Um endlich meine eigene Meinung über die Berge auszusprechen, gibt es, so wie keine schöne Landschaft ohne einen Berghorizont, so auch keinen angenehmen Wohnort, noch eine, Auge und Herz befriedigende, Landschaft, wo es an Luft und Raum mangelt. Dieß aber ist stets der Fall im Inneren der Gebirge. Diese schwerfälligen Massen sind nicht in wohlthätiger Uebereinstimmung mit den Kräften des Menschen und seinen schwachen Sinnwerkzeugen. Man will den Gebirglandschaften Erhabenheit zuschreiben. Ohne Zweifel entsteht diese aus der Größe der Gegenstände. Wie steht es aber mit der Erhabenheit, wenn dargethan würde, daß diese Größe, die allerdings da ist, doch von dem Auge nicht empfunden wird?
Es ist mit den Denkmahlen der Natur gerade wie mit den Kunstdenkmahlen, um ihre Schönheit zu genießen, muß man sie aus dem wahren Standpunkte betrachten, sonst verschwinden Gestalt, Farbe, Verhältnisse. Da man aber im Innern der Gebirge unmittelbar vor dem Gegenstande sich befindet, und der Standpunkt des Beschauers zu nahe ist, so verlieren die Verhältnisse der Gegenstände nothwendig ihre Größe, und dieß ist so wahr, daß man sich über die Höhen und Entfernungen immer täuscht. Ich berufe mich auf die Reisenden. Schien ihnen der Montblanc sehr hoch aus der Tiefe des Chamouni-Thals? Ein unermeßlicher Alpensee erscheint oft wie ein kleiner Teich. Man glaubt nach wenigen Schritten die Höhe eines Abhanges zu erreichen, und braucht drei Stunden, sie zu ersteigen. Oft ist mehr als eine Tagreise nöthig, um aus einer Schlucht zu kommen, deren Ende wir nahe vor uns zu sehen glaubten. Jene Größe der Gebirge, wovon man so viel spricht, wird uns daher nur durch die Ermüdung fühlbar, welche sie uns verursacht. Die Landschaft selbst ist für das Auge nicht größer, als eine gewöhnliche.
François-René de Chateaubriand
Reise auf den Montblanc
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