Einmal mehr zeigt sich hier die Tendenz, die in der Argumentation so vieler Akteure in der Krise zu beobachten ist: nämlich sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der unter unwiderstehlichen externen Zwängen handelt, während die Verantwortung für die Entscheidung über Krieg und Frieden eindeutig dem Gegner aufgebürdet wird.
Christopher Clark, der als Historiker in Deutschland wegen seiner konzisen Biographie Wilhelms II. bekannt sein sollte, es aber wohl eher wegen der verschnarchten „Deutschland-Saga“ des ZDF ist, hat zeitig zu den 100-Jahr-Gedenktagen zum Beginn des Ersten Weltkrieges eine umfangreiche Studie zu den Vorbedingungen vorgelegt, die den Ausbruch des Krieges ermöglicht und befördert haben. Das Buch ist in den Feuilletons ausgiebig besprochen worden, in der Hauptsache deshalb, weil sich Clark der traditionellen Schuldfrage konsequent entzieht und an ihre Stelle eine Darstellung und Analyse der Akteure und Umstände in allen kriegsbeteiligten Nationen setzt.
Clarks Darstellung ist in drei Teile gegliedert: Der erste stellt ausführlich die politische Situation in Serbien nach dem gewaltsamen Umsturz im Jahr 1903 bis ins Jahr 1914 dar: Der alte König Aleksandar Obrenović wird zusammen mit seiner Frau ermordet und durch eine deutlich schwächere Figur – Petar I. Karađorđević – ersetzt, Teile des Militärs, die sich zudem noch in Geheimbünden organisieren, übernehmen hinter den Kulissen die Macht und das nationale politische Programm kreist im Wesentlichen um den Gedanken eines Großserbiens, für dessen Verwirklichung Österreich-Ungarn eines der Haupthindernisse darstellt. Der zweite Teil beschreibt für denselben Zeitraum die internationale und besonders die Lage der europäischen Teilnehmer am späteren Großen Krieg: den wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Russlands, der von allen anderen europäischen Großmächten zudem noch deutlich überschätzt wird, den scheiternden Versuch Deutschlands, Frankreich international zu isolieren, die erfolgreiche Bündnispolitik der Franzosen, die sich Russland als natürlichen Verbündeten gegen Deutschland verpflichten können und Serbien als Gegner Österreich-Ungarns auf dem Balkan fördern, die schwankende und sich nach allen Richtungen absichern wollende Politik der Engländer, das mit seinen internen strukturellen Problemen kämpfende Österreich-Ungarn usw. usf. In diesem Teil wird auch die Entwicklung des 1. und 2. Balkankrieges und deren Folgen beschrieben, die Verwerfungen der Staaten auf dem Balkan untereinander und als Folge der schwindenden Macht des Osmanischen Reiches. Der dritte Teil schließlich widmet sich detailliert dem Attentat von Sarajevo und der daraus folgenden Juli-Krise.
Das erste, was man wohl hervorheben muss, ist Clarks unglaublicher Fleiß und seine umfassende Kenntnis der historischen Lage und Akteure. Trotz der äußerst komplexen Sachverhalte, die Clark vermitteln muss, ist seine Darstellung immer klar strukturiert; die aufgrund der Aufteilung des Buches unvermeidlichen Redundanzen sind auf ein Mindestmaß beschränkt; alle zentralen Akteure werden auch an jenen Stellen verständlich, an denen sie sich auf den ersten Blick inkonsequent und selbstwidersprüchlich zu verhalten scheinen. Clark erzeugt im Leser die Illusion, er könne die Vernünftigkeit des Weltgeistes, die konsequent in das erste ungeheuerliche Gemetzel des 20. Jahrhunderts geführt hat, wenigstens für einen Augenblick begreifen. Dass dies notwendig eine Illusion ist, weiß Clark natürlich selbst:
Selbst wenn wir annehmen, dass kompakte Exekutiven mit einer einheitlichen und kohärenten Zielsetzung die Außenpolitik der europäischen Mächte vor dem Krieg formulierten und steuerten, wäre die Rekonstruktion der Beziehungen unter ihnen dennoch eine beängstigende Aufgabe, wenn man bedenkt, dass man die Beziehung zwischen zwei Mächten nie ganz verstehen kann, ohne auf die Beziehungen zu den anderen zu verweisen. Doch im Europa der Jahre 1903 bis 1914 war die Wirklichkeit sogar noch komplexer, als das »internationale« Modell vermuten lässt. [S. 315]
Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion über den Ursprung des Ersten Weltkrieges weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen Schüssen Gavrilo Princips an der Franz-Josephs-Straße. [S. 717]
Das Buch ist für das Verständnis des Prozesses, der zum Ersten Weltkrieg geführt hat, unverzichtbar; nach seiner Lektüre lässt sich weder die Frage nach der Kriegsschuld, noch die nach der Unvermeidlichkeit des Krieges noch sinnvoll stellen: Selbst ein so zögerlicher und eigentlich unwilliger Kriegsteilnehmer wie Großbritannien, das noch die besten Bedingungen dafür auswies, dem Großen Krieg auszuweichen, sieht sich schließlich dazu genötigt, dem allgemeinen Gang der Dinge nachzugeben und sich auf ein Unternehmen einzulassen, das am Ende aller politischen und militärischen Vernunft Hohn sprechen sollte. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich ernsthaft mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, selbst für jene, die seiner grundsätzlichen These von der überbordenen Komplexität des Prozesses prinzipiell skeptisch gegenüberstehen.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. München: DVA, 2013. Pappband, 895 Seiten. 39,99 €. (Es liegt inzwischen auch schon eine broschierte Ausgabe vor.)
P. S.: Die gleichnamige Romantrilogie Hermann Brochs, von der ich vermutete, sie habe zur Wahl des Titels geführt, scheint Clark gar nicht zu kennen; jedenfalls wird sie weder zitiert, noch im Literaturverzeichnis aufgeführt.
„Einmal mehr“
Wie belieben?
„Einmal mehr“ ist eine im Deutschen unlogische und insofern unmögliche Konstruktion, die aber bedauerlicherweise den Weg aus dem Englischen (once more) immer wieder hierher schafft. Denn „einmal mehr”, als ohnehin schon die Steigerung des verwendeten Komparativs hergibt, geht nunmal nicht. 🙂
Ja, stets wenn Logik und Sprache aufeinanderprallen, geht es bös’ für beide aus.
Es war schon spät, aber schön den Ball zurückgespielt.