Aus dem Zugang (2)

Werkausgaben – wie immer sie sich nun nennen mögen: Gesammelte Werke, Sämtliche Werke oder gar Sämtliche Schriften (ein Titel, der sich beinahe niemals einlösen lässt) – sind janusköpfige Wesen: Auf der einen Seite erschrecken sie den unerfahrenen Leser mit ihrem Umfang und vorgeblicher Erklärungsmacht, auf der anderen handelt es sich bis zu ihrer Vollständigkeit um zarte, verletzliche Wesen, den schon der kleinste Luftzug irreparable Schäden oder gar den Tod bringen kann. Wieviele Verlage sind früher dahingegangen als ihre Werkausgaben? Wieviele Werkausgaben hatten gerade zögerlich ein oder zwei Bände in die Welt gesetzt, als sie von einem finanziellen Engpass aus in einen Abgrund stürzten oder von ihrem Herausgeber sträflich vernachlässigt am Rande einer Buchmesse dahinsiechten? Und selbst, wenn die Hürde von 10 oder gar 20 Bänden übersprungen ist, kann sie immer noch die Verunstaltung treffen, dass sie unvollendet bleiben und für immer in dieser schaurigen Gestalt durch die Bibliotheken geistern müssen. Und wie oft hat schon ein Leser den oft zitierten 16. Band gesucht, nur um sich nach Jahren von einem pensionierten Bibliothekar kopfschüttelnd belehren lassen zu müssen: Der sei doch nie erschienen; da sei doch damals die Hilfskraft dem Professor untreu geworden und der habe sich daraufhin als unfähig erwiesen, das nicht von ihm gezeugte Wesen bis zur Lebensfähigkeit durchzubringen. Habent sua fata libelli.

Mit Band 24 – Briefe an Véra – ist heuer daher die Vollständigkeit und damit Großjährigkeit der Vladimir-Nabokov-Werkausgabe (Gesammelte Werke, obwohl die beiden Brief-Bände der Ausgabe gerade keine Werke enthalten) zu feiern. Ein dreifaches Hoch! auf den Herausgeber Dieter E. Zimmer – dessen erleichtertes Aufseufzen man wahrscheinlich noch in Montreux hören konnte –, einen herzlichen Glückwunsch an den Paten Rowohlt aus Reinbek (der ganz bescheiden auf seiner Webseite die Vollständigkeit des Kindes nicht einmal erwähnt, geschweige denn sich mit dem vollbrachten Aufziehen des Kindes brüstet, wie es ihm zustünde) und ein Freudenfest für alle deutschen Leser Nabokovs. Es ist vollbracht! Nur 28 Jahre hat es gedauert, bis die Wucht der 25 Bände (Band 15 wurde geteilt!) vorliegt; ich war zu faul, die Seitenzahlen aufzuaddieren und ein weiteres Glanzlicht aufscheinen zu lassen.

Diese Nabokov-Ausgabe ist nach Vollständigkeit und Sorgfalt der Kommentierung sicherlich einmalig auf der Welt. Einzig die Gedichte scheinen absichtlich außen vor gelassen worden zu sein, sofern sie nicht in andere Texte eingebettet sind; ich habe bislang keine Stelle finden können, an der der Herausgeber diese Entscheidung erklären würde. Selbst Nabokovs Dramen und seine eher fragwürdigen Vorlesungen zur europäischen Literatur, mit denen Nabokov zahlreiche us-amerikanische Studenten auf diverse Holzwege geschickt hat, wurden neu und ausführlich ediert. Die beiden Bände mit den Erzählungen (13 und 14), die zusammen mit Lolita 1989 die Ausgabe eröffnet hatten, sind 2014 überarbeitet und erweitert neu aufgelegt worden. Man sieht leicht, dass wirklich alle möglichen Anstrengungen unternommen worden sind, die Ausgabe auf ein möglichst hohes Niveau zu bringen, bevor man sie für abgeschlossen und fertig erklären muss.

Bleibt die Frage, ob dieser ganze Aufwand für ein One-Book-Wonder wie Nabokov denn überhaupt gerechtfertigt sei. Hierzu empfehle ich die fortgesetzte Lektüre meiner Besprechungen zu Nabokov oder auch die Lektüre des Romans Pnin, von dem aus sich Nabokov auf ganz und gar andere Weise erschließt als von der zumeist als Missverständnis gelesenem Lolita. Nabokov gehört zu den letzten durch und durch romantischen Autoren der europäischen Erzähltradition – im Sinne der Literaturepoche, nicht in dem der gefühligen Kerzenlicht-Soße –, einer der von der Macht und der Notwendigkeit erfundener Welten für das Wohl der Menschen zutiefst überzeugt war und glaubte, dass die Anspielung der einzige Weg ist, auf dem ein gebildeter Mensch einen Scherz machen sollte.

Vladimir Nabokov: Briefe an Véra. Hg. v. Brian Boyd u. Olga Voronina. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Gesammelte Werke XXIV. Reinbek: Rowohlt, 2017. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1147 Seiten. 40,– €.

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer

Zanganeh-ZaubererEine merkwürdige Mischung aus biographischer Studie, literarischem Essay und Fan-Prosa über Vladimir Nabokov und einige von seinen Büchern. Merkwürdig ist das Buch vor allem deshalb, weil es von einer Art naiver Begeisterung getragen ist, die normalerweise nicht lang genug überlebt, um in einem Buch dokumentiert zu werden. Für jemanden, der von Nabokov nur das Übliche oder gar kein Buch gelesen hat, mag das ganz nett sein, doch diejenigen, die sich nur ein wenig besser auskennen, werden schwerlich mit dem Buch zufrieden sein.

In der Hauptsache geht es um drei Bücher Nabokovs: die beiden Romane „Lolita“ und „Ada“ sowie seine Autobiographie „Erinnerung, sprich“; das ein oder andere wird zwar en passant zusätzlich zitiert, doch bleibt es bei marginalen Zitaten. Weder Nabokovs frühe Versuche im Kriminal- oder Unterhaltungsgenre werden erwähnt, noch seine Bücher, die sich in der Hauptsache um staatliche Gewalt, Gefangenschaft und Tod drehen. Denn Zanganeh geht es bei Nabokov wesentlich um eine Sache: um – ach! – die Liebe! Und die wahre Liebe gibt es natürlich immer nur in der Erinnerung, sei es Nabokovs sentimentaler Blick zurück auf seine russische Jugend oder Humbert Humberts erste und einzige pubertäre Verliebtheit an der Riviera.

Man muss fair sein und zugeben, dass Zanganeh sich wie Nabokov selbst darüber im Klaren ist, dass das Sentimentale nur eine Seite der Medaille darstellt und stets verquickt ist mit zerstörerischen Umständen: politischem Umsturz, Pädophilie oder Inzest. Doch diese Seite stört bei Zanganehs Neigung zur Sentimentalität, weshalb der unbelehrte Leser einen eher schiefen Eindruck von der Welt der Nabokovschen Fiktionen erhält. So ist Humbert Humbert zwar immer noch der egozentrische, verantwortungslose Asoziale des Romans, doch ist in Zanganehs Blick seine narzisstische Fixierung auf Dolly Haze trotz allem Liebe. Nabokov würde es wahrscheinlich mit einem schiefen Lächeln quittieren.

Neben der Auseinandersetzung mit einigen von Nabokovs Texten, wird er als Lepidopterologe gewürdigt (seine Fähigkeiten als Schachkomponist bleiben unerwähnt), sein Sohn Dmitri tritt auf und wir erfahren dies und das über die Autorin, die sich als Leserin Nabokovs immer wieder mit ins Spiel bringt. Zumindest dieser letzte Aspekt des Buches ist originell und trägt der Einsicht Rechnung, dass Lektüre im Idealfall immer die Verflechtung zweier – im Fall dieses Buches sogar dreier – Individualitäten darstellt.

Insgesamt für all jene (und das werden wohl die meisten sein), die Nabokov nicht oder nur aus dem einzigen Buch „Lolita“ kennen, wahrscheinlich eine anregende und informierende Lektüre, für einen Achtel-Kenner wie mich zu selektiv und enthusiastisch.

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer. Nabokov und das Glück. Aus dem Englischen von Susann Urban. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2015. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,95 € (Preis für Mitglieder) / 22,95 €.

Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen

Nabokov-Bastardzeichen„Das Bastardzeichen“ erschien nach einer längeren Pause im Schreiben Vladimir Nabokovs erst 1947 in den USA. Nach „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ (1941) hatte Nabokov nur als Auftragsarbeit seine Kurzeinführung zu „Nikolaj Gogol“ geschrieben, ansonsten war er damit beschäftigt gewesen, als Entomologe, Lehrer für Russisch und Dozent für zeitgenössische Literatur seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mit „Bend Sinister“, wie der Text im Original heißt, kehrt er ab dem Herbst 1942 zur fiktionalen Prosa zurück.

Der Roman schließt in einem gewissen Sinne an „Einladung zur Enthauptung“ (1936) an: Auch hier bildet den Hintergrund der Fabel ein fiktives totalitäres System, das Züge sowohl des Sowjetstaates als auch des Dritten Reiches trägt. Protagonist ist der international berühmte Philosophieprofessor Adam Krug, der zu Beginn des Romans den überraschenden Tod seiner erkrankten Ehefrau erleben muss. Krug bleibt mit seinem kleinen Sohn zurück, dem er den Verlust der Mutter so lange wie möglich zu verheimlichen sucht. Zugleich versucht er nach Kräften, den politischen Umsturz in seinem Land zu ignorieren: Ein Schulkamerad Krugs, Paduk, genannt „Die Kröte“, hat mit seiner Partei des durchschnittlichen Menschen die Macht an sich gerissen und lässt umfangreich Verhaftungen vornehmen, die zuerst nur den Bekanntenkreis Krugs betreffen. Solange es noch problemlos möglich wäre, aus dem Land zu fliehen, weigert sich Krug dies zu tun, weil dies hieße, die Realität und Relevanz der politischen Welt anzuerkennen. Auch weigert er sich, für die Universität beim neuen Diktator vorstellig zu werden, ja, als er diesem schließlich mit sanftem Nachdruck vorgeführt wird, weigert er sich ebenso strikt, die Stelle des Rektors einer neuen Staatsuniversität zu übernehmen. Und als er schließlich wenigstens in seinen Träumen bereit ist, eine Flucht zu unternehmen, ist es zu spät: Krug wird verhaftet und in einer sich immer weiter zuspitzenden, alptraumhaften Sequenz der staatlichen Willkür zugeführt.

Das wesentliche erzählerische Mittel des Romans ist die Abfolge von Real- und Traumsequenzen, die, wie auch bereits in „Einladung zur Enthauptung“, nahtlos ineinander übergehen; nur von Zeit zu Zeit wird das Ende einer zu realistisch geratenen Traumsequenzen durch das Erwachen des Träumers markiert. Pointe dieser Technik ist hier allerdings, dass die letzte Sequenz des Buches, die die reale Vernichtung Krugs und seines Sohnes vorführt, alle Träume und Alpträume zuvor an Wahn übersteigt. Die totalitäre Wirklichkeit der Durchschnittsmenschen kann mit keiner Phantasie des Philosophen Schritt halten.

Die Leidenschaft, die der Autor offensichtlich in die Verdammung eines fiktiven Totalitarismus investiert, erklärt sich natürlich problemlos aus der Biographie Nabokovs, der aus Deutschland gleich zum zweiten Mal vor einer unmenschlichen Diktatur in eine Fremde und eine andere Sprache zu fliehen gezwungen war. Doch dem heutigen Leser mag es nicht unbedingt leicht fallen, sich auf diese Leidenschaft einzulassen, denn nicht nur sind Nabokovs Bilder der Gewalt gealtert, auch das Metaphernpaar Realität/Traum wirkt etwas zu abgegriffen und flach, um dem Grauen der Gewalt im 20. Jahrhundet gerecht zu werden. Das Schlimmste war es eben nicht, dass ein berühmter Philosoph und ein kleines Kind umgekommen sind, sondern das wahre Grauen lag ganz woanders; aber das konnte Nabokov kaum erahnen, als er das Buch schrieb.

Darüber hinweg trösten kann man sich vielleicht mit jenem Kapitel, indem sich Nabokov über einige Shakespeare-Deuter des 19. Jahrhunderts lustig macht, oder auch mit jener Passage, in der er eine Reihe unzusammenhängender Fakten als Notizen Krugs für einen Essay ausgibt, deren Zusammenhang allerdings nicht einmal mehr Krug noch zu durchschauen weiß.

Es mag auch sinnvoll sein, wenigstens einen Hinweis zu dem etwas kryptischen Titel zu geben: „Bend Sinister“ ist ein Fachbegriff aus der Heraldik, der auf Deutsch Bastardbalken oder Bastardfaden heißt und in Wappen dazu dient, den unehelichen Zweig eine Familie kenntlich zu machen. Wer allerdings in diesem Roman aus welchen Gründen der Bastard ist, wird jeder Leser mit sich selbst ausmachen müssen.

Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke VII. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 23,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (78)

Sei nicht zu sicher, daß du die Vergangenheit aus dem Mund der Gegenwart erfährst. Hüte dich auch vor dem ehrlichsten Vermittler. Vergiß nicht, daß alles, was man dir sagt, eigentlich dreifach zusammengesetzt ist: Es ist geformt vom Erzähler, umgeformt vom Zuhörer und vor beiden durch den Toten in der Geschichte verborgen.

Vladimir Nabokov
Das wahre Leben des Sebastian Knight

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight

Aber ich wüßte keinen anderen Dichter zu nennen, der von seiner Kunst einen so verwirrenden Gebrauch macht – verwirrend für mich, der ich versuche, hinter dem Autor den wahren Menschen zu sehen.

Nabokov-Sebastian-KnightDer erste Roman, den Nabokov von Anfang an in Englisch verfasst hat. Die Entscheidung, die Sprache zu wechseln, kann für einen Schriftsteller und noch dazu für einen so sprachbewussten und eigenwilligen wie Nabokov niemals leicht sein. Nabokov sah sich dazu aus ganz praktischen Gründen gezwungen: Er hatte 1937 Deutschland endgültig verlassen und lebte zu der Zeit, als der „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ schrieb, mit seiner Familie unter kargen Bedingungen im Süden Frankreichs und später in Paris. Es war ihm klar, dass er das von den Deutschen bedrohte Europa wohl würde verlassen müssen und dass die USA für ihn und seine Familie der sich anbietende Fluchtpunkt sein würden.

Ein US-amerikanischer Verlag hatte sich 1937 an „Gelächter im Dunkel“ interessiert gezeigt, und Nabokov hatte die Gelegenheit genutzt, nach „Verzweiflung“ ein weiteres seiner Bücher selbst ins Englische zu übertragen. Da der deutsche und deutsch-russische Buchmarkt in Zukunft für einen russischen Autor mit einer jüdischen Ehefrau wohl eher eine unsichere Sache darstellen würde, konnte Nabokov nur hoffen, sich auf dem englischsprachigen Markt etablieren zu können. Dazu war es aber allein schon aus Gründen der Effizienz notwendig, die Doppelbelastung von Niederschrift eines russischen Originals und anschließender Übersetzung in die Sprache seiner hauptsächlichen Leserschaft zu vermeiden. Nabokov musste also wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ein englischer bzw. amerikanischer Autor werden.

So entstand um die Jahreswende 1938/1939 herum der kleine Roman „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ auf Englisch. Sein Ich-Erzähler ist ein namenlos bleibender Exilrusse, der versucht, eine Biographie seines früh verstorbenen, als Schriftsteller erfolgreichen Halbbruders zu verfassen. Treibendes Motiv ist sein Schuldbewusstsein, dass er sich zu Lebzeiten nicht ausreichend um seinen Halbbruder gekümmert hat, der ihm das allerdings durch seine distanzierte Haltung auch nicht einfach gemacht hatte. Sebastian Knight war der Sohn der ersten Frau des Vaters des Ich-Erzählers, einer eher flatterhaften Frau, die sich vom gemeinsamen Vater der Brüder rasch wieder getrennt hatte. Sebastian und der sechs Jahre jüngere Erzähler waren gemeinsam aufgewachsen, nach dem Tod des Vaters zusammen mit der Mutter bzw. Stiefmutter aus dem kommunistischen Russland nach Finnland und Dänemark geflohen, von wo aus Sebastian zum Studium nach England, die Mutter mit dem Erzähler nach Paris gegangen waren. Seit dieser Zeit ist der Kontakt zwischen den Brüdern immer nur sporadisch, auch wenn sich Sebastian um den finanziellen Unterhalt des Erzählers nach dem Tod von dessen Mutter kümmert.

Sebastian wird ein relativ bekannter Schriftsteller, der alles in allem fünf Bücher veröffentlicht. Er lebt eine gute Weile mit Clare Bishop zusammen – Knight ist das englische Wort nicht nur für den Ritter, sondern auch für den Springer im Schachspiel, Bishop heißt dort der Läufer; Sebastian und Clare gehören also offensichtlich zum selben Spiel (vielleicht gar zu derselben Farbe), müssen aber ebenso offenbar zwangsläufig getrennte Wege gehen –, verliebt sich dann aber bei einem Kuraufenthalt in eine andere Frau, die wahrscheinlich durch ihr emotionale Gleichgültigkeit ihm gegenüber wesentlich mit zu seinem frühen Tod beiträgt; Sebastian Knight leidet – wie sich das für einen anständigen allegorischen Autor gehört – an einem ererbten Herzleiden. Der von einem mit der Familie befreundeten Arzt benachrichtigte Erzähler eilt von Marseille aus an das Krankenbett seines Bruders, kommt aber am Ende doch zu spät. Vom schon erwähnten Schuldgefühl angetrieben, versucht er nun, die Biographie seines Bruders zu rekonstruieren. Der Bericht von diesem letztendlich scheiternden Unterfangen bildet im Wesentlichen den Inhalt des Buches. Ganz am Ende findet sich noch eine zusätzliche, romantisch-nabokovsche Wendung, wenn der Erzähler sich mit seinem Halbbruder für identisch erklärt; man kann dies – wie der Übersetzer und Herausgeber des Bandes – tiefsinnig interpretieren wollen, man kann aber auch schlicht die Schultern zucken und es als das zur Kenntnis nehmen, was es ist: eines der üblichen Spielchen, wie Nabokov sie geliebt hat, um seinen Lesern unter die Nase zu reiben, dass es sich bei allen seinen Büchern immer um Fiktionen handelt. Wir hätten es auch ohne das bemerkt.

Das Buch ist recht witzig geraten: Es ist natürlich kein Zufall, dass Nabokov für seinen ersten englischen Roman einen russischen Möchtegern-Autor erfindet, der ebenfalls dabei ist, sein erstes Buch auf Englisch zu schreiben. Es bietet sich ausgiebig Gelegenheit, prinzipielle poetologische Überlegungen auszubreiten, sich sowohl über eigene Marotten, Vorlieben und Eitelkeiten als auch die anderer Autoren lustig zu machen usw. usf. Dass der Autor in seinem Vorhaben wesentlich scheitert – „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ ist weit mehr ein Buch über den namenlosen Erzähler als über das obskure Objekt seiner Liebe –, lässt sich als eine Parodie auf die Parodie einer Biographie in „Die Gabe“ lesen, was, ins Ernste gewendet, nicht weniger als die Zuspitzung von Nabokovs Zweifel daran ist, ob sich die Komplexität des Lebens eines wirklichen Menschen überhaupt angemessen in ein Buch bannen lässt. All das wird mit anscheinend leichter Geste vorgetragen, und selbst dort, wo der Erzähler die moralische Keule zur Verteidigung seines Bruders schwingt, weiß der Leser inzwischen genug, um die für das Verständnis dieser Stellen notwendige Ironie selbst aufzubringen.

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke VI. Reinbek: Rowohlt, 1996. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 299 Seiten. 21,– €.

Vladimir Nabokov: Die Gabe

Er war blind wie Milton, taub wie Beethoven und obendrein dumm wie Beton.

Nabokov-Gabe„Die Gabe“, entstanden in den Jahren 1933 bis 1938 in Berlin und an der Côte d’Azur, ist der letzte Roman, den Nabokov auf Russisch schrieb. Er ist auch so etwas wie ein erster Abschluss seiner Aus­ein­an­der­set­zung mit der russischen Immigranten-Szene Berlins, in der Nabokov von 1922 bis 1937 gelebt hatte. Zudem ist es der bis dahin literarischste Roman Nabokovs, da sein Protagonist ein junger russischer Schriftsteller ist und die russische Literatur seit dem 19. Jahrhundert eine der thematischen Ebenen des Romans bildet.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Grafen Fjodor Godunow-Tscherdynzew, der zu Anfang des Romans gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hat. Er lebt in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als russischer Exilant in Berlin; seine Mutter und Schwester sind in Paris, sein Vater, ein berühmter For­schungs­rei­sen­der, ist auf seiner letzten Expedition verschollen und muss für tot gehalten werden. Seine sozialen Kontakte sind auf einen kleinen Kreis von Immigranten beschränkt, darunter auch einige Schriftsteller, die wie er selbst mit der kärglichen Bedingungen des Exils zurechtkommen müssen. Handlung hat das Buch nur wenig: Nach einer Zeit der Untätigkeit beginnt Godunow-Tscherdynzew die Biographie seines Vaters zu verfassen, gibt dieses Projekt aber nach einigen Monaten wieder auf, um stattdessen die Biographie Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis (1828–1889) zu schreiben. Nabokov lässt es sich nicht nehmen, diese Biographie im 4. Kapitel des Romans auf knapp 150 Seiten vollständig wiederzugeben. Das Buch wird ent­ge­gen der Intention ihres Verfassers weithin als Parodie oder sogar als Satire auf das Leben des frühen russischen Revolutionärs verstanden, weshalb Godunow-Tscherdynzew zuerst einige Schwierigkeiten hat, einen Verlag für das Buch zu finden; als es dann doch erscheint, wird es rasch zum Zentrum eines Sturms im Wasserglas der russischen Exil-Literatur.

Unterdessen hat sich der Protagonist verliebt: Sina, die Stieftochter seines neuen Vermieters, trifft sich täglich mit ihm zu Spaziergängen durch das abendliche Berlin. Sie unterstützt ihn bei der Arbeit an der Biographie, wahrscheinlich aber auch finanziell – sie arbeitet als Schreib­kraft bei einem Rechtsanwalt und gibt Fjodor zumindest ein­mal eine hohe Summe, damit er die ausstehende Miete bei ihren Eltern bezahlen kann. Dass das Paar füreinander bestimmt ist, macht Nabokov im letzten Kapitel klar, als er die Eltern Sinas nach Kopenhagen ziehen lässt; auf den letzten Seiten gehen die beiden Liebenden zur nun leeren Wohnung zurück, um ihre erste Liebesnacht miteinander zu ver­brin­gen. Nabokov wäre allerdings nicht Nabokov, wenn er für die beiden nicht noch eine kleine, böse Überraschung vorbereitet hätte, die am Ende aber unerzählt bleibt.

Das Buch ist sicherlich für Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vergnüglicher zu lesen als für den gewöhnlichen deutschen Leser. Besonders die frühen Passagen der Tscher­ny­schew­ski-Bio­gra­phie in Kapitel 4 sind etwas zäh; dagegen ist die von Na­bo­kov detailliert vorgeführte Rezeption des Buches eine hübsche Parodie auf Gepflogenheiten des Literaturbetriebs, die sich bis heute nicht groß geändert haben. Erwähnt werden sollte wohl noch, dass Nabokov auch in diesem Buch mit den Grenzen zwischen Phantasie und Realität spielt: An zahlreichen Stellen des Buches geht die Wahrnehmung des Helden nahtlos in eine seiner Phantasien über; auch Träume spielen wieder eine bedeutende Rolle im Text.

Alles in allem ein routinierter Künstlerroman, der viel von der li­te­ra­ri­schen Kultur der russischen Exilanten in Berlin widerspiegelt; zugleich handelt es sich um eine satirische Auseinandersetzung mit der rus­si­schen Literaturszene, sowohl der des 19. Jahrhunderts als auch der Opposition zwischen den revolutionär orientierten und den kon­ser­va­ti­ven Kräften des Exils. Die deutsche Übersetzung beeindruckt be­son­ders durch die Übersetzungen der Gedichte des Protagonisten, bei denen der Übersetzerin das nicht kleine Kunststück gelingt, einen halb originellen, halb eklektizistischen Tonfall zu erzeugen.

Vladimir Nabokov: Die Gabe. Deutsch von Annelore Engel-Braunschmidt. Gesammelte Werke V. Reinbek: Rowohlt, 42001. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 795 Seiten. 30,– €.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung

Ich brauche wenigstens die theoretische Möglichkeit, daß ich einen Leser habe, sonst könnte ich das eben­so­gut alles zerreißen.

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„Einladung zur Enthauptung“ ist ein kurzer Roman, den Nabokov 1934 in Berlin sozusagen zwischendurch geschrieben hat: Seine Niederschrift unterbrach die des deutlich umfangreicheren Romans „Die Gabe“. Erzählt werden die letzten Tage des Gefangenen Cin­cin­na­tus, der zu Anfang des Buches als soeben zum Tode Verurteilter in seine Zelle zurückkehrt. Cin­cin­na­tus ist offenbar Opfer eines totalitären Regimes, das ihn wegen eines Persönlichkeitsverbrechens verurteilt hat: Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern erscheint Cincinnatus als eine opake Person, die sich an den unter seinen Mitmenschen verbreiteten Aktivitäten und Ver­gnü­gun­gen nur ungern beteiligt.

Die erzählte Zeit umfasst etwas mehr als vierzehn Tage, in denen Cincinnatus auf seinen Hinrichtung wartet. Der Roman enthält ein selbst für die Grundkonstellation sehr reduziertes Personal: Ein Wächter, der Gefängnisdirektor, dessen Tochter Emmi, ein Rechts­an­walt, ein vorgeblicher Mitgefangener, der sich aber bald als der Henker herausstellt, eine Spinne sowie Cincinnatus vorgebliche Mutter und seine Ehefrau bilden im Wesentlichen das Personal. Der Text ufert hier und da ins Phantastische aus und lässt die Grenze zwischen einer ohnehin nur pseudorealistischen und einer Traumwelt immer wieder verschwimmen.

Es ist verführerisch einfach, den Roman als eine Kritik an der Ideologie und am Menschenbild der jungen Sowjetunion zu lesen, die, wie wohl alle totalitären Staaten, grundsätzlich ein stärkeres Interesse an gut funktionierenden Bürgern hatte, die sich ohne Rest in die Ansprüche und Bedürfnisse des Staatswesens eingliedern lassen, als an in­di­vi­du­el­len Charakteren. Dass Nabokov einen Einzelgänger und Eigenbrötler imaginiert, der allein aufgrund seines Charakters gleich zum Tode verurteilt wird, ist eine verständliche Zuspitzung dieses staatlichen Anspruches. Es mag auch sein, dass er vergleichbare Züge auch im Deutschland des Jahres 1934 erkannt hat, doch fehlen im Text jegliche Hinweise auf nichtrussische Verhältnisse.

Ein solche Deutung wäre nicht falsch, würde die Reichhaltigkeit des Textes aber klar un­ter­lau­fen. Wie immer interessieren Nabokov weit mehr Formen der Ge­fan­gen­schaft als diese eine: Die Gefangenschaft in Ehe und Familie, im Körper, in der Zeit und die der Sexualität spielen eine zumindest ebenso große Rolle wie die durch Staat und Gesellschaft.

Insgesamt ist der Roman etwas abstrakt geraten und erinnert – auch wenn sich Nabokov im Vorwort der späteren englischen Ausgabe dagegen verwehrt – unweigerlich an Kafkas Welten. Die be­schrie­be­ne Wirklichkeit bleibt eher undeutlich und kann allein von daher sehr vielfältig ausgedeutet werden. Das Ende wiederum, das die ab­schlie­ßen­de Hinrichtung eher auflöst als durchführt, erinnert stark an „Die Mutprobe“, so dass dieser kleine Roman am Ende als eine Variation bereits bekannter Themen Nabokovs erscheint: der gefangene Autor und sein Entkommen ins Reich der Phantastik.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke IV. Reinbek: Rowohlt, 22003. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 267 Seiten. 22,– €.

Vladimir Nabokov: Verzweiflung

O ja, ich war der reine Künstler aus der Romandichtung.

nabokov_werke_03Der letzte der von den Gesammelten Werken so­ge­nann­ten frühen Romanen Nabokovs, 1932 noch in Berlin auf Russisch verfasst, dann vom Autor selbst ins Englische übersetzt und 1965 für eine Neuausgabe noch einmal überarbeitet. Die Fabel bildet ein Kri­mi­nal­ro­man, der nach dem Vorbild eines tatsächlichen Falls von Versicherungsbetrug erfunden ist: Der rus­sisch­stäm­mi­ge Berliner Schokoladenfabrikant Hermann begegnet bei einer Geschäftsreise in Prag zufällig dem Landstreicher Felix, den er für seinen perfekten Doppelgänger hält. Diese – wie sich später erweist – wohl nur von ihm so empfundene Ähnlichkeit bringt ihn auf den Gedanken, er könne den Landstreicher umbringen, dessen Leiche für die seine ausgeben, seine Frau eine Versicherungsprämie kassieren lassen und sie später in Frankreich erneut unter der Identität seines Opfers heiraten.

Der Plan scheitert mustergültig: Nicht nur wird die aufgefundene Leiche nicht für einen Moment für die des Täters gehalten, Hermann ist auch sofort der Hauptverdächtige und hat sich zudem bei der Aus­füh­rung der Tat so dämlich angestellt, dass die Identität des Opfers und damit Hermanns Deck-Identität festgestellt werden und Hermann binnen kurzem in Frankreich festgenommen werden kann.

Diese im Grunde recht banale Handlung wird vom Ich-Erzähler Hermann nicht nur stark literarisch überhöht – der Text ist nicht nur penetrant mit Spiegel-, Traum- und Doppelungsmotiven durchsetzt, sondern weist auch zahlreiche, durchaus witzige poetologische Pas­sa­gen auf, in denen sich der Möchtegernautor Hermann etwa über seine Kollegen Dostojewskij und Turgenjew lustig macht und umfangreiche Überlegungen zum literarischen Schreiben anstellt.

Nabokov selbst macht in seinem Vorwort zur Neuausgabe von 1965 auf die Ver­wandt­schaft Hermanns mit Humbert Humbert aufmerksam: Auch er ist ein Täter, der über seine vergangene Tat schreibt, auch er tut dies aus der nachträglichen Perspektive desjenigen, dessen Tä­ter­schaft entdeckt worden ist, auch er erweist sich als ein unzuverlässiger Erzähler, der den Leser zuerst für sich einnimmt, so dass dem erst peu à peu klar wird, wem er sich eigentlich gegenübersieht. In „Lolita“ ist dies alles allerdings um mehrere Stufen subtiler gemacht; „Ver­zweif­lung“ wirkt für den späteren Leser daher wie ein satirischer Vor­ent­wurf, was es natürlich nicht sein kann, da Nabokov 1932 im besten Falle eine vollständig unbestimmte Ahnung von diesem späteren Meisterstück gehabt haben kann.

Insgesamt ein hübsch gemachter, gut lesbarer Roman, der schon viel vom späteren Meister erahnen lässt.

Vladimir Nabokov: Verzweiflung. Aus dem Englischen von Klaus Birkenhauer. In: Gesammelte Werke III. Frühe Romane 3. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 1997. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 273 (von 813) Seiten. 39,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (73)

Die blassen Organismen literarischer Helden nähren sich unter Aufsicht des Autors vom Herzblut des Lesers und schwellen nach und nach davon an; so daß die Genialität eines Schriftstellers darin bestünde, daß er sie mit der Fähigkeit ausstattet, sich an diese – nicht sehr appetitliche – Speise zu gewöhnen und dabei zu blühen und zu gedeihen, mitunter jahrhundertelang.

Vladimir Nabokov
Verzweiflung

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

Schmidt-Seelandschaft-Handzeichnung

Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)