Nach der großen Anstrengung des Doktor Faustus (1947) schrieb Thomas Mann noch zwei in Ton und Inhalt humoristische und leichte Romane: Der Erwählte (1951) und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954). Letzteres blieb insoweit Fragment, als der veröffentlichte Text nur den ersten Teil der Pseudoautobiografie Krulls darstellt und eher unvermittelt abbricht. Dennoch handelt es sich bei den Bekenntnissen um den deutlich prominenteren Text, was sicherlich auch der sehr rasch erfolgten Verfilmung mit Horst Buchholz in der Hauptrolle geschuldet ist.
Der Erwählte ist eine parodistische Neuerzählung des Gregorius des Hartmann von Aue. Es ist die Geschichte eines aus einem Geschwisterinzest hervorgegangenen Knaben, der als Kleinkind ausgesetzt, auf einer der Kanalinseln aufwächst und dort zum Geistlichen erzogen wird. Trotz dieser Ausbildung drängt es ihn, Ritter zu werden, was er auch durchsetzt, als er nach einem handgreiflichen Vorfall mit einem seiner Ziehbrüder von seiner unseligen Herkunft erfährt und die Insel verlässt. Er kehrt unwissentlich in seine Heimat zurück, befreit die Stadt, in der seine Mutter residiert, von einer Belagerung und heiratet im Anschluss seine Mutter, mit der er zwei Töchter zeugt. Als zufällig die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse zutage kommen, verpflichtet Gregor seine Mutter zur Aufgabe der Regierung und zu wohltätigem Dienst, während er selbst sich im Sünderhemd zu einem Exil auf einer winzigen Felseninsel verbannt, auf der er auf wundersame Weise von der Erde selbst genährt wird. Befreit wird er nach 17 Jahren von zwei römischen Gesandten, die sich nach göttlicher Vision auf die Suche nach ihm gemacht hatten, um ihn als Papst nach Rom zu führen.
Der märchenhafte Grundton dieser Erzählung ist bereits in der Vorlage zu finden und wird von Thomas Mann in ausschmückendem Stil und epischer Breite übernommen. Da schon Hartmann nicht die Absicht verfolgt, die Biografie eines konkreten Papstes zu schreiben, kann sich Thomas Manns Text gänzlich im Reich der Ironie bewegen. Kein Satz, keine Szene ist der Ernsthaftigkeit verpflichtet, alles bewegt sich im Spielerischen. Das Faszinierendste dürfte sein, dass der Text sogar dann parodistisch wirkt, wenn der Leser die Vorlage nicht kennt. Von allen Romanen Thomas Manns ist Der Erwählte vielleicht sein freiester und gelöstester überhaupt.
Bekenntnisse des Hochstapler Felix Krull ist im Gegensatz dazu keine Parodie eines konkretes Textes, sondern gleich eines ganzes Genres: des deutschen Entwicklungsromans. Auch hier hat die Parodie in der Hauptsache humoristische und keine literaturkritische Absicht. Erzähler ist der alte Felix Krull, der die Geschichte seines Lebens aufschreibt: Sohn eines Sektproduzenten aus dem Rheingau, der sich den Folgen eines Bankrotts durch Selbstmord entzieht, sieht er sich gezwungen, eine Stellung als Liftboy in Paris anzutreten. Er ist von auffallender Schönheit, und seine Neigung zu gehobener Sprache und Umgangsformen zeichnen ihn ebenso aus wie eine skrupellose Dreistigkeit bei Diebstahl und Betrug. Seine Karriere als Hochstapler beginnt im eigentlichen Sinne, als er einen luxemburgischen Marquis kennenlernt, der ein Double benötigt, das für ersatzweise für ihn eine von seinen Eltern angeordnete Reise nach Südamerika antritt. Felix reist also nach Lissabon, von wo aus er mit einem Schiff nach Argentinien fahren soll. Unterwegs macht er die Bekanntschaft deutschen Professors Kuckuck, der in Lissabon ein Museum leitet. Natürlich wird er auch in die Villa Kuckuck eingeladen, wo er sich sowohl in die Tochter als auch in die portugiesische Frau des Professors verliebt. Leider bricht der Roman gerade an dem Punkt ab, als Felix sowohl bei der Mutter als auch bei der Tochter zum Ziel gekommen ist. Aus dem Fragment heraus lässt sich leider nur vermuten, ob nicht die wirkliche Hochstapelei Krulls darin besteht, sich diesen fantastischen Lebenslauf zuzuschreiben.
Von beiden Büchern – so wie von zahlreichen anderen Romanen Thomas Manns – gibt es ungekürzte Lesungen Gert Westphals aus einer Zeit, als es das Hörbuch zumeist nur im Radio und nur ausnahmsweise als Audiocassette gab. Heute liegen diese Lesungen selbstverständlich auf CD vor, und es steht zu hoffen, dass auch hier bald MP3-Versionen eine kompakte und preisgünstige Alternative liefern. Westphal hat für meinen Geschmack eine ideale Stimme für die Texte Thomas Manns; er befindet sich stets auf der Höhe der Texte – einzig sein Englisch hat einen störenden Akzent – und macht Manns hier und da zu feisten Manierismus durch seine Sprechkunst durchsichtig und erträglich. Nachdem ich in den letzten Jahren eher Schwierigkeiten hatte, mich mit Manns Spätwerk noch einmal anzunähern, haben diese beiden Hörbücher mir einen neuen Weg eröffnet, und ich werde es demnächst auch einmal mit der Westphalschen Lesung des Doktor Faustus versuchen.
Thomas Mann: Der Erwählte. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 10 CDs mit zus. etwa 660 Minuten Laufzeit. Ca. 60,– €.
Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 13 CDs mit zus. etwa 990 Minuten Laufzeit. Ca. 75,– €.
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