Es ist ein seltener Fall, dass ein Nachschlagewerk das erste seiner Art ist und dennoch über viele Jahrzehnte hinweg nach Inhalt und Umfang ein unverzichtbares Standardwerk bleibt. Das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« ist eine solche Ausnahmeerscheinung. Es wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts konzipiert und erschien unter erheblichen Schwierigkeiten zwischen 1927 und 1942 in zehn Bänden. Viele seiner Einträge sind inzwischen überholt, aber dennoch ist das Lexikon als ganzes bis heute ein unverzichtbares Hilfsmittel für alle, die sich mit Volksglauben, Sagen, Märchen und anderen Formen der Volksliteratur beschäftigen. Nun ist in der Digitalen Bibliothek eine CD-ROM-Ausgabe des Werks erschienen.
Dabei ist das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« (HDA) nicht nur als Nachschlagewerk geeignet, sondern es ist eine nahezu unerschöpfliche Quelle zum Schmökern: Viele Artikel sind eine Sammlung zahlreicher Überlieferungen, die hier zum ersten Mal auf engstem Raum zusammengefasst sind, sich überschneiden, ergänzen, auch widersprechen. Man bekommt ein Eindruck von der reichhaltigen und lebendigen Überlieferung des Volksglaubens, der sich auf alle Lebensbereiche erstreckt und über viele Jahrtausende auch auf die Hochkultur und besonders die Kunst auf vielfältigste Weise eingewirkt hat. Und man lernt von Gebräuchen, die heute nahezu vergessen sind:
Teller (und Tellerwurf). Die alteuropäische, im Kaukasus und wohl auch anderwärts noch bestehende Speisesitte, Fladenbrote als T. für eine Auflage von Fleisch zu benützen, hat vielfach die T.form von Gebildbroten auf Weihnachten und Ostern bestimmt, wie dies Gebäckmodel aus dem 15. und 16. Jh. und neuere Gebäcke in Form von Korb-T.n wie etwa im Lüneburgischen, dartun.
Nach der Bibel hatten die Juden den Brauch nebst einem Widderpaar tellerförmige Brote ins Opferfeuer zu werfen. Vorläufig fehlen Belege dafür, daß eine solche Übung im Mittelmeerkreis etwa zum Aberglauben des T.wurfes geführt hätte, um eine Feuersbrunst zu löschen. Sicher war keine Speisung sondern ein Bannen und Binden des Elementes zu seiner Besänftigung beabsichtigt, wenn es 1601 in den Aufzeichnungen des Pfarrers Noll zu Rüdesheim heißt: »Gegen Blitzfeuer (sic!) Schreibe folgendes (Satorformel) (s.d.) auf einen T. und wirf ihn in das Feuer, dann wird es verlöschen«. Vorschrift und Anwendung sind in späteren Tagen in Süd- und Mitteldeutschland vielfach in Geltung geblieben. Man wirft in der Tat aber auch wohl mit Opferabsicht Speck-T. oder einen T. aus Zinn – dem »Silber der Armen« – ins Feuer.
Mag ein solcher Eintrag eher obskur erscheinen, so liefern die umfangreichen Einträge etwa über den Glauben an eine »Endschlacht«, der sich in zahlreichen Kulturen wiederfindet, oder auch der gleich nachfolgende über »Engel« ein unvergleichlich reiches Bild von den Weltkonzepten früherer Zeiten, die heute in unserer mehr und mehr dem Glauben an die Vernunft anhängenden offiziellen Kultur drohen, komplett vergessen und durch gänzlich andere Glaubenskonzepte ersetzt zu werden. Mit dem Vergessen geht aber auch einher, dass uns Nachgebornenen eine wesentliche Grundlage zum Verständnis der Kultur, Kunst und Literatur früherer Epochen verloren zu gehen droht.
Ich will nicht verschweigen, dass das HDA auch seine Schwächen hat: Es ist besonders in den späten Bänden lückenhaft geblieben. Bei wichtigen Stichwörter wie z. B. »Teufel« oder »Zahl« wird zwar auf den Nachtrag verwiesen, die entsprechenden Artikel sind aber nie geschrieben oder gedruckt worden. Auch bemängeln moderne Kritiker, dass der dem HDA zugrunde gelegte Begriff des Aberglaubens zu eng war und bestimmte Geheimkünste und magische Wissenschaften ausschloss. Diese Kritik ist berechtigt, ändert aber garnichts an der Fülle des gelieferten Materials und ebensowenig daran, dass das HDA bis heute keinen gleichwertigen oder gar überlegenen Nachfolger gefunden hat. Wer sich mit dem Phänomen des Volksglaubens beschäftigen will, kommt auch heute noch am HDA nicht vorbei!
Das HDA ist 1986 erstmals wieder nachgedruckt worden und erfreut sich seitdem ungebrochener Beliebtheit bei Laien und Fachleuten. Die gedruckte Fassung in 10 kartonierten Bänden kostet derzeit 148,– €; die CD-ROM der Digitalen Bibliothek wird bis zum 31.12.2006 für 75,– € (danach 90,– €) angeboten und hat den für ein Nachschlagewerk unersetzlichen Vorteil einer Volltextsuche. Außerdem lassen sich durch das Register der digitalen Ausgabe auch die Einträge des Nachtragbandes nahtlos in die Stichwortliste einfügen. Kopier-, Markierungs- und Notizfunktionen gehören zum Standard der Software der Digitalen Bibliothek und genügen allen praktischen Ansprüchen. Alle Einträge der CD-ROM sind mit einer wortgenauen Konkordanz zur gedruckten Ausgabe versehen, so dass Zitate aus der digitalen Ausgabe auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Der CD-ROM liegt eine gedruckte Einführung in die Benutzung der Software bei. Inzwischen bietet die Digitale Bibliothek auch Software für MAC- und Linux-User an, die von der Homepage des Verlages heruntergeladen werden können.
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Digitale Bibliothek Bd. 145. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) – MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis bis 31.12.2006: 75,– €, danach 90,– €.