadeliger Mann; Eine treue Frau; Letzte Freunde). Allerdings ist diese Lektüre scheinbar amüsanter als die Ihre.
Dennoch ein angenehmes verlängertes Wochenende,
Frank Jung