Und mit offenem Munde stand er da und hatte Angst vor seinem Werk, zitterte vor diesem jähen Sprung ins Jenseits, verstand gut, daß die eigentliche Wirklichkeit für ihn nicht mehr möglich war, nachdem er so lange gerungen, um sie zu bezwingen und sie mit seinen Manneshänden neu zu formen.
Beim 14. Band der Rougon-Macquart handelt es sich um den Künstlerroman des Zyklus. Im Zentrum steht Claude Lantier, der älteste Sohn der Wäscherin Gervaise Macquart aus »Der Totschläger« und Bruder Etienne Lantiers aus »Germinal«. Die Handlung setzt im Jahr 1862 ein und beginnt mit der Begegnung Claudes mit Christine, einem jungen, unerfahrenen Mädchen aus der Provinz, die in Paris eine Stelle antreten will, in der fremden Stadt Paris aber beinahe sofort verloren geht. Claude findet sie bei seiner Rückkehr im Eingang des Hauses, in dem er unter dem Dach sein Atelier hat, und nimmt sie mit nach oben, obwohl er den Verdacht hat, dass sie nur eine Prostituierte auf Suche nach einem Kunden ist. Am nächsten Morgen inspiriert ihn die schlafende Schönheit, und er macht eine Skizze für das großformatige Bild Im Freien, an dem er gerade arbeitet und das er zum kommenden Salon einreichen will. Claude gilt als der mutigste, begabteste und hoffnungsvollste der avantgardistischen, jungen Maler von Paris, von dem Kollegen und Kunsthändler eine bedeutende Karriere erwarten.
Aus dieser ersten Begegnung der unerfahrenen Christine und des schüchternen Claude entwickelt sich langsam aber sicher eine Liebesbeziehung, die ihre erste Erfüllung anlässlich der Ausstellung des Salons 1863 findet: Claudes Bild wird zwar von der Jury für den offiziellen Salon abgelehnt, wird aber zusammen mit den anderen abgelehnten Arbeiten im ersten Salon der Refusés gezeigt. Claude muss erleben, dass sein Bild zusammen mit den Werken anderer abgelehnter Künstler vom Publikum öffentlich ausgelacht wird. Er macht zwar gute Mine zum bösen Spiel, als er bei seiner Heimkehr aber die auf ihn wartende Christine antrifft, bricht er weinend zusammen, was zur ersten Liebesnacht der beiden führt.
Da Claude durch eine kleine Erbschaft in Maßen finanziell unabhängig ist, fliehen Christine und er zusammen aufs Land, wo sie eine Zeit gedankenloser und unbeschwerter Liebe durchleben, bis Christine schwanger wird und Claude beginnt, seine Pariser Freunde und das dortige Leben zu vermissen. So kehren beide schließlich nach Paris zurück, wo Claude versucht, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Doch scheint er seinen künstlerischen Fokus verloren zu haben; erst als er in einem fast visionären Moment den Einfall für ein monumentales Bild der Île de la Cité bekommt, scheint er sich wenigstens für den Augenblick wiederzufinden. Er greift das Kapital seiner Erbschaft an, um sich ein großes, wenn auch ärmliches Atelier einzurichten, und beginnt sein großes Werk.
Doch je länger Claude an diesem das Bild arbeitet, desto klarer wird, dass es seine Kräfte und sein malerisches Vermögen übersteigt. Selbst seinen engen Freunden, allen voran dem Schriftsteller Sandoz, erscheint die Bildkomposition, die im Zentrum des Bildes einen großen weiblichen Akt auf einem Boot zeigt, fragwürdig und befremdend, und Claude selbst ist mit der malerischen Umsetzung seines Einfalls nie zufrieden, sondern überarbeitet immer und immer wieder das bereits geschaffene. Über dieser monomanischen Arbeit geht die Beziehung zu Christine, die Claude sogar noch heiratet und die bis zum Ende zu ihrem Geliebten hält, in die Brüche.
Als der gemeinsame, von Beginn an kränkliche und zurückgebliebene Sohn stirbt, malt Claude zur Bewältigung seiner Trauer ein Bild des toten Kindes auf dem Sterbebett. Mit diesem Bild kommt er durch den Gnadenakt eines früheren Freundes, der inzwischen als Maler mit gefälligeren Versionen der avantgardistischen Motive und Techniken seiner Kollegen großen Erfolg hat, sogar in die Ausstellung des Salons, doch muss er, als er die Ausstellung besucht, feststellen, dass man sein kleines Bild hoch oben in der Nähe der Decke aufgehängt hat, wo es kaum zu sehen ist. Diese zweite Zurückweisung seiner Malerei durch den offiziellen Kunstbetrieb stürzt Claude endgültig in Depression und Verzweiflung. Nach einer letzten leidenschaftlichen Liebesnacht mit Christine, die beinahe gewaltsam versucht, Claude ins Leben zurückzuholen, erhängt sich der Maler vor seinem unvollendeten Werk. Er wird nur von einigen wenigen Menschen begleitet beinahe anonym beigesetzt. Sein Freund Sandoz zerstört das monumentale Fragment des Bildes der Île de la Cité.
Zola hat für »Das Werk« in weit größerem Umfang auf autobiographisches Material zurückgegriffen als bei den früheren Romanen des Zyklus. Insbesondere liefert er in der Figur des Schriftstellers Sandoz ein offensichtliches Selbstporträt. Dies hat dazu geführt, dass »Das Werk« vielfach als ein Schlüsselroman über den Impressionisten Paul Cézanne gelesen und kritisiert wurde. Auch Cézanne selbst scheint den Roman so wahrgenommen zu haben, denn dessen Veröffentlichung hat zum Bruch der Freundschaft zwischen ihm und Zola geführt. Dem steht nicht nur gegenüber, dass das erste große Bild Claudes offensichtlich eine Variation auf Édouard Manets Das Frühstück im Grünen darstellt, sondern auch, dass viele der biographischen Details für Claude Lantier von anderen zeitgenössischen Malern erborgt wurden. Zola kannte aufgrund seiner Freundschaft mit Cézanne zahlreiche Maler des Impressionismus persönlich und hatte sich als Essayist und Journalist intensiv mit der Malerei seiner Zeit auseinandergesetzt.
Der Ansatz als biographischer Schlüsselroman greift daher zu kurz. Das zentrale Thema des Romans scheint vielmehr das Verhältnis von Kunst und Realität überhaupt zu sein. Zola begreift sein eigenes schriftstellerisches Programm als direkte Entsprechung des Programms der Impressionisten: Primäres Ziel der Darstellung ist nicht eine moralische oder allegorische Bedeutung, sondern ein Bild der materiellen bzw. gesellschaftlichen Wirklichkeit zu geben, insbesondere jener Aspekte dieser Wirklichkeit, die als der künstlerische Darstellung traditionell nicht würdig bzw. deren Darstellung als dem Publikum nicht zumutbar galten. Dazu passt auch die negative Darstellung der Publikumsreaktion auf diese neue Kunst im Roman, wobei Zola gleichzeitig zugesteht, dass sich sowohl seine Romane als auch einige der avantgardistischen Künstler durchaus eines gewissen Erfolgs erfreuen. Dieser Widerspruch bleibt im Roman ebenso wie in der Wirklichkeit unaufgelöst.
In erster Linie aber überzeugt die zentrale Figur Claude Lantiers nicht. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Zola versucht, in ihm zwei antagonistische Konzepte gleichzeitig zu realisieren: Zum einen soll Claude ein Glied in der degenerativen Entwicklung der Familie Rougon-Macquart bilden, zum anderen soll sein Scheitern paradigmatisch die Krise der modernen Kunst symbolisieren. Sein Charakter bleibt daher in einer Art von Schwebezustand, der letztlich gar keine handfeste Motivation seines Handelns ergibt: Claude scheitert irgendwie an sich selbst, aus seinem Inneren heraus, ohne dass der Leser den Grund dieses Scheiterns tatsächlich aus der Gestaltung der Figur heraus begreifen kann. Daher ist auch sein Selbstmord, so sehr er auch für den Autor als einziges mögliches Ende erscheinen mag, unzureichend motiviert; ebenso gut hätte er auch aus einer Magenverstimmung heraus erklärt werden können wie aus dem Charakter Claudes. Was bleibt, ist die exakte und stimmige Beschreibung des Kunstbetriebs im Paris des Zweiten Kaiserreichs, die aber eben nur den Hintergrund für einen nicht ganz gelungenen Künstlerroman bildet.
Übersichtsseite zur Rougon-Macquart
Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.
1 Gedanke zu „Émile Zola: Das Werk“