Reklamefahrten zur Hölle
In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann. Nach dem ungeheuren Zusammenbruch ihrer Kulturlüge und nachdem die Völker durch ihre Taten schlagend bewiesen haben, daß ihre Beziehung zu allem, was je des Geistes war, eine der schamlosesten Gaukeleien ist, vielleicht gut genug zur Hebung des Fremdenverkehrs, aber niemals ausreichend zur Hebung des sittlichen Niveaus dieser Menschheit, ist ihr nichts geblieben als die hüllenlose Wahrheit ihres Zustands, so daß sie fast auf dem Punkt angelangt ist, nicht mehr lügen zu können, und in keinem Abbild vermöchte sie sich so geradezu zu erkennen wie in diesem:
Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet?
Sie erhalten am Morgen Ihre Zeitung.
Sie lesen, wie bequem Ihnen das Überleben gemacht wird.
Sie erfahren, daß 1½ Millionen eben dort verbluten mußten, wo Wein und Kaffee und alles andere inbegriffen ist.
Sie haben vor jenen Märtyrern und jenen Toten entschieden den Vorzug einer erstklassigen Verpflegung in der Ville-Martyre und am Ravin de la Mort.
Sie fahren im bequemen Personen-Auto aufs Schlachtfeld, während jene nur im Viehwagen dahingelangt sind.
Sie hören, was Ihnen da alles zur Entschädigung für die Leiden jener geboten wird und für ein Erlebnis, wovon Sie bis heute Zweck, Sinn und Ursache nicht zu erkennen vermochten.
Sie begreifen, daß es veranstaltet wurde, damit einmal, wenn von der Glorie nichts geblieben ist als die Pleite, wenigstens ein Schlachtfeld par excellence vorhanden sei.
Sie erfahren, daß es doch etwas Neues an der Front gibt und daß es sich heut dort besser leben läßt als ehedem im Hinterland.
Sie erkennen, daß das, was die Konkurrenz bieten kann, die bloß über die Toten der Argonnen- und Somme-Schlachten, über die Beinhäuser von Reims und St. Mihiel verfügt, eine Bagatelle ist neben der erstklassigen Darbietung der Basler Nachrichten, denen es unzweifelhaft gelingen wird, mit den Verlusten von Verdun ihre Abonnentenliste aufzufüllen.
Sie verstehen, daß das Ziel die Reklamefahrt und diese den Weltkrieg gelohnt hat.
Sie erhalten, und wenn Rußland verhungert, ein reichliches Frühstück, sobald Sie sich entschließen, dazu auch noch die Schlachtfelder von 1870/71 mitzunehmen, es geht in Einem.
Sie haben nach dem Mittagessen noch Zeit, die Einlieferung der Überreste der nicht agnoszierten Gefallenen mitzumachen, und nach Absolvierung dieser Programmnummer noch Lust zum Nachtessen.
Sie erfahren, daß die Staaten, deren Opfer Sie in Krieg und Frieden sind, Ihnen sogar, und das will viel heißen, die Paßformalitäten ersparen, wenn die Reise aufs Schlachtfeld geht und Sie sich nur rechtzeitig bei der Zeitung ein Ticket besorgen.
Sie erkennen, daß diese Staaten Strafparagraphen haben, welche das Leben und sogar die Ehre von Preßpiraten ausdrücklich schützen, die aus dem Tod einen Spott und aus der Katastrophe ein Geschäft machen und den Abstecher zur Hölle als Herbstfahrt besonders empfehlen.
Sie werden Mühe haben, diese Paragraphen nicht zu übertreten, aber dann den Basler Nachrichten ein Anerkennungs- und Dankschreiben schicken.
Sie bekommen unvergeßliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre.
Und wenn Sie dann noch nicht erkannt haben, daß Sie durch Ihre Geburt in eine Mördergrube geraten sind und daß eine Menschheit, die noch das Blut schändet, das sie vergossen hat, durch und durch aus Schufterei zusammengesetzt ist und daß es vor ihr kein Entrinnen gibt und gegen sie keine Hilfe – dann hol‘ Sie der Teufel nach einem Schlachtfeld par excellence!Karl Kraus
Die Fackel, Nr. 577-582 (Nov. 1921)
Gibt es dazu einen Anlass, z. B. das hier?
Der Anlass ist der Klatschjournalismus zum Attentat von Sarajevo, die selbstgerechte Häme der westlichen Journaille über ein Princip-Denkmal und andere attraktive mediale Angebote zum Auftakt der 100-Jahr-Feier des Beginns der großen Schlächterei des 20. Jahrhunderts.
Ich habe das vor rund 25 Jahren Hans Wollschläger mal auf einer Lesung in Lübeck vortragen sehen/hören – in einem Duktus, daß es einem eiskalt über den Rücken lief. Mehr ist nicht zu sagen. Wird eigentlich irgendwo in diesem Jahr „Die Letzten Tage der Menschheit“ auf die Bühne gebracht? Wohl kaum, was?
Mir ist kein Hinweis auf eine Aufführung untergekommen, aber ich beachte nicht einmal die Theater in der unmittelbaren Umgebung besonders, von daher hat das wenig zu sagen.
Aufführungen von „Die letzten Tage der Menschheit“ 2014:
Staatsschauspiel Dresden, Theater Bern, Salzburger Festspiele in Kooperation mit dem Burgtheater Wien, Volkstheater Wien, Waldbühne Purkersdorf (Ö).
Szenische Lesungen in Bochum, Heidelberg, Wien (Theater in der Josefstadt), Stuttgart.
Reicht das erstmal? Soviel kann jeder nach fünf Minuten googeln herausfinden. Also besteht kein Grund, hier Krokodilstränen zu vergießen.Die beste Lesung von „Reklamefahrten zur Hölle“ stammt natürlich von Karl Kraus selbst; zu hören auf einer von 3 CDs („Karl Kraus liest Eigenes und Angeeignetes“), die das Schiller-Nationalmuseum in Marbach aus Anlaß der Ausstellung Karl Kraus 1999 herausgegeben hat (ISBN 3-933679-22-4).
Danke für die Hinweise. Patzig werden muss man deshalb aber nicht.
Beleidigt sein aber auch nicht.Lieber Herr Reschke, daß meine „Frage“ nur der bescheidene Versuch war, auf ein wenig zu parlieren, anstatt bloß irgendeine langweiliges Statement abzugeben, ist Ihnen offenbar entgangen. Aber das Angeranze gehört ja in den sogenannten Sozialen Medien mittlerweile zum guten Ton, in den man ungewollt selbst leicht verfällt. – Was das Googeln betrifft, kann ich Ihnen aus langjähriger Praxis als Leiter einer Fachbibliothek sagen, dass selbst hochkarätige Wissenschaftler oft nicht imstande sind, einen Sachverhalt zu er-googeln, geschweige denn anspruchsvollere Informationsmittel zu verwenden. Übrigens wären 5 Minuten schon ein recht erheblicher Zeitaufwand für eine so banale Fragestellung. (Gehört vielleicht alles nicht hierer. Im Zweifelsfall Kommentar bitte löschen, Bonaventura.)