Kein Jahr vergeht, in welchem die Meßcataloge nicht hundert neue lyrische Werke, eben so viel oder noch mehr Romane und wenigstens halb so viel Schauspiele verzeichnen. Die Zahl unserer lebenden Dichter ist eine Myriade, und nicht einmal zu viel für die mehr als tausend jetzt in Deutschland bestehenden Buchhandlungen. Die Poesie, ehemals monarchisch, priesterlich oder wenigstens aristokratisch, ist demokratisirt worden, und nicht nur glaubt sich jeder, sobald es ihm nur einfällt, berechtigt zu schreiben und drucken zu lassen, sondern eine zahlreiche Classe von Proletariern der Presse wird von den Verlegern zur poetischen Fabrikarbeit förmlich gedungen. Ein Kriterium des guten Geschmacks gibt es nicht mehr. Reiche Verleger und Lobassecuranz- gesellschaften unter den Literaten selbst, oder das politische und kirchliche Parteiinteresse diktiren das öffentliche Urtheil. Nie zuvor ist daher so viel Schlechtes angepriesen und verbreitet, so viel Gutes verachtet und unterdrückt worden.
Wolfgang Menzel
Deutsche Dichtung (1859)