Zweitlektüre, zum einen als mein Einstieg ins Kleist-Jahr 2011, zum anderen aus didaktischem Anlass. Mein Gedächtnis will die erste Lektüre in die Zeit des Studiums verlegen, doch meine Ausgabe belehrt mich eines anderen: Sie stammt aus dem Jahr 1994. Auch sonst ist von damals nicht viel in Erinnerung geblieben, und ich fürchte, dass das auch diesmal nicht viel anders gehen wird.
Erzählt wird eine fiktive Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 in Winkel am Rhein im Haus der Brentanos. Karoline ist in Begleitung des Ehepaars Savigny, Kleist in der des Arztes Wedekind, in dessen Haushalt er halb als Patient, halb als Gast lebt. Außerdem anwesend sind Clemens Brentano mit seiner Frau Sophie und seiner Schwester Bettine sowie weitere prominente Gäste. Nach anfänglichem Fremdeln geraten die Günderrode und Kleist schließlich auf einem Spaziergang in ein tiefschürfendes Gespräch, in dem beider Missverhältnis zur Welt ausführlich zur Sprache kommt.
Solche fiktiven Gespräche, in denen sich in der Hauptsache der Autor, in diesem Fall die Autorin mit sich selbst unterhält, wurden klassischerweise als Totengespräche inszeniert. Es ist nicht nur durch das ideologische Umfeld, in dem der Text entstand, verständlich, dass Wolf auf eine derartige metaphysische Szenerie verzichtet. Außerdem fügt es dem Gespräch eine gewisse existentielle Note hinzu, dass ihr Selbstmord den beiden Teilnehmern noch bevorsteht. Ob sich die Günderrode und Kleist tatsächlich in ein derartig spätpubertäres, hochtrabendes Geraune verloren hätten, wie Wolf imaginiert, soll ruhig jeder Leser für sich entscheiden. Hübsch ist natürlich der Titel, bei dem es sich um die Eindeutschung des Wortes »Utopie« handelt.
Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. dtv 11928. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1994. 150 Seiten.