Einer der letzten Romane Stevensons, den er nicht hat zu Ende schreiben können. Wie unentdeckt Stevenson insgesamt im deutschen Sprachraum noch ist, zeigt sich auch daran, dass der Verlag weitgehend ungestraft behaupten darf, es handele sich hier um eine deutsche Erstausgabe des Textes. Das trifft nur in einem sehr speziellen Sinne zu: Für den Erstdruck 1896/1897 aus dem Nachlass heraus versuchte man den Roman für den normalen Leser zu retten, indem man die letzten sechs Kapitel von einem anderen Autor, A. T. Quiller-Couch, ergänzen ließ, um der Handlung einen Abschluss zu geben. Dabei handelt es sich immerhin um gute 20 % des Textes. In der Tat handelt es sich allein bei diesem nicht von Stevenson stammenden Nachklapp um eine deutsche Erstausgabe; den Text Stevensons hatte bereits Curt Thesing Anfang der 30er Jahre übersetzt. Ich habe auf die Lektüre des Nachklapps gänzlich verzichtet, da ohnehin klar ist, was geschehen wird, und die zusammengeklapperte Handlung durch eine Verlängerung sicherlich nicht besser wird.
Das Buch erzählt die Abenteuer eines französischen Adeligen, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege in Edinburgh auf der Festung inhaftiert ist. Er verliebt sich, wie es sein muss, in eine mitleidige junge Schottin, kann fliehen, sucht seinen in England im Exil lebenden Onkel auf, der ihm sein Vermögen vermachen will, gerät darüber in Streit mit seinem als Doppelspion arbeitenden Cousin, geht unter Gefahr für Leib und Leben zurück nach Edinburgh, wo er, kurz bevor der Text abbricht, knapp einer Verhaftung entgeht. Dass es am Ende alles gut ausgehen, der etwas eitle und leichtlebige Protagonist sich zum Besseren bekehren und sein Mädchen bekommen wird, ist daher so klar, wie die sprichwörtliche Kloßbrühe.
Stevenson, der damals schon schwer krank war, hat diesen Roman diktiert und wohl nicht mehr abschließend redigieren können, was besonders im ersten Teil einige Verwerfungen erzeugt hat. Ansonsten hangelt sich die Handlung sehr konventionell von Abenteuer zu Abenteuer, und es ist mehr als verständlich, dass sich bis dato niemand entschließen konnte, an diesen Text die Mühe einer erneuten Übersetzung zu wenden. Dass es nun gerade Andreas Nohl ist, der uns zuletzt mit einem glatt gehobelten »Huckleberry Finn« beglückt hat und nun versucht, dieses etwa dünne Fähnchen in den Rang eines bedeutenden Spätwerks zu heben, passt zumindest in mein Bild.
Gesamturteil: Eher enttäuschend. Hervorgehoben werden muss allerdings einmal mehr die exzellente Buchausstattung des Hanser Verlages: ein flexibler Leinenband, Dünndruckpapier mit Fadenheftung, ein passendes Lesebändchen! So sollten alle Bücher aussehen! Wenn nur der Inhalt etwas besser wäre …
Robert Louis Stevenson: St. Ives. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2011. Leinen, Lesebändchen, 520 Seiten Dünndruckpapier. 27,90 €.
Ich war bis zu dem Buch der Meinung, dass Stevenson gar keine schlechten Bücher schreiben konnte – da habe ich mich leider getäuscht und war maßlos enttäuscht.
Trackback: http://nomasliteraturblog.wordpress.com/2011/04/05/st-ives/
Kleine Korrektur: der Hanser-Übersetzer heißt Andreas Nohl, nicht Andreas Arnold (steht in Deinen bibliographischen Angaben ja auch korrekt, aber nicht im Text).
Danke! Ist korrigiert.
können Sie mir verraten, wann und wo curt thesings übersetzung von stevenson erschienen ist?
mit besten grüßen
Ihr
andreas nohl
Aber gern kann ich das. Folgen Sie bitte einfach diesem Link.
danke für die auskunft. – es gab in den 80er jahren noch eine weitere jugendbuchbnearbeitung unter dem titel „flucht ins abenteuer“. ähnlich wie diese hat thesings ausgabe einen umfang von 274 seiten, die von mir herausgegebene ausgabe 465 seiten (selbst wenn man den anteil von quiller-couch abrechnet, sind es immer noch 354 seiten). ich nehme daher an, dass es sich bei thesing um eine der üblichen jugendbuchbearbeitungen handelt und nicht um eine erstübersetzung in einem literarisch/bibliographisch belastbaren sinn.
aber nochmals: vielen dank. ich werde mir das buch besorgen.
mit besten grüßen
andreas nohl
ps. der heraldische fachbegriff für „lion rampant“ ist übrigens „steigender löwe“, nicht „springender löwe“.