Und da ich einmal so im Zuge war, habe ich gleich im Anschluss an Die Wahlverwandtschaften auch die Lehrjahre noch einmal gelesen. Nimmt man die beiden Meisterromane und die Vorstufe Wilhelm Meisters theatralische Sendung zusammen, handelt es sich bei diesem Romanprojekt nicht nur um das umfangreichste, sondern auch das, abgesehen vom Faust, die meiste Lebenszeit umfassende Werk Goethes.
Erzählt wird die Geschichte des jungen Wilhelm Meister, der zu Anfang des Romans gerade in dem Alter ist, dass sein Vater ihn erstmals mit geschäftlichen Aufträgen in die Welt hinausschicken will. Wilhelm stammt aus einer Kaufmannsfamilie, zeigt aber wenig Neigung, selbst Kaufmann zu werden. Seine Neigung gehört in jedem Sinne dem Theater, denn nicht nur will er sich als Schauspieler und Theaterautor etablieren, er hat auch ein zärtliches Verhältnis zu Mariane, einer jungen Schauspielerin, die gerade am Ort gastiert. Den ersten Auftrag seine Vaters, für ihn auf Reisen zu gehen, will er nutzen, um mit seiner Geliebten durchzubrennen, doch sieht er eines Abends kurz vor seiner Abreise einen anderen Mann die Wohnung Marianes verlassen, wähnt sich betrogen und reist verbittert allein ab.
Wilhelm schließt sich bald einer wandernden Theatertruppe an, bei der er nicht nur erste Erfahrungen als Schauspieler macht, sondern durch die er nach einigen umständlichen Verwicklungen auch in den Kontakt zu einer locker gefügten Gesellschaft von Adeligen kommt, die seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägen soll. Die einzelnen Abenteuer, Liebesverhältnisse, verwickelten Verwandtschaften und Bekanntschaften nachzuerzählen, von denen sich der Autor vorstellt, dass sie seinen Protagonisten langsam aber sicher zu der den Roman beschließenden, wenn auch vorläufigen Klärung seiner Lebensverhältnisse führt, wäre ermüdend. Nach dem zu Goethes Zeit beliebten Muster des Geheimbund-Romans erweist es sich am Ende, dass Wilhelms Lebensweg von einer Gesellschaft vom Turm, die sich zugleich ironisch und esoterisch Formen der Freimaurerei bedient, seit Längerem beobachtet und in Grenzen auch gelenkt worden ist. Auch dass beinahe das gesamte Figurenensemble am Ende miteinander verwandt, verschwägert oder seit Jahren befreundet ist, entspricht weitgehend dem Zeitgeschmack.
Abgesehen davon ist das Buch motivisch und inhaltlich recht locker angelegt, eine Tendenz, die sich bekanntlich in den Wanderjahren noch verstärken wird, was natürlich auch der Arbeitsweise Goethes geschuldet ist, der diese Texte diktiert hat. (Ich habe mich bei der Lektüre mehr als einmal an das Diktum Arno Schmidts erinnert: »Bei Goethe ist der Roman keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste«. Das mag etwas zu scharf sein, stimmt aber in der Tendenz.) Trotz der zahlreichen Themen und Motive ist das Buch für den heutigen Leser von einer erstaunlichen Weltlosigkeit: Kaum ein Ort wird konkret beschrieben, kein Gebäude und kein Interieur nehmen wirklich Gestalt an, die meisten Figuren sprechen in ein und derselben Diktion, und nur hier und da gewinnt man einen deutlicheren Eindruck der fiktionalen Welt. Im Großen und Ganzen scheint die Handlung mehr Anlass für Reflexion und Dialog zu sein, als dass es Goethe tatsächlich auf das Erzählen ankommen würde. Auch diese Tendenz findet sich in den Wanderjahren wieder.
Das pädagogische Konzept und mithin das Menschenbild, das dem Roman zugrunde liegt, muss heute als hilflos idealisierend bezeichnet werden – ob das eine negative Aussage über Goethe oder über unsere Zeit ist, mag für hier und heute dahingestellt bleiben.
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. RUB 7826. Stuttgart: Reclam, 1986. 661 Seiten. 11,60 €.
Eigenartig, wenn ich an die Lektüre zurückdenke, haben Sie Recht mit der Beschreibung der „Weltlosigkeit“…
aber als ich als Studentin in den langen Sommerferien (wie schnell lesen Sie eigentlich???) diese Lehr- und Wanderjahre durchlas, verschlang ich sie, war gefangen…
hat sich später im Referendariat niedergeschlagen, meine 10. Klasse mußte „Kennst du das Land wo die Zitronen blühen“ mit Reiseprospekten vergleichen ( = Text-Analyse … tststs… was einem alles so einfällt…)
immerhin hab ich das 2. Staatsexamen bestanden ;=)
Ich gestehe freimütig, daß für mich von Goethe doch hauptsächlich der „Werther“, die Gedichte und einige Dramen bleiben, allen voran natürlich der „Faust“. Mit seiner sonstigen Prosa kann ich wenig anfangen, das sind in meinen Augen ästhetisch-sittliche Programmschriften ohne künstlerischen Wert, so kühl und leblos wie die Gipsabdrücke der griechisch-römischer Büsten, die er sammelte. Nein, von der Kraft einer gut erzählten Geschichte hat er leider nichts verstanden. Wenn ich nur an den sterilen Ton des „Märchen“ denke und dagegen dann etwa Tiecks „Phantasus“ halte, weiß ich, wem in der Prosa jener Zeit mein Herz gehört (nämlich Jean Paul, Wieland, Tieck, Hoffmann – sämtlich Leute, denen sich der Herr Geheimrat ja mächtig überlegen fühlte). Ich halte es da mit Arno Schmidt: „Der größte deutsche Dichter? Goethe, bevor er Frankfurt endgültig verließ.“
Wobei das, was Sie da als von Arno Schmidt zitieren, natürlich ein Tieck-Zitat ist! 😀
@ Connie: Meine Lesegeschwindigkeit lässt sich hier gerade schlecht ablesen, da ich aus erst gesundheitlichen, dann beruflichen Gründen den ganzen Februar über hier nichts geschrieben habe. Ich arbeite also gerade »nach«. Dass die Lehrjahre schon Anfang Februar »dran« waren, können Sie an Allen Lesern ins Stammbuch (39) erkennen.