Verstand ist die beste Vaterlandsliebe, und Militarismus kein gutes Prinzip. Er wird Deutschland zugrunde richten, wenn man ihn nicht zwingt, die Pfähle zurückzustecken.
Dieser 1931 erschienene Roman ist sowohl der Chronologie der Handlung als auch der Entstehung nach der zweite des Zyklus Der große Krieg der weißen Männer. Allgemeines zum Zyklus und seiner Entstehung ist bereits bei der Besprechung des Bandes „Die Zeit ist reif“ von 1957 gesagt worden, der die Vorgeschichte zu „Junge Frau von 1914“ liefert. In ihm wurde die Handlung unmittelbar bis an die von „Junge Frau von 1914“ herangeführt, der dementsprechend im Frühjahr 1915 einsetzt, als der Schriftsteller Werner Bertin in Berlin seinen Gestellungsbefehl erhält. Er muss zur militärischen Grundausbildung nach Küstrin und wird anschließend als Armierungssoldat, also als Soldat ohne Ausbildung an der Waffe eingesetzt werden.
Während der drei Monate in Küstrin kommt es zu einem Vorfall zwischen ihm und seiner langjährigen Geliebten Lenore Wahl, dessen Folgen einen Großteil der Handlung des Romans bestimmen: Obwohl wir Bertin bislang nur als einen empfindsamen, rücksichtsvollen und etwas weltfremden jungen Mann kennen, sollen ihn die wenigen Wochen in der Kaserne so verroht haben, dass es bei einem Spaziergang der beiden Liebenden zu einer Vergewaltigung Lenores kommt. Doch merkwürdigerweise ist es nicht dieser gewaltsame sexuelle Übergriff, der für Lenore zur Krise ihrer Beziehung mit Bertin führt, sondern erst die aus ihm folgende Schwangerschaft. Da Lenores Eltern immer noch gegen eine Verbindung zwischen Lenore und Werner sind, sieht sie keine andere Möglichkeit, als das Kind abtreiben zu lassen. Unterstützt von ihrem jüngeren Bruder David, der noch das Gymnasium besucht, findet sie eine Berliner Privatklinik, in der der illegale Eingriff vorgenommen wird. Auch die Finanzierung des Klinikaufenthalts ist durch einen gerade rechtzeitig eintreffenden Vorschuss auf eines der Stücke Bertins gesichert. Zur eigentlichen Verwerfung zwischen Lenore und Werner kommt es aber erst nach der Abtreibung, als Werner seine Geliebte am Wochenende in der Klinik besucht, sich aber weigert, seine Rückkehr in den Dienst herauszuzögern und sich stattdessen um seine rekonvaleszente Freundin zu kümmern. Da Bertins Einheit unmittelbar danach auf den Balkan verlegt wird, kommt es zu keiner Aussprache zwischen den beiden.
Lenore durchläuft in den nächsten Monaten eine merkwürdig inkonsequente Entwicklung: Nachdem sie sich ihre Wut gegen Werner in einem Brief von der Seele geschrieben hat, den sie allerdings nicht abschickt, sondern ihrem Bruder zur Verwahrung gibt, versucht sie sich ein selbstständiges Leben aufzubauen, indem sie sich autodidaktisch zur Hilfslehrerin auszubilden versucht. Gleichzeitig aber macht sie sich gegenüber ihren Eltern für ihre offizielle Verbindung mit Werner stark: Zuerst kann sie eine Verlobung mit ihm durchsetzen, weil es den Wahls als nützlich erscheint, einen Familienangehörigen im Feld zu haben, da es die Einberufung Davids hinauszögern könnte. Als Bertins Einheit schließlich nach Verdun verlegt werden soll, sucht Lenore einen Weg, ihn gänzlich vom Militärdienst befreien zu lassen, bekommt aber nur den Hinweis, dass eine Hochzeit ihm einen Urlaub garantiert. Sie setzt mit Hilfe ihres liberalen Großvaters bei ihren Eltern die Hochzeit mit Werner durch und betreibt aktiv den Urlaubsantrag für ihren Verlobten. Bertin erhält nach mehr als einem Jahr Militärdienst für seine Hochzeit ganze vier Tage Urlaub, heiratet Lenore in Berlin und verbringt zwei Flittertage mit ihr in der Potsdamer Villa der Familie Wahl. Mit seiner Rückkehr zum Dienst vor Verdun endet der Roman.
Eingewoben in diese Haupthandlung finden sich Aspekte der deutschen Kriegswelt der Jahre 1915/1916: Die magere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln – wobei sich die reichen Wahls dabei natürlich noch gut zu helfen wissen –, die patriotischen Verwerfungen und Beschränktheiten des Zusammenlebens, der Antisemitismus des preußischen Militärs, die Überschattung des zivilen Alltags durch die ständige Bedrohung des militärischen Totschlags, die Verflechtung der Wirtschaft mit der Kriegsmaschinerie, die nationalen Ideologien, die jeden Friedensgedanken des Defätismus verdächtigen müssen usw. usf. Besonders die antisemitschen Tendenzen werden deutlich herausgestellt: Nicht nur in der Anekdote, dass ein Berliner Rabbiner auf der Suche nach der Leiche eines jüdischen Offiziers, um sie in die Heimat zu überfuhren, diese unter einem Misthaufen von Schweinekot beerdigt findet, sondern auch in der ausführlichen Schilderung des humanen Plans der preußischen Militärführung, die Juden aus den besetzten russischen Gebieten vor dem Verhungern zu bewahren und zwangsweise in die USA zu exportieren, unbesehen davon, dass für diese Reise weder geeignete Schiffe zur Verfügung stehen, noch die Reiseroute selbst gesichert werden kann. Dass der Plan nicht umgesetzt wird, ist einzig dem Umstand zu verdanken, dass die zur Beratung herangezogenen jüdischen Bankiers darauf hinweisen, dass die Preußen hiermit zum einen gegen das Völkerrecht verstoßen würden, sie selbst zum anderen sich um die Einwerbung finanzieller Mittel und humanitärer Unterstützung bemühen werden, um wenigstens die schlimmste Not zu lindern. Auch Zweig konnte 1931 nicht erahnen, welche Ereignisse in dieser historischen Anekdote ihre Schatten vorauswarfen.
Im Großen und Ganzen stellt sich die frühe „Junge Frau von 1914“ als stilistisch deutlich schlichter und entspannter dar als der über 25 Jahre später entstandene Roman „Die Zeit ist reif“. Auch er ist nicht frei von romantisierender Exaltation, doch ist sie auf einige wenige Passagen beschränkt. Die Protagonistin Lenore Wahl vermag allerdings auch diesmal nicht vollständig zu überzeugen: Obwohl Zweig explizit Theodor Fontanes „Mathilde Möhring“ als Vorbild heranzitiert, bleibt Lenore am Ende doch nur ein Frauchen: Weder zieht sie irgendeine Konsequenz aus dem auch von ihr als Vergewaltigung begriffenen Übergriff Werners, noch konfrontiert sie selbst ihn am Ende mit ihrer Verletztheit und ihrer Wut. Werner erfährt all dies zwar aus dem von David aufbewahrten und mehrere Monate später an Werner gesendeten Brief Lenores, aber weder reagiert er selbst in irgend einer Weise auf diesen Brief noch ist er – verständlicherweise – Thema zwischen den jungen Brautleuten während der vier Tage Hochzeits-Urlaub Werners. Es bleibt abzuwarten, ob Zweig diesen schwelenden Konflikt in der Folge noch wird wirksam werden lassen. Soweit wie dieser Roman reicht, hat Lenore zwar gut spotten über die spießbürgerliche Welt ihrer Eltern, es ist aber kaum zu erkennen, wie sie selbst dieser Schablone zu entkommen gedenkt. Doch der Zyklus ist ja noch lang …
Arnold Zweig: Junge Frau von 1914. Berlin: Aufbau-Verlag, 131967. Leinen, Fadenheftung, 347 Seiten. Lieferbar ist derzeit eine günstige Hardcover-Ausgabe des Aufbauverlages.
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