Das Thema Max Frisch lässt mich doch noch nicht ganz los: Ursula Priess, Tochter aus Frischs erster Ehe, hat ein Erinnerungsbuch über ihren Vater geschrieben, das den nicht unfrischschen Untertitel »Eine Bestandsaufnahme« trägt. Es handelt sich nicht um den Versuch einer auch nur einigermaßen geschlossenen Darstellung, sondern um eine Aneinanderreihung von kürzeren Notizen, Reflexionen, Situationen, Erlebnissen etc., wobei keine chronologische, sondern höchstens eine leichte thematische Ordnung zu erkennen ist.
Das Buch in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil findet sich als eine Art von Rahmenerzählung der Bericht der Autorin über eine Begegnung mit einem offenbar deutlich älteren Mann in Venedig. Sie ist diesem Mann zuvor nur ein einziges Mal begegnet, hat anschließend aber über längere Zeit Telefonate mit ihm geführt. Nun trifft man sich zu einem Rendezvous in Venedig, bei dem sich herausstellt, dass der Mann ein intimer Freund Ingeborg Bachmanns gewesen sein muss, wohl auch zu eben der Zeit, als Bachmann und Frisch versuchten, ein Paar zu sein. Der zweite Teil dreht sich dann in der Hauptsache um die letzten Monate im Leben Frischs.
Ursula Priess erzählt von einem schwierigen und belasteten Verhältnis zu ihrem Vater, das allerdings immer wieder durch Momente des Verständnisses, des Verzeihens und der unverstellten Zuneigung zwischen Vater und Tochter konterkariert wird. Priess hat, wenn ich es richtig verstanden habe, lange Zeit darunter gelitten, als Tochter des berühmten Vaters wahrgenommen zu werden und weniger als sie selbst. Auch die Trennung des Vaters von ihrer Mutter und seinen Entschluss, als Schriftsteller zu leben, scheint sie ihm zu Lebzeiten nie recht verziehen zu haben. Noch der letzte Streit zwischen Tochter und Vater, als Frisch schon todkrank ist und seine eigene Todesanzeige entwirft – öffentliche Selbstinszenierung bis über den Tod hinaus! –, dreht sich um Priess’ Mutter und Frischs Dasein als öffentliche Person.
Man muss dem Buch zugutehalten, dass es eine aufrichtige und gut lesbare Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrem sicherlich nicht einfachen Vater ist. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass Priess auf jeder Seite darum bemüht ist, nichts zu beschönigen, ihr eigenes Versagen ihrem Vater gegenüber genauso darzustellen wie seine Härte, Unnachgiebigkeit und Schwierigkeit. Diese Aufrichtigkeit ist es, die das Buch auszeichnet und über die biografischen Details zu Frisch hinaus interessant macht. Ein wirklich gutes Buch ist es aber wohl dennoch nicht geworden. Dazu fehlt es ihm an Struktur und letztlich auch an dem Willen oder dem Vermögen, das Verhältnis zwischen Vater und Tochter wirklich auf den Begriff zu bringen oder wenigstens ein klares Bild von ihm zu zeichnen. So werden die letzten Seiten etwa mit einigen Traumberichten gefüllt, von denen mir vollständig unklar ist, was sie zum verhandelten Thema beitragen; die Tochter träumt vom Vater dies und das – nun gut, und was besagt das? Das ist der Autorin wohl ebenso unklar, wie es mir geblieben ist.
Für Frisch-Kenner ist das Buch eine Pflichtlektüre; dass es darüber hinaus von Interesse ist, würde ich eher bezweifeln.
Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel. Zürich: Amman, 2009. Pappband, 171 Seiten. 18,95 €.
Wolfgang Hilbig, Max Frisch, Walter Jens, …
Ich wundere mich (und wundere mich unter dem Gesichtspunkt einer Gewinnerwartung bei den Verlagen auch wieder nicht), dass nahe Angehörige so häufig Verleger finden, die ihnen allzu private Themen abnehmen. Natürlich sind prominente Autoren nicht unantastbar. Natürlich dürfen über sie Biografien geschrieben werden. Vielleicht dürfen dabei auch private Dinge eine Rolle spielen. Aber ich finde, dass mich bestimmte Konflikte und Begebenheiten, die das Innerste zwischen Familienmitgliedern berühren, nichts angehen.
Über die Demenzerkrankung von Walter Jens, das Sexualleben von Wolfgang Hilbig oder das problematische Verhältnis zwischen Max Frisch und seiner Tochter muss (und will) ich eigentlich gar nicht so viel wissen, als dass ich zu einem Buch greifen würde, das sich fast ausschließlich damit befasst.
Warum hat sie nicht einfach nur eine Biografie ihres Vaters geschrieben?
In der allgemeinen Tendenz würde ich da zustimmen, aber der Fall Max Frisch scheint mir doch ein wenig anders zu liegen. Frisch selbst hat sich und sein Leben/Erleben immer als einen exemplarischen Fall behandelt und sich selbst als eine öffentliche Person inszeniert. Er hat dabei auch recht unverstellt über seine Tochter geschrieben, so dass ich ihr durchaus das Recht zugestehen würde, sich öffentlich mit ihrer Sicht der Dinge auseinanderzusetzen. Und gerade in dieser Hinsicht ist das Buch auch durchaus gelungen. Wahrscheinlich wäre sie an dem Projekt einer Biografie gescheitert, weil ein objektivierender Zugriff auf Frischs Person gar nicht ihr Interesse ist.
Ansonsten gilt für Vater und Tochter der schöne Satz Robert Neumanns, Frischs Bücher stellten