Eine weitere Lektüre, die nach beinahe 30 Jahren wiederholt wurde. Die äußerliche Geschichte Meursaults dürfte so bekannt sein, dass ich sie hier nicht noch einmal nacherzählen brauche. Mir sind diesmal besonders zwei Dinge aufgefallen: Die Positionen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung während des Prozesses und die allgemeine Belanglosigkeit, mit der der ermordete Araber behandelt wird. Weder treten im Prozess Zeugen von Seiten des Ermordeten auf, noch verschwendet Meursault, der in seiner Zelle mit großer Sorgfalt und Geduld immer wieder die Ausstattung seiner Wohnung in Gedanken rekapituliert, viel Zeit mit Grübeln über seine Tat, geschweige denn über sein Opfer. Von da aus ergibt sich mir die Frage, welche der Figuren dieses Buch überhaupt Menschen repräsentieren.
Wenn der Fall Meursault mehr sein soll als eine Obskurität, wenn er denn tatsächlich etwas besagen soll, was über die Behauptung zufälliger Ereignisse hinaus geht – und so wird das Buch doch gemeinhin gelesen –, so habe ich den Verdacht, dass es sich am Ende um Banalitäten handelt. Die Justiz sucht weder dem Angeklagten noch dem Fall gerecht zu werden, sondern bestätigt im Akt der Verurteilung die öffentliche Moral. Deshalb stempelt sie Meursault zum »moralischen Ungeheuer«. Selbst die Verteidigung spielt nur eine Rolle in diesem Spiel, um den Anschein der Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten.
Andererseits kann Camus nichts weniger gebrauchen als Gerechtigkeit für seinen Protagonisten: Ein wegen Totschlags zu Zuchthaus verurteilter Meursault ist gänzlich unnütz für die existentialistische Zuspitzung des Textes. Nur der zum Tode Verurteilte kann sich heroisch vom transzendenten Trost des Anstaltgeistlichen abwenden, nur er kann seine Erfüllung im Hass der Menge gegen ihn finden, nur er kann die Gewissheit des Todes als Befreiung empfinden usw. usf.
Meursault bleibt bis zum Ende des Buchs ein Einzelner, kein »Mensch mit Menschen«. Selbst die Freundschaft Célestes oder die Liebe Maries berühren ihn nur für einen Moment, bevor er wieder in seine Egozentrik versinkt. Meursault ist letztlich nicht viel mehr als ein Soziopath, der nach der Intention des Autors als Exemplum des Menschen schlechthin dienen soll. Tut er aber nicht.
Albert Camus: Der Fremde. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22189. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 612008. 159 Seiten. 6,95 €.
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