Ein weiteres Buch in Duerrs üblicher Manier: Von 768 Seiten sind etwa 410 Text, 190 Anmerkungen, die zum großen Teil weitere detaillierte und wichtige Informationen enthalten und 140 Bibliographie. Den Rest bilden Impressum, Inhaltsverzeichnis und Register.
Duerr hat also den Kampf gegen Elias’ Theorie vom Prozess der Zivilisation vorerst eingestellt und sich einem archäologischen Thema zugewandt. Auch dafür hat er und wird er noch Schläge der etablierten Wissenschaft beziehen. Rungholt ist daher aus zwei Gründen interessant:
Zum einen präsentiert das Buch – hauptsächlich im ersten Viertel – ein Possenspiel des akademischen Betriebs, enthaltend die beiden Akte Duerr kommt zur Bremer Universität und Duerr und das Archäologische Landesamt Schleswig-Holsteins. Ein bedeutender Teil der Auseinandersetzung hat Ende der 90-er Jahre in der regionalen und überregionalen Presse stattgefunden, und es ist ein Vergnügen der besonderen Art, Duerrs Version der Vorgänge zu lesen. Duerr erweist sich einmal mehr als Eulenspiegel der akademischen Szene, an dessen Einbindung und Zähmung die festgefahrenen und dogmatischen Institutionen Mal um Mal scheitern. Dabei ist Duerr eigentlich das Muster eines Gelehrten: Unglaublich gebildet, misstrauisch gegen überlieferte Vorurteile und stets bemüht um originelle Zugriffe und neue Interpretationen. Er ist der klassische Konservative, der inzwischen so obsolet geworden ist, dass er gleich wieder die Speerspitze der Avantgarde bildet. Und immer geht es ihm um die Sache, mehr noch, um die Wahrheit. Was kann man sich von einem Professor im eigentlichen Sinne mehr wünschen, wenn man nicht gerade sein Dekan oder Rektor ist.
Zum anderen vertritt das Buch in Bezug auf sein Thema zwei neue Thesen:
1. Rungholt lag nicht dort, wo die Forschung es bisher vermutet hat, sondern wahrscheinlich ein ganzes Stück weiter nördlich.
2. Rungholt wurde nicht erst im Mittelalter besiedelt und nach der Sturmflut von 1362 endgültig aufgegeben, sondern Duerr dokumentiert in der Umgebung Rungholts Siedlungsspuren bereits aus dem Neolithikum. Er behauptet explizit nicht eine ununterbrochene Besiedlung der Gegend, sondern weist nur einen bereits sehr viel früheren vor dem bislang angenommenen Zeitpunkt der Erstbesiedlung nach.
Das letzte Viertel des Buches beschäftigt sich mit der Möglichkeit, dass ein minoisches Schiff bereits im 14. oder 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Gegend um Rungholt erreicht haben könnte, und breitet dann viel gelehrtes und sicherlich für sich genommen interessantes Material über die antike Vorstellung vom Nordens Europas aus. Dies alles hängt nur über den Fund einer einzelnen Scherbe einer mutmaßlich minoischen Gebrauchskeramik im Rungholtwatt mit dem Hauptthema des Buches zusammen. Man wird selbst entscheiden müssen, wie weit man als Leser diesen Weg mitgeht.
Für Duerr-Leser und Rungholt-Interessierte ein Muss, für die anderen ein anspruchsvolles Abenteuerbuch.
Duerr, Hans Peter: Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt
Insel, 2005; ISBN 3-458-17274-2
Gebunden
768 Seiten – 28,00 Eur[D]
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