Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Auf dem Weg zu Swann

Es ist die Höflichkeit Prousts, dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als den Autor.

Theodor W. Adorno

Ich habe mich bislang mit dem Einstieg in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sehr schwer getan. Seit meiner Studienzeit (in der meine damalige Freundin den gesamten Zyklus in vergleichsweise kurzer Zeit komplett gelesen hat) sind mehrfache Anläufe zur Lektüre immer wieder gescheitert. Ich habe dafür zum einen der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens die Schuld gegeben, mit deren Deutsch ich mich nie recht anfreunden konnte, auch nicht nach der Überarbeitung der Übersetzung durch Luzius Keller; ich habe mich stets bemüht, aber wie der Dichter sagt: „Du hast nun die Antipathie!“ Und nun extra noch Französisch zu lernen, wäre doch ein zu fantastischer Einfall gewesen. Zum anderen bin ich immer erneut an dem mir nur schwer verdaulichen ersten Teil Combray gescheitert, dessen Handlungslosigkeit ich noch tolerieren konnte, dessen selbstverliebte Tendenz zu Klatsch und Tratsch ich aber nicht die ironische Distanz abgewinnen konnte, die Proust vermutlich dem französischen Text mitgegeben hat. Auch hier schien die Übersetzung wenigstens für mich nicht gut genug.

So habe ich es mit großer Freude gesehen, dass bei Reclam seit 2013 mit schöner Regelmäßigkeit die sieben Bände der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer erschienen. Die ersten Kritiken waren zwar nicht gut, da die meisten Kritiker aber zugleich die mir sprachlich widrige Rechel-Mertens lobten, derweil sie Fischer schmähten, hatte ich den unbelehrten Verdacht, dass diese Kritiken wenigstens an meiner zukünftigen Lektüre würden vorbeigeschrieben sein. Und so habe ich im vergangenen Jahr sehr, sehr langsam begonnen, endlich einen Einstieg in die „Recherche“ zu finden.

Combray

Auch in mir sind viele Dinge zerstört worden, von denen ich geglaubt hatte, sie währten ewiglich, und neue haben sich aufgebaut, die neue Schmerzen und Freuden hervorbrachten, die ich damals nicht hätte erahnen können, ganz so wie mir die alten schwer verständlich geworden sind.

Dieser erste der drei Teile des ersten Bandes liefert sowohl eine poetologische Hin- als auch eine praktische Durchführung des Grundthemas Erinnerung, das den gesamten Zyklus bestimmt. Der vorerst noch namenlose Ich-Erzähler beginnt mit den halb traumhaften Bewusstseins­zuständen beim Einschlafen über der abendlichen Lektüre im Bett, in denen sein Schlafzimmer in Combray, wo er die Sommer seiner Kindheit und Jugend zusammen mit seinen Eltern im Haus seiner Tante Léonie zugebracht hat, eine wiederkehrende Rolle spielt, und kommt dann zu dem berühmten Moment, als ihm der Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine die Erinnerung an die gesamte Zeit in Combray zurückbringt. Die sich anschließende Darstellung dieser Erinnerungen ist, wie bereits gesagt, weitgehend handlungsfrei und kreist um zahlreiche Motive: Klatsch und Tratsch seiner Tante über die Bewohner des Städtchens, die Hypochondrie der Tante, die seit Jahren die meiste Zeit im Bett zubringt, ihre Köchin Françoise und deren Hass-Liebe zur Tante, der Nachbar Swann und seine Tochter Gilberte, die erste Verliebtheit des Erzählers, seine frühen sexuellen Sehnsüchte, seine Lektüre und sommerliches Nichtstun, Spaziergänge in der Umgebung und die damit einhergehende Naturerfahrung, die Bewunderung von Kircharchitektur und -fenstern und auch das Interesse an historischen Figuren und der Sphäre des Adels, die der Erzähler vorerst noch als einen entrückten halb historischen, halb gesellschaftlichen Hintergrund empfindet.

Nun verstehe ich auf einer abstrakten Ebene sehr wohl, warum all das so gestaltet ist, und warum es zwar beliebig erscheint, angesichts des Grundthemas aber nur so sein kann, wie es ist, aber es ist mir bei der aktuellen Lektüre auch klar geworden, dass mein hauptsächliches Problem mit Combray nicht in der Übersetzung wurzelt, sondern dass mich die Figuren zu wenig interessieren. Es wird im letzten Drittel dieses ersten Teils besser, wenn das jugendliche Ich des Erzählers soweit herangereift ist, dass erste Reflexionen zur Natur und vage sexuelle Empfindungen auftauchen, doch das Provinzielle und insbesondere das Personal Combrays ist mir zu fad. Natürlich habe ich den Verdacht, dass dieser erste Teil im Rückblick bzw. bei einem zweiten Durchgang nach der Gesamtlektüre des Zyklus einen komplett anderen Eindruck machen wird. Dennoch stellt Combray für mich eine echte Hürde beim Einstieg in den Romanzyklus dar.

Eine Liebe von Swann

»Er ist ja nicht direkt hässlich, wenn Sie so wollen, aber auf irgendeine Weise lächerlich: dieses Monokel, dieses Toupet, dieses Lächeln!«

Es dürfte bekannt sein, dass es sich bei diesem zweiten Teil des ersten Bandes um einen Roman im Roman handelt: Im Zentrum steht die erste Zeit der Verliebtheit Charles Swanns, den wir aus Combray als alten Bekannten und Nachbarn der Familie des Erzählers kennen, in die junge Odette de Crécy, mit der er in Combray verheiratet ist und eine Tochter hat. Swann selbst ist gesellschaftlich ein Wanderer zwischen den Welten, stammt aus einer reichen jüdischen Familie, verlebt sein Erbe, arbeitet als freier Kunsthistoriker und verkehrt in allen gesellschaftlichen Schichten von Paris bis zu den sogenannten höchsten. Er ist ein Frauenheld, bevorzugt normalerweise junge Frauen aus der Arbeitsschicht, verschaut sich aber in Odette, auch wenn sie eigentlich nicht seinem Frauentyp entspricht.

Um sie regelmäßig sehen zu können, beginnt er im Salon des Ehepaars Verdurin zu verkehren, das sich mit einem kleinen Kreis aus Akademikern und Künstlern umgeben hat, zu dem auch Odette eher zufällig gehört. Odette lässt sich von diversen Männern aushalten und erweist im Gegenzug wohl auch regelmäßig Liebesdienste, was Swann aber für lange Zeit zu ignorieren versteht, bis es zu einer konstanten Quelle der Eifersucht für ihn wird, als er bei Odette aus der Rolle des Favotiten herauszufallen beginnt. Weder nach seinem Bildungsstand noch seinem sonstigen gesellschaftlichen Umgang passt Swann in den Kreis der Verdurins, so dass hier ein distanziertes Portrait des Großbürgertums entsteht. Ergänzt wird dieses gesellschaftliche Bild durch einen Abend bei der Marquise von Saint-Euverte, deren Einladung Swann nur folgt, um sich von seinem Unglück mit Odette abzulenken. Dieser künstlerische Abend – es wird ein junger Pianist vorgeführt – liefert eine bitterböse, detaillierte Satire der Hautevolee.

Die Erzählung – die interessanterweise offenbar ebenfalls vom Erzähler von Combray erzählt wird, der hier quasi als auktorialer Erzähler auftreten muss – endet, ohne dass der innere Konflikt Swanns, der Odette offensichtlich weiterhin liebt und sich zugleich in seiner Eifersucht nicht von ihr lösen kann, während sie längst zu anderen Männern weitergezogen zu sein scheint, aufgelöst wird. Die Leser erfahren nicht, wie es dazu gekommen ist, dass Swann Odette geheiratet hat, was ihn in den Augen seiner Nachbarn in Combray gesellschaftlich ruiniert hat, während Swann in Paris tatsächlich auch weiterhin in den höchstens Kreisen geschätzt wird und dort verkehrt.

Ländliche Namen: Der Name

… wenn eines Tages in diesem meinem allzu wohlbekannten, geringgeschätzten Leben Gilberte die ergebene Dienerin werden würde, eine praktische und bequeme Mitarbeiterin, die mir am Abend bei der Arbeit helfen und in meine Veröffentlichungen die Seitenzahlen eintragen würde.

Der dritte Teil des Romans erzählt in der Hauptsache von der Liebe des etwa 15-jährigen Ich-Erzählers zu Gilberte Swann, die er regelmäßig zu sportlichem Spiel in den Champs-Élysées trifft, während zwischen den beiden Familien der Jugendlichen kein gesellschaftlicher Kontakt mehr besteht. Ergänzt wird dieser Hauptteil durch eine Einleitung, die dem Teil seinen Titel gibt, in dem der Erzähler von seinen frühen Fantasien um Ortsnamen herum (Balbec, Florenz, Venedig) berichtet, und einer Art von Epilog, in dem das Hauptthema Erinnerung wieder aufgenommen wird und der Erzähler einen sentimentalen Blick auf Erinnerung an die Jahre seiner Jugend wirft:

Die Wirklichkeit, die ich gekannt hatte, gab es nicht mehr. Es genügte schon, dass Madame Swann nicht völlig unverändert im gleichen Augenblick erschien, und die Avenue war eine andere. Die Stätten, die wir gekannt haben, gehören nicht allein der räumlichen Welt an, in die wir sie der Einfachheit halber einbetten. Sie waren nur ein schmales Segment inmitten der zusammenhängenden Eindrücke, die unser damaliges Leben ausmachten; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur die Wehmut nach einem bestimmten Augenblick; und die Häuser, die Wege, die Avenuen, entfliehen, ach, wie die Jahre.

S. 584 f.

Wie schon gesagt ist dieser erste Teil der Recherche extrem handlungsarm; selbst Eine Liebe von Swann, in dem noch am ehesten so etwas wie eine traditionelle chronologische Entwicklung gefunden werden kann, ist zum Großteil gefüllt mit Reflexionen und Schilderungen innerer Zustände. Die Erzählung ist in allen Teilen sowohl inhaltlich als auch formal bewundernswert dicht, wenn auch nicht frei von Redundanzen. Es wird sich zeigen müssen, ob diese Art von Innerlichkeit über alle sieben Bände des Romans tragen wird.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2013. Leinen, Fadenheftung, 2 Lesebändchen, 694 Seiten. 29,95 €.

Wird fortgesetzt …

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