Angesichts des bevorstehenden 80. Geburtstags von Harry Mulisch habe ich mich entschlossen, endlich einen seiner Romane zu lesen: »Die Entdeckung des Himmels« hat es immerhin auf Platz 25 der ZDF-Liste der Lieblingsbücher der Deutschen geschafft, noch vor »Die Entdeckung der Langsamkeit« und »Die unerträgliche Seichtigkeit des Leims«. Aber wer weiß schon, ob das ein ausreichendes Qualitätskriterium ist.
»Die Entdeckung des Himmels« spielt auf zwei Ebenen: Zum einen im jüdisch-christlichen und eventuell auch moslemischen Himmel, wo sich zwei offenbar geistige Potenzen über ein geheimnisvolles Projekt unterhalten, »das Retournieren des Testimoniums« [S. 416]. Der überwiegende Teil des Textes handelt aber in ganz irdischen Verhältnissen: Erzählt wird die Geschichte von drei bzw. vier Personen: Onno Quist, Sohn eines ehemaligen Ministerpräsidenten der Niederlande und während der meisten Zeit Berufspolitiker, Max Delius, Sohn eines ehemaligen Kriegsverbrechers und einer Jüdin, von Beruf Astronom, sowie Ada Brons, Tochter eines Antiquars und Cello-Spielerin. Hinzukommt ihr mutmaßlich durch direktes himmliches Eingreifen zu dritt gezeugter Sohn Quinten (wegen des ⅔-Frequenzverhältnisses der Quinte so benannt), der sich als Erfüller eines himmlischen Auftrags erweisen wird.
Bevor es aber auf den letzten etwa 200 von gut 800 Seiten dazu kommt, müssen erst einmal die Eltern aufeinandergehetzt werden, unter Verwirrungen nach Kuba reisen, um dort das Kind zu zeugen, in einem Unwetter einen Unfall erleiden, bei dem Ada von der mutmaßlichen Mutter zu einer komatösen Gebärerin reduziert wird, Onno Politiker und anschließend Einsiedler, Max von einem Meteoriten erschlagen werden und Quinten umständlichst aufwachsen und sich schließlich auf die Suche nach seinem untergetauchten Vater machen, den er dann auch zufällig in Rom trifft.
Danach dreht der Roman vollständig durch: Quinten identifiziert in Rom die Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateran aufgrund wüster Spekulationen als Lagerort der echten mosaischen Steintafeln mit den zehn Geboten. Quinten und Onno finden und rauben diese Tafeln in einer nächtlichen Aktion und bringen sie nach Jerusalem, wo sich Quinten in einem von innen verschlossenen Zimmer und die Tafel in einem verschlossenen Safe in Nichts auflösen – natürlich kehren sie in die himmlischen Gefilde zurück, von wo aus das Ganze mit englischer List inszeniert wurde.
Sehen wir von dem hanebüchenen Ende des Romans einmal ab und befreien wir ihn damit zugleich von dem himmlischen Drahtzieher, so ist das Buch in Teilen ein ganz angängiger und interessanter Roman. Der Autor hat zwar eine schwere Neigung zum Geschwätz und dazu, seine Klippschulbildung seinen Figuren als raunendes Geheimnis in den Mund zu legen, aber abgesehen davon ist der Text recht ordentlich geraten. Wenn er auf 400 Seiten zusammengekürzt worden und dem Autor ein vernüftiges Ende eingefallen wäre, hätte das ein wirklich gutes Buch sein können. Aber so müssen wir damit leben, dass uns ständig Nachhilfe erteilt wird, dass Quinten – und eben leider auch zugleich dem Leser – die Struktur des Katholizismus erklärt wird: »Die Päpste betrachten sich als Nachfolger Petri.« [S. 700] Achwas? – Wir bekommen Unterricht in amerikanischer Literaturgeschichte:
»Warum hast du ihn [den Raben] Edgar genannt?«
»Nach Edgar Allan Poe natürlich. Der hat ein berühmtes Gedichte über einen Raben geschrieben. The Raven.« [S. 696]
What you not say! – Und auch die Musikgeschichte kommt zu ihrem Recht:
Max war noch geblieben. Seine Kenntnisse über Beethovens Große Fuge in B-Dur, Opus 133, von einem bulgarischen Quartett aufgeführt, hatten auf eine kubanische Medizinstudentin großen Eindruck gemacht, eine große Frau mit langen, schlanken Fingern, die sie hoch auf seinen Oberschenkel legte, als er ihr erzählte, daß das Stück aus dem Schlußteil von Opus 130 entstanden sei. [S. 195 f.]
Mit solch intimen Kenntnissen der Streichquartett-Literatur ist natürlich das Verführen großer Frauen – gemeint sind »lange«, nicht »große« – eine Kleinigkeit. Tja, man müsste Klavierspielen können! Von der dreimaligen Wiederholung des Wortes »groß« in diesem einen Absatz wollen wir dabei einmal gnädig absehen, denn wir kennen das Original nicht.
Ich will nicht den Eindruck erwecken, das Buch sei durchweg so provinziell, aber es ist es eben über weite Strecken. Einigen Passagen liegt eine sorgfältige und umfassende Recherche des Autors zugrunde, aber eine viel zu große Menge des Textes erschöpft sich in hohlem Geschwätz besonders der beiden Hauptfiguren Max und Onno. Dem stehen auf der anderen Seite eine durchaus einfühlende und originelle Beschreibung etwa der späten 60er-Jahre oder die beinahe durchweg interessanten Nebenfiguren wie etwa Theo Kern oder Verloren van Themaat gegenüber. Wenn nur der Autor nicht so geschwätzig wäre … Aber das erwähnte ich wohl schon?
Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt. Rowohlt Taschenbuch 13476. 871 Seiten. 9,90 €.
P. S.: Nur um keine Unklarheit aufkommen zu lassen: Spekulationen über die Moral des Romans, also die Bedeutung der Tatsache, dass der Himmel den mosaischen Dekalog wieder zurücknimmt, sind hier absichtlich unterblieben. Dem mögen sich Berufenere widmen!
aber der MeteoritenEinschlag auf dem Klöhäusel ist große Klasse!
Daß sich die Moses-Tafeln dann auflösen, fand ich nur richtig, es reicht doch, daß Bruno Schulz‘ Fresken nach Jerusalem entführt wurden!
siehe: http://www.avantart.com/diesunddas/nucleus/buch.php?catid=41&blogid=6
Damit nachher keiner enttäuscht ist: Der Meteoriteneinschlag trifft kein Klohäusel, sondern Max wird im Garten auf einem Findling sitzend getroffen. Zuvor sitzt er weintrinkend im Gartenschuppen, weil er allein sein möchte. Von einem Klohäusel keine Rede.
Dass sich die Dekalog-Tafeln zusammen mit Quinten auflösen, zeigt einfach nur, dass dem Autor nix Vernünftiges eingefallen ist, was er mit den verdammten Dingern anfangen soll, nachdem er sie erst unter großer Mühe in die Welt hinein- und aus dem Lateran herauserfunden hat. Das steht auch wortwörtlich so im Roman, wenn Onno ständig fragt, wie es nun weitergehen soll und Quinten immer wieder antwortet, das ergebe sich schon. Und weil sich der Autor mit seiner Erfindung in eine gänzlich ausweglose Situation manövriert hat, muss er in die metaphysische Trickkiste greifen – also das Ende inklusive der »himmlischen« Rahmung ist erzählerisch ein ziemliches Armutszeugnis.
ach, ich hätte gewettet, der hätte aufm Häusel gesessen..
aber deswegen les ich das auch nicht noch mal…
nicht mal diesen Knalleffekt habe ich mir korrekt merken können ;=(
Schön, wenn einmal jemand mir so kurz, knapp und präzise aus der Seele spricht! Es muß übrigens „3 K“ und nicht „3°K“ heißen, aber ich weiß auch nicht, wie es im Original aussieht.
Äh, bitte wo genau müsste es »3 K« heißen?
in der ausgabe von 1993 auf seite 198 unteres drittel
Seit 1967 ist K die SI-Einheit, vorher gab es das Grad Kelvin.