Der Zahn der Zeit nagt freilich auch am Denkmalschützer selbst.
Der Österreicher Alois Brandstetter wurde mir im letzten Jahr in Wien empfohlen, als wir dort unter anderem über Schriftsteller wie Thomas Bernhard und Herbert Rosendorfer sprachen. Ich wurde auch gleich mit zwei Romanen Brandstetters ausgestattet, darunter „Altenehrung“ von 1983. Brandstetter war im Hauptberuf Professor für ältere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt, hat aber dennoch ein umfangreiches belletristisches Œuvre vorgelegt. Mir selbst war er bis im letzten Jahr vollkommen unbekannt, woraus ich aber nicht auf seine tatsächliche Bekanntheit schließen möchte; manchmal verpasst man auch einfach etwas. Andererseits könnte Brandstetter auch auf diese Weise ganz gut mit Herbert Rosendorfer zusammenpassen, der bis auf sein One-hit-wonder der „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ ebenfalls weitgehend ein Geheimtipp geblieben ist.
„Altenehrung“ (Betonung auf der ersten Silbe) ist die Ich-Erzählung eines alternden Kunsthistorikers, der in Klagenfurt als Denkmalschützer verbeamtet ist. Der Erzählanlass kommt im Buch erst relativ spät zur Sprache: Der Erzähler hat seine berufliche Karriere mit einem anarchischen Akt der öffentlichen Beleidigung seines Vorgesetzten beendet; dies wurde offensichtlich auch von seiner Frau dazu benutzt, ihn zu verlassen, so dass die Erzählung mehr und mehr als der Monolog eines grantelnden Alten erscheint, bis sie ganz zum Schluss eine merkwürdige Wendung ins Offene nimmt. Der Hauptgrund jener Beleidigung ist das Gefühl des Erzählers, bei der Beförderung ungerechterweise übergangen worden zu sein und einen zwar dienstälteren, aber inkompetenten und ungebildeten Kollegen vor die Nase gesetzt bekommen zu haben. Der Erzähler protzt durch den ganzen Text hindurch mit seiner umfangreichen Kenntnis lateinischer Spruchweisheiten – die er in den meisten Fällen aber freundlicherweise für die Leser gleich ins Deutsche übersetzt – und zeigt sich stolz auf seine bedeutendste wissenschaftliche Leistung: eine Sammlung von Inschriften vom Frühmittelalter bis zum 30-jährigen Krieg im Bundesland Kärnten. Schon darin hatte er in einer hinzuerfundenen lateinischen Inschrift eine Schmähung seines Vorgesetzten versteckt, was aber erst in Laufe seines Disziplinarverfahrens zutage gekommen ist.
Außer diesem Hauptstrang der Erzählung finden sich zahlreiche weitere Anlässe zur Unzufriedenheit: andere Denkmalschützer, die Jugend von heute (darunter sein eigener Sohn), die anderen Mitarbeiter im Amt, universitäre Gepflogenheiten, die allgemeine Unbildung, die alten Nazis (in den frühen 80ern noch nicht die neuen!) usw. In diesen Passagen klingt in Brandstetters Text zum Teil zu deutlich der Ton von Bernhards Prosa an, auch wenn die Bernhardsche Penetranz offenbar bewusst vermieden wird. Merkwürdig immerhin bleibt die Schlusswendung des Textes, die hier unerörtert bleiben mag.
Alles in allem ist Brandstetter eine positive Entdeckung: Unter den zahlreichen Bernhard-Epigonen der deutschsprachigen Literatur sticht er mit einer außergewöhnlich gepflegten Sprache und einer ungewöhnlichen literarischen Bildung hervor. Seine Sprache ist nur auf den ersten Blick unauffällig, erweist sich bei genauerem Hinsehen als exakt und differenziert; auch dadurch passt er gut mit Rosendorfer zusammen. Bei Gelegenheit werde ich eine Besprechung von „Die Burg“ (1986) nachliefern.
Alois Brandstetter: Altenehrung. Salzburg/Wien: Residenz, 1983. Leinenband, 140 Seiten. (Zuletzt im dtv-Taschenbuch; derzeit nicht lieferbar.)