Ich gehe nicht mehr oft ins Theater. So mehr als zwei oder drei Mal im Jahr sind es nicht. Zumeist gehe ich in Stücke, die ich gut kenne, von Autoren, die ich gut kenne. Deshalb gehe ich wahrscheinlich so selten ins Theater.
Heute war ich in »Torquato Tasso« in Recklinghausen; ich mag nicht sagen, in Goethes »Torquato Tasso«, denn dass die Schaupieler Text von Goethe sprachen, erschien mehr als Zufall. Eine ¾ Stunde bin ich geblieben, dann war es genug – ich wusste ja, wie das Stück ausgeht.
Goethe hat zwischen 1780 und 1789 langsam und gründlich einen ruhigen und diffizilen Text geschrieben, ihn sorgfältig immer wieder erwogen, sich am Ende große Mühe gemacht mit drei noch zu schreibenden Szenen, die nicht und nicht geraten wollten. Das Stück hat ihm am Herzen gelegen. Er selbst hat nicht geglaubt, dass es für die Bühne sei – und er verstand etwas von der Bühne, wenigstens der seiner Zeit, denn er war lange Zeit Intendant. Als ihn die Weimarer Schauspieler schließlich damit überrumpelten, dass sie die Rollen einfach schon gelernt hatten, hat er doch noch eingewilligt, aber eine Streichfassung erstellt, die dann schließlich gespielt werden durfte. Dass es gut sei, das Stück zu spielen, hat er dennoch nicht geglaubt. Und dabei kannte er nicht ’mal das moderne Regietheater.
Da sind zum Beispiel Torquato und Antonio: Bei Goethe sind sie zwei Planeten, die um die Sonne Herzog Alfons II. d’Este kreisen. Sie bewegen sich auf derselben Umlaufbahn in derselben Geschwindigkeit – nur eben auf entgegengesetzten Seiten, und so ist es am Ende auch gar kein Wunder, dass es gerade Antonio ist, der von Torquato nicht lassen will. Torquato, immer angespannt, jeder eigenen und fremden Emotion nachlauschend, spontan und zum Überschwang neigend, ist ein Klischee der Goethezeit: ein Genie. Antonio ist ganz der klassische Hofmann – ein weiteres Klischee, das für die meisten Leser der Goethezeit ausreichte, um ihn zur negativen Gegenfigur zu machen –, immer kontrolliert und misstrauisch, immer rational abwägend und vorsichtig bis zum Zynismus, den Menschen dort eher abgeneigt, wo Torquato sich ihnen zuneigt.
Auch in der Inszenierung von Frank Hoffmann ist der Figur Antonios ein Klischee eingeschrieben. Natürlich nicht mehr das Klischee des Hofmanns – denn wer unter den heutigen Zuschauern hätte noch das Buch von Baldassare Castiglione gelesen –, sondern das der Niete im Nadelstreifen. Auch damit gerät er in einen perfekten Gegensatz zu dem wilden Affen, der aus Torquato gemacht worden ist. Und so stehen die beiden einander testosteronschwanger gegenüber und schreien einander und dann zur Abwechslung auch einmal den Herzog an, dumme Männer, nichts weiter. Hier und da setzt sich in all der Aufgeregtheit doch einmal ein einzelner Satz Goethes durch und man erstaunt für einen Moment über den Glanz, der erscheint – aber gleich muss wieder um den Teich gerannt, ein Brett umgeworfen, geschrieen und gequiekt werden.
Natürlich macht Frank Hoffmann nichts anderes als das, was Goethe auch getan hat: Er eignet sich eine Kunstfigur an und transponiert sie in die eigene Zeit – witzigerweise stimmen sogar die übersprungenen Zeitspannen ungefähr überein. Nur eines versäumt Hoffmann: Sich zehn Jahre Zeit zu nehmen, um einen eigenen »Tasso« zu schreiben. Stattdessen nimmt er den Text Goethes und legt die eigene Zeit und Kultur darüber. Dass er dabei ein filigranes sprachliches Gebilde von einem Panzer überrollen lässt, scheint er billigend in Kauf zu nehmen – schließlich muss auch er leben, und er hat keinen Herzog Karl August, der ihm wie nebenbei das eine oder andere Haus schenkt oder ihn zwei Jahre auf Urlaub nach Italien fahren lässt.
Das Schlimmste an all dem ist – so fürchte ich –, dass die Inszenierung Recht und ich mit meinem Kopfschütteln Unrecht behalte. Das Stück war schon damals nichts fürs Theater; heute ist es da schon ganz egal, was am Ende auf die Bühne kommt. Hauptsache, es ist was los im Haus. Auf die paar intellektuellen Spinner, die die Unterschiede bemerken, kommt es nun wirklich nicht an. Scheiß auf Goethe: Das Volk will sich amüsieren, die Schauspieler was zum Fressen haben! Und das auf hohem Niveau! Also Theaterzettel raus und los: Goethe »Torquato Tasso«; Regie: Frank Hoffmann …
Der Gestus des Aufbegehrens gegen die bildungsbürgerlichen Ikonen stammt aus den 70er Jahren und wirkt heute alt, verbraucht und lächerlich. Leider merkt es kaum jemand – denn auch die selbstverständliche Kenntnis der Klassiker ist seither verloren gegangen, so dass es wirklich nur ein paar „intellektuelle Spinner“ sind, die heute eine ernsthafte Auseinandersetzung mit klassischer Literatur vermissen. Die Macht der Alltagsmenschen ist einfach zu groß geworden.
Alternativvorschlag: Vor einiger Zeit habe ich mich mit ein paar anderen Spinnern in mein Wohnzimmer zuückgezogen und eine Spontaninszenierung von Kabale und Liebe versucht. Ganz ernst zu nehmen war das auch nicht, aber es bringt mehr als mancher Theaterbesuch.