Mephistopheles (gemüthlich).
Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist?
Baccalaureus.
Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.
Goethe, Faust II
Die Redaktion des Dudens kapriziert sich seit einiger Zeit darauf, unterkomplexe Antworten auf komplizierte Fragen zu drucken: Warum wir angeblich orthographisch korrekt schreiben oder warum wir eine politisch korrekte Sprache gebrauchen sollten und nun also, warum wir die Wahrheit sagen sollten. Das Buch ist wie seine Vorgänger allein schon wegen seines geringen Umfangs zum Scheitern verurteilt, in diesem Fall um so mehr, als es eine 2500 Jahre andauernde philosophische Diskussion aufheben muss, wenn es denn überhaupt nur eine Chance haben will, etwas Relevantes zum Thema beizutragen. Selbstverständlich tut es das nicht.
Es stellt eine nicht unerhebliche Ironie dar, wenn ein Autor, dessen Hauptkriterium dafür, wann ein Satz wahr ist, eine sehr flache Version der Korrespondenztheorie ist (in etwa: „Wahrheit bedeutet demnach, dass die gedankliche Vorstellung oder das, was man darüber sagt, mit der Wirklichkeit übereinstimmt.“ Das reiche „für das Leben und den Alltag“, so Erlinger), seine einleitenden Beispiele für die Fatalität der Lüge aus den Dramen Shakespeares bezieht, also aus einer fiktiven Konstruktion zum Zwecke der emotionalen Erregung des Publikums, die keinerlei Pendant in der Wirklichkeit aufweist, das sie „wahr“ machen könnte.
Aus philosophischer Sicht fehlen natürlich alle wichtigen Bestimmungen, also etwa, dass Wahrheit eine Eigenschaft von Aussagesätzen ist, was Aussagesätze sind, wie es ihre Benutzer schaffen, von ihnen auf die Stelle der Welt zu schließen, auf die sie schauen müssen, um festzustellen, ob die Aussagesätze wahr sind usw. usf. Auch gibt es keinerlei methodologische Differenzierungen, also keinerlei Reflexion darauf, dass logische, mathematische, naturwissenschaftliche, philosophische, juristische, historische oder theologische Methoden der Verifikation bzw. Falsifikation untereinander und von denen der Wahrheit „für das Leben und den Alltag“ durchaus massiv abweichen können. Es fehlt, wie oben schon angedeutet, jegliches Bewusstsein dafür, dass es systematische Bereiche des Lügens gibt, die in die gesellschaftliche Praxis problemlos eingebunden sind. Ja, es fehlt überhaupt, dass zu lügen wesentliche Teile der gesellschaftlichen Praxis ausmacht, eben nicht nur im Bereich der Politik, den Erlinger thematisiert, sondern etwa auch in der Werbung, im Journalismus, im zwischenmenschlichen Umgang als Höflichkeit, in der Erziehung zur Abweisung unangenehmer Fragen, Beschwichtigung irrationaler Ängste und Mythologisierung des Alltags (die sich dann in Religion, Esoterik und vielfältigen anderen Formen ins Erwachsenenleben hinein fortsetzt) etc. pp. Die umfassende Durchdringung der menschlichen Welt durch Unwahrheit, Illusionen, Phantasien und sonstige Verleugnungen oder Überschreibungen der Realität lässt Erlangers Grundthese, das Sagen der Unwahrheit zerstöre das Vertrauen in die zwischenmenschliche Kommunikation, so naiv erscheinen, dass man vielmehr geneigt ist, der gegenteiligen These Glauben schenken zu wollen, dass die Lüge überhaupt erst die zwischenmenschliche Kommunikation ermögliche und einer ihrer wichtigsten Grundpfeiler sei.
Natürlich kann man nicht erwarten, dass irgendwer ein bereits auf den ersten Blick so komplexes Thema auf 144 Seiten angemessen abhandelt. Aber was man erwarten darf, ist, dass er die Tinte hält, so er denn die Mühe der dialektischen Reflexion scheut.
Rainer Erlinger: Warum die Wahrheit sagen? Berlin: Dudenverlag, 2019. Pappband, 144 Seiten. 14,– €.
Diese Kritik mit dem Vorwurf der Unterkomplexität muss wahr sein. Denn die Rede des Rezensenten über das Buch deckt sich mit der Wahr-Nehmung des Lesers der Kolumne des Autors („Gewissensfrage im SZ-Magazin“). Der Autor hat sich eine oberflächliche Schein-Dialektik zu eigen gemacht, die gut im Feuilleton geht, aber weiter wahrlich nicht.
Danke für den Hinweis. Da ich keine Zeitungen lese, war mir der Herr bislang unbekannt. Sonst wäre es vielleicht an ihm vorübergegangen.