Ich habe schon lange das Bedürfnis gehabt, es wieder einmal mit einer wenigstens einigermaßen ernstzunehmenden philosophischen Lektüre zu versuchen. Der Sermon der Romane ist doch auf einer langen Strecke ermüdend. Und naturgemäß kehrt man erst einmal zum alten Tatort zurück: Über Feyerabends Buch wurde während meines Studium von Professoren-Seite erheblich die Nase gerümpft (aus den unterschiedlichsten Gründen), während ich es damals mit erstaunlichem Gewinn gelesen habe. Ich selbst habe in der Philosophie als erkenntnistheoretischer Kantianer angefangen (und wahrscheinlich auch als solcher aufgehört), und hatte als potentieller Idealist eine entsprechend verklärte Vorstellung vom Gang wissenschaftlicher Forschung.
Feyerabends Analyse lässt demjenigen, der sich auf sie einlässt, kaum eine Chance, irgendeine ideale Vorstellung von den Wissenschaften und besonders ihrer Hohenpriester übrig zu behalten. Seine Darstellung der Galileisch-Kopernikanischen Revolution und ihrer grundlegenden sachlichen und argumentativen Schwächen ist ein Musterstück historischer Wissenschaftskritik. Die aus ihr entwickelte Kritik der Wissenschaften des 20. Jahrhundert ist durchschlagend und ernüchternd – und gibt die tatsächlichen Verhältnisse wohl grundsätzlich korrekt wieder. Ich muss also zugestehen, heute nicht weniger als damals von dem Buch beeindruckt zu sein. Dies war tatsächlich einer der wirklich freien Köpfe des 20. Jahrhunderts.
Ungebildete und stümperhafte Bücher überschwemmen den Markt, leeres Gerede, das von unverständlichen Ausdrücken strotzt, behauptet tiefe Erkenntnisse zu vermitteln, »Fachleute« ohne Geist und Charakter, ja ohne ein Mindestmaß intellektuellen, stilistischen und emotionalen Temperaments belehren uns über unsere »Situation« und die Möglichkeiten ihrer Verbesserung, und sie predigen nicht nur uns, die wir sie vielleicht durchschauen könnten, sondern sie werden auch noch auf unsere Kinder losgelassen und dürfen sie in ihre eigene geistige Verkommenheit hinabziehen. »Lehrer« kneten mit Hilfe von Zensuren und der Angst vor dem Versagen den Geist der Jugend, bis sie jeden Rest von Einbildungskraft verloren hat, den sie einmal besaß. Das ist eine katastrophale Situation, und sie ist nicht leicht zu beheben. [S. 290 f.]
Dass die hinteren Kapitel (ab 16) nicht weniger eloquent sind, aber im Detail weniger zu überzeugen vermögen, sollte man Buch und Autor verzeihen. Man hätte sich stattdessen eine detailliertere Kritik des Begriffs »Vernunft« gewünscht, doch man kann von einem Buch nicht alles erwarten.
Es ist zu befürchten, dass Feyerabends Kritik der Wissenschaft wirkungslos bleiben wird, da sie längst – wie alles Widerständige – vom Betrieb vereinnahmt und verharmlost worden ist. Wie es aussieht, wird er erst an einem Ende Recht behalten, an dem seine Gedanken niemandem mehr nützen werden.
Eine Pflichtlektüre für alle, die sich noch ernsthaft Gedanken machen.
Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Auf der Grundlage einer Übersetzung aus dem Englischen von Hermann Vetter. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 597. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 112009. 423 Seiten. 15,– €.
P.S.: Existiert eigentlich eine Ausgabe ohne den Satzfehler auf S. 282, auf der mindestens eine Zeile Text fehlt, dafür eine andere doppelt vorkommt. Sowohl meine alte Ausgabe von 1983 (aus dem »Weißen Programm«) als auch die aktuelle Taschenbuchausgabe weisen diesen Fehler auf.
Ja, Feyerabend ist cool. Aber diese Beschreibung seines Buches scheint mir ziemlich irreführend zu sein. Vor allem bleibt die Hauptthese ungenannt. Der Titel „Wider den Methodenzwang“ ist ja gegen die noch heute vorherrschende Ansicht gerichtet, daß die Wissenschaften, namentlich die Naturwissenschaften ihre Erkenntnisse auf dem Weg einiger weniger klar definierbarer Methoden gewinnen – so wie es etwa Popper propagiert hat. Feyerabend zeigt nun anhand des historisches Materials, daß sich für jede sogenannte Methode Fallbeispiele aus der Geschichte der Wissenschaften finden lassen, bei denen zurecht gegen die besagte Methode verstoßen wurde. In diesem Sinne kommt er ja zu dem Schluß, daß die einzige nicht-restriktive Methode „anything goes“ lauten muß. Im Vordergrund steht also weniger eine „Kritik der Wissenschaften“, vielmehr eine „Kritik der Deutung der Wissenschaften durch die Wissenschaftstheoretiker“. Insofern ist die Pointe seiner „Darstellung der Galileisch-Kopernikanischen Revolution“ keine Kritik an Galilei als Wissenschaftler, da er ja aus heutiger Sicht natürlich Recht hatte – nur war er, wie Feyerabend zu zeigen versucht, der Kirche damals argumentativ unterlegen. Doch habe er sich dennoch durch Propaganda durchgesetzt (auch ein Verstoß gegen die sogannten Methoden): „Galilei behält aufgrund seines Stils und seiner geschickten Überredungsmethoden die Oberhand, weil er auch in Italienisch und nicht nur Latein schreibt und weil er sich an Leute wendet, die gefühlsmäßig gegen die alten Ideen und die mit ihnen verbundenen Maßstäben der Gelehrsamkeit eingenommen sind.“ Daß Feyerabend später auch die Rolle der Wissenschaften in der Gesellschaft als Institution samt ihrer Machtausübung kritisiert hat, mag sicherlich stimmen, nur scheint mir jener Aspekt in diesem Buch, soweit ich mich erinnere, nur sekundär gewesen zu sein.