Bei Titus Andronicus handelt es sich um eines der unbekannteren Stücke Shakespeares, das allerdings in den letzten Jahren ein etwas merkwürdiges Interesse gefunden hat. Auch die hier vorgestellte Verfilmung ist ein Produkt dieser dramatischen Modewelle. Beim Stück handelt es sich um eine Horror-Tragödie im elisabethanischen Geschmack; es ist wahrscheinlich die erste Tragödie Shakespeares überhaupt, wie die Forschung heute überwiegend meint. Für die frühe Einordnung spricht nicht nur die krude, eher unwahrscheinliche und nicht widerspruchsfreie Fabel des Stücks, sondern auch die etwas grobe Figurenzeichnung und der übertriebene Einsatz schauerlichster Szenen.
Die Fabel spielt im Rom einer fiktiven Kaiserzeit: Der gerade von einem siegreichen Feldzug gegen die Goten nach Rom zurückgekehrte Titus Andronicus erweist sich als treuer und aufrechter Staatsbürger, als er die ihm angetragene Kaiserkrone ausschlägt und sich für einen der beiden Söhne des verstorbenen Kaisers, Saturninus, stark macht. Der, kaum zum Kaiser gewählt, ehrt den alten General mit der Idee, dessen Tochter Lavinia zur Kaiserin zu machen. Der Geehrte muss allerdings erfahren, dass seine Tochter bereits mit dem Bruder des Kaisers, Bassianus, verlobt ist. Bassianus entführt Laviania, woraufhin Saturninus die als Gefangene nach Rom geführte Königin der Goten Tamora zur Kaiserin macht. Titus aber hat sich Tamora zum Feind gemacht, als er ihren ältesten Sohn als Sühneopfer für seine im Krieg gefallenen Söhne geopfert hat.
Aus dieser Konstellation entwickelt Shakespeare ein äußerst grausames Kammerspiel der Rache mit fürchterlichsten Toden, einer Vergewaltigung, Hinrichtungen, einer Selbstverstümmelung, Kannibalismus und schließlich der Ermordung Lavinias, Titus und des Kaiserpaares. Der Film tut ein Übriges, indem er dem Verbrechen auch eine ordentliche Portion Sex hinzufügt.
Dem Film kann man nicht vorwerfen, die Vorlage mit Blick auf das moderne Publikum zu übertreiben; man hält sich im Gegenteil, was die Grausamkeiten angeht, recht eng an die Vorlage. Die ist so deftig, dass man sich einerseits fragen kann, wie derartiges zu Shakespeares Zeit auf der Bühne realisiert wurde, sich auf der anderen Seite doch sehr bemühen muss, die Frage zu vermeiden, warum man sich solch eine Orgie des schlechten Geschmacks eigentlich anschauen soll. Die Verfilmung wird sicherlich gerettet durch die hervorragenden Leistungen der Schaupieler (Anthony Hopkins als Titus, Jessica Lange als Tamora, aber auch Colm Feore als Marcus Andronicus und Harry Lennix als Haupt-Bösewicht Aaron), und Shakespeare-Kenner finden natürlich auch hier schon Elemente, die sich erst in späteren Tragödien Shakespeares entfalten werden, aber den Film als solchen kann man kaum empfehlen.
Titus. Regie: Julie Taymor. ems, 2003. 1 DVD. Laufzeit ca. 162 Minuten. Sprache: Englisch, Deutsch. FSK: ab 16 Jahren. Ca. 7,– €.
Ich erlaube mir, heftigst zu dissentieren. Diese Rezension wird weder dem Stück noch dem Film gerecht, einem frühen Meisterwerk Julie Taymors. Wenn ich das da oben lese, finde ich kein Wort über die Ästhetik, die visuelle und inszenatorische Wucht des Films. Nach kurzer Inhaltsangabe drei oberflächliche Zeilen auf Meinungsmacherniveau, die weder das grausame Stück aufschließen (das letztlich nur das grauseme Leben in zugespitzter Abstraktion auf die Bühne bringt) noch den Film, der einen Schritt weiter geht und das Stück in einer hoch-artifiziellen, stilisierten Welt ansiedelt, in der Epochen bruchlos überblendet werden und ineinanender übergehen – in der das Dritte Reich ebenso päsent ist wie das elisabethanische England oder das Römische Imperium. Mit dem „realer“ inszenierten Shakespeare eines Kenneth Branagh hat das freilich wenig zu tun. Stück und Film zeigen die Theatralik der Macht, die Inszenierung das Grauens als „Entertainment“, die Manipulation der Massen mit Hilfe von Propagandamedien, ziehen die Horrorbilanz des Scheiters aller humanen Werte und Konzepte vor der ausweglosen Schwärze der Welt. „Titus,“ sagte Julie Taymor in einem Interview, „is about how we make entertainment out of violence.“ Nur in der Fiktion, im Kunstwerk werden, nach Oscar Wildes Wort, die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Titus gewährt diesen Trost nicht, sondern lenkt den Blick in schwärzeste Nacht. Titus der Film, selbst „Entertainment“ wider Willen, zeigt, analysiert, übersteigert, abstrahiert und unterläuft in seiner unnachgiebigen Folgerichtigkeit zugleich das Konzept „Unterhaltung“, verweigert dem Zuschauer die bequeme ästhetische Verarbeitung der Welt im Kino zwischen Bier und Popcorn. Der Film erschüttert und verändert jeden, der von ihm erreichbar ist. Titus: „If there were reason for these miseries, Then into limits could I bind my woes.“