Mein erstes Buch der Literatur-Nobelpreis-Trägerin. Bekannt sein dürfte, dass es sich um ein Buchprojekt handelt, das Müller zusammen mit Oskar Pastior entwickelt hatte, aber wegen des Todes von Pastior im Jahr 2006 schließlich alleine schreiben musste. Erzählt wird die Geschichte Leopold Aubergs, der 1945 nach der Befreiung Rumäniens als Siebenbürger Sachse durch die Rote Armee nach Russland deportiert wird. Er muss in Russland fünf Jahre lang Zwangsarbeit leisten, bevor er in seine Heimat zurückkehren kann.
Erzählt wird das in kurzen Episoden aus der Ich-Perspektive Aubergs, wobei der Text parallel unterschiedliche zeitlichen Ebenen präsentiert, ohne dass diese scharf voneinander getrennt wären: Der Erzähler kann an einigen stellen auf 60 Jahre Vergangenheit zurückblicken, ohne dass die Ereignisse im Arbeitslager als aus dieser zeitlichen Distanz geschildert erscheinen. Besonders diejenigen Teile, die in der Zeit nach der Rückkehr spielen, schildern nicht nur die Folgen der Deportation, sondern auch die aus der Homosexualität des Erzählers resultierenden Schwierigkeiten. Inwieweit diese zusätzliche »Belastung« des Protagonisten für die Erzählung notwendig ist, lässt sich nach einer ersten Lektüre schlecht beurteilen.
Wie man sich denken kann, ist das Buch nur eingeschränkt wegen des präsentierten Materials wichtig. Zwar gab es wohl bislang keine erzählende Darstellung dieser besonderen Verschleppung, aber abgesehen davon sind die Details aus anderen Quellen bekannt: Die Entmenschlichung der Opfer wie der Aufseher, das Nebeneinander von Hoffnung und Verzweiflung, der Hunger als Zentrum der täglichen Existenz etc. Was das Buch heraushebt, ist seine literarische Sprache und die Reflexion des Erzählers auf das Erzählen. Das beginnt bereits mit den ersten Sätzen:
Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.
Das ist natürlich zuerst einmal ein literarisches Zitat; das Omnia mea mecum porto mag uns an Seneca denken lassen oder an Cicero, an Bedürfnislosigkeit als Ideal oder an die Verehrung hoher Tugenden, es wird in jedem Fall sogleich gekontert:
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.
Es mag dem Leser später klar werden, dass diese ersten Sätze nicht nur aus der Situation heraus verstanden werden sollten, sondern dass sie zugleich eine Lebensbilanz ziehen. In diesem Anfang steckt schon der Blick auf die Gesamtheit des geschilderten Schicksals.
Wie schon gesagt, ist der Hunger selbstverständlich eines der zentralen und immer wiederholten Themen dieses Buches. Aber wo konnte man je zuvor solche Sätze lesen:
Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: MAN NEHME. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.
Als dem Erzähler im russischen Dorf in der Nähe des Lagers von einer alten Frau, die sich um ihren Sohn sorgt, ein weißes Spitzentaschentuch geschenkt wird, wird dieses Taschentuch zu einer Reliquie der Hoffnung für ihn:
Ich schäme mich nicht, wenn ich sage, das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte. Ich bin mir sicher, auch heute noch. Manchmal kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man von ihnen nicht erwartet.
Oder diese Stellen über die Erinnerung:
Schau, wie der heult, dem läuft was über.
Diesen Satz habe ich mir oft überlegt. Dann habe ich ihn auf eine leere Seite geschrieben. Am nächsten Tag durchgestrichen. Am übernächsten wieder darunterge-schrieben. Wieder durchgestrichen, wieder hingeschrieben. Als das Blatt voll war, habe ich es herausgerissen. Das ist Erinnerung.
Dass mich das Lager nach Hause gelassen hat, um den Abstand herzustellen, den es braucht, um sich im Kopf zu vergrößern. […] Immer mehr streckt sich das Lager vom Schläfenareal links zum Schläfenareal rechts. So muss ich von meinem ganzen Schädel wie von einem Gelände sprechen, von einem Lagergelände. Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen.
Das Buch hat mich überrascht und trotz meines besserwisserischen Vorurteils ihm gegenüber – »nur noch eine Deportationsgeschichte mehr« – überzeugt und berührt.
Herta Müller: Atemschaukel. München: Hanser, 2009. Pappband, 299 Seiten. 19,90 €.
Schöne Rezension! Entspricht dem, was ich beim Lesen gedacht und empfunden habe.
Mit der Homosexualität des Helden ging es mir auch so.
„Muss der nun auch noch homosexuell sein?“ Es ist aber irgendwie notwendig, einmal, weil es zu Pastior gehört, dann zeigt es eben auch, dass die Extremerfahrung des Lagers nicht einen unproblematischen Jugendlichen trifft, der mit sich und der Umwelt in Einklang ist, sondern eben einen ganz „normalen“.
LG
Gontscharow