In Bezug auf mich selber war ich nunmehr nur noch Beobachter. Mein Glaube an die Phantomnatur meiner Existenz gab mir das Recht auf eine gewisse Heiterkeit.
Da ich »Lushins Verteidigung« bereits mehrfach gelesen und hier auch schon besprochen habe, bin ich in meiner chronologischen Nabokov-Lektüre gleich zu seinem kurzen, vierten Roman »Der Späher« gesprungen. Das Buch ist 1929/1930 entstanden und in mehreren Folgen in einer Pariser Emigrantenzeitschrift erschienen. Wie auch bei den anderen Romanen der russischen Phase Nabokovs liegt der deutschen Übersetzung innerhalb der Werkausgabe die spätere, von Nabokov überarbeitete englische Fassung zugrunde, wobei die zahlreichen kleinen Differenzen im Anhang sorgfältig dokumentiert sind. Ob das schmale Büchlein tatsächlich als Roman einzuordnen ist, kann getrost offen bleiben; da in der russischen Erzähltradition mit der Noveletta eine Zwischenform zwischen Erzählung und Roman existiert, bliebe eine Zuordnung ohnehin willkürlich.
Der nur etwa 100 Seiten umfassende Text enthält die Ich-Erzählung des jungen russischen Emigranten Smurow, der, nachdem er vom jähzornigen Ehemann einer ihm eigentlich gleichgültigen Geliebten aufs Übelste verprügelt wurde, einen Selbstmordversuch unternimmt. Nachdem er den Revolverschuss in seine Brust überlebt hat, findet er sich als Beobachter seiner selbst vor: Durch seinen Tod seiner vorherigen Identität anscheinend beraubt, sucht er sein Bild von sich, so wie es anderen erscheint. Ganz identitätslos scheint er dennoch nicht geworden zu sein, da er sich im Kreis seiner neuen Bekannten in die junge Wanja (eigentlich Warwara; der Diminutiv von Iwan ist nur ihr familiärer Kosename) verliebt, die allerdings schon mit einem anderen verlobt ist. Die Selbstbeobachtung Smurows im Spiegel der Bilder, die sich seine Mitmenschen von ihm machen, und die Krise seiner unerwiderten Liebe machen im Wesentlichen den Gehalt des Büchleins aus. Wie immer fällt auch ein mild-satirisches Porträt der Kultursphäre der Exilrussen dabei ab.
Interessant für die Entwicklung des Autors ist das Buch, weil hier einerseits zum ersten Mal das Thema der Identität im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbild abgehandelt wird, das sich später in zahlreichen Variationen wiederfindet, und andererseits und eng damit verbunden die unaufhebbare und unüberbrückbare Spannung von Realität und Innenwelt ausgespielt wird – Nabokovs Erbe der Romantik, das ihn immun gemacht hat gegen die moderneren Glaubensbekenntnisse des 20. Jahrhunderts.
Vladimir Nabokov: Der Späher. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. In: Gesammelte Werke II. Frühe Romane 2. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 22008. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 132 (von 777) Seiten. 29,– €.