Warnung : »Überlegen Sie sich’s zwanzig Mal, ehe Sie irgend ‹Gesammelte Werke› kaufen ! Sie werden von selbst vorsichtiger, wissen Sie erst, daß Sie sich jedesmal mit einem kompletten Fremdleben, einem Superschicksal, belasten : mehr, als Sie bewältigen können. – Wer mehr als 1 Dutzend ‹Gesamtausgaben› besitzt, ist ein Charlatan ! – Oder aber : er hat sie nicht gelesen.«
Apodiktisch, wie wir ihn lieben, spricht hier Arno Schmidt ein hartes Wort über jene Buchlieberhaber aus, die nicht nur einen großen Teil der zu erübrigenden Zeit mit Lesen verbringen, sondern in deren Wohnungen sich die Bücherregale mit den Bildern um den Platz an den Wänden streiten und oft, zu oft gewinnen. Da wird ein neuer Autor entdeckt, und man deckt sich vorsorglich mal mit einer Werkauswahl oder eine ‹Gesamtausgabe› ein, denn es könnte ja sein, dass einen gleich morgen in aller Frühe, noch vor Öffnung der ersten Buchhandlungen oder Bibliotheken der ununterdrückbare Drang überfällt, Honoré de Balzacs »Das Alter einer schuldigen Mutter« zu lesen, und man hätte es nicht im Haus.
Deshalb als Gegengewicht zur ersten Shortlist und für alle, denen es ähnlich geht, hier als Klagegesang:
10 Autoren, für die ich gern mehr Zeit haben würde:
- Christoph Martin Wieland: Auch ich habe den Reprint in den goldenen Zeiten der Greno Verlages gekauft und brav die wichtigen Romane gelesen: »Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva«, »Die Geschichte des Agathon«, die unvergleichliche »Geschichte der Abderiten« und auch den anspruchsvollen »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Und dennoch bleibt das Bewusstsein, das da noch Bände um Bände von Schätzen zu heben sind.
- Jean Paul: Vielleicht die subjektiv schmerzlichste Lücke. Noch zu Schulzeiten habe ich nach ¾ der »Flegeljahre« aufgegeben, dann im Studium all die kleineren Sache gelesen, damit die Hanser-Werkausgabe wenigstens nicht ganz ungenutzt herumsteht, aber mir nie die Ruhe und Zeit genommen, die großen Romane durchzugehen.
- Thomas Pynchon: Gerade vor ein paar Tagen habe ich noch mit einem Freund darüber gesprochen, dass meine frühe Pynchon-Lektüre so lange her ist, dass ich mich kaum daran erinnere. Ich wäre schon neugierig, wie »Gravity’s Rainbow« heute, nach beinahe 30 Jahren auf mich wirken würde. In »Mason & Dixon« bin ich irgendwo in der Mitte stecken geblieben und »Against the Day« liegt seit dem Erscheinen unangetastet hier herum.
- Honoré de Balzac: Auch hier vermute ich, dass wahre Schätze zu heben sind, habe aber bis auf einige Inseln keinen blassen Schimmer, was der Kontinent der »Menschlichen Komödie« birgt.
- Heimito von Doderer: »Die Strudlhofstiege« war – wie bei so vielen – die »Einstiegsdroge«, und dann ist einfach immer wieder etwas dazwischen gekommen. Da muss noch einmal ganz von vorne begonnen werden.
- William Faulkner: Noch während des Studiums sind die blauen Bände des Diogenes Verlags ins Bücherregal gewandert und seitdem brav von Wohnung zu Wohnung mit umgezogen. Gelesen habe ich bislang einige Erzählungen, aber noch keinen einzigen der Yoknapatawpha-Romane, noch nicht einmal auf Deutsch. Statt dessen hat man irgenwann einmal den 10-bändigen Hemingway durchgelesen und ärgert sich heute über die verschwendete Zeit!
- Ludwig Tieck: Auch so ein Autor, bei dem man das Gefühl hat, nie an ein Ende kommen zu können, gleichgültig wieviel man auch immer von ihm gelesen hat. Wenn es nur wenigstens einmal die Novellen komplett wären …
- Marcel Proust: Da ist das Misstrauen gegen die deutsche Übersetzung der »Suche nach der verlorenen Zeit« die Hauptursache, dass ich beim ersten Versuch schon im Swann stecken geblieben bin. Vielleicht gelingt ein neuer Anlauf mit der überarbeiteten Fassung? Aber die Zeit, die Zeit …
- Johann Gottfried Herder: Auch so ein typischer Ausschnitt-Autor, also einer, von dem man immer nur die »Stellen« aufsucht und hier ein wenig in den »Ideen« schmökert und dort einige Seiten den »Briefen zur Beförderung der Humanität« folgt, sich aber nie zu einer gründlichen Lektüre entschließt, obwohl man weiß, dass von hier gewaltige Einflussströme ausgehen, denen man immer und immer wieder begegnet. Was einem allein bei Nietzsche alles auffallen könnte, wenn man Herder wirklich gründlich kennte, …
- Johann Wolfgang von Goethe: Ganz gleich, wieviel Goethe ich wie oft gelesen habe, das hört nicht auf …
Keine Damen?
Gute Frage! Ich muss gestehen, dass ich mir diese Frage beim Schreiben überhaupt nicht gestellt habe; die Auswahl war eher spontan nach einer raschen Durchsicht der Regale zustande gekommen. Aber auch heute fällt mir überhaupt nur eine »Dame« ein, die ins Schema passen würde: Marianne Fritz mit »Dessen Sprache Du nicht verstehst«, und ehrlich gesagt genügt es mir, wenn der weiterhin ganz oben auf dem Schrank steht. Ansonsten? Birgit Vanderbeke habe ich seit »Alberta empfängt einen Liebhaber« kontinuierlich begleitet, Libuše Moníková hat nicht genug geschrieben, um ins Schema zu passen, die ausführlichere Beschäftigung mit Ingeborg Bachmann ist noch nicht lange genug her, Emily Dickinson ist kein wirklich großes Leseprojekt. Also obwohl mir leicht noch einmal 10 Männer einfallen würden, hätte ich Schwierigkeiten auch nur 1 Alibi-»Dame« aufrichtigen Herzens zu nennen.
Sorry!
wie wäre es mit Simone de Beauvoir?
Na mindestens…
So weit von meiner Lesegeschichte entfernt, dass sich bislang gar keine Beziehungen eingestellt haben, in denen ich diese Lücke als Mangel erfahren hätte. Ähnlich geht es mir zum Beispiel mit Gertrude Stein.
Wieland und Jean Paul habe ich – nun, natürlich nicht „komplett“, aber doch ein ziemliches Stück weit gelesen. Aber: Alles wieder vergessen. So kommt es mir jedenfalls vor 8-(. Die beiden stehen auch ganz oben auf der „das müsste man eigentlich alles mal lesen“-Liste. Und ich muss mich nur mal kurz umdrehen um — mooment, was ist das– genau: Hildesheimer! Brecht! Döblin! Kafka! Schweigen wir ganz von Goethe … Selbst von Schiller kenne ich viel zu wenig. Da bleibt einem nur, sein „ars longa“ zu seufzen und tapfer weiterzulesen.
(btw – Die Mandarins von Paris hab ich ganz gern gelesen)
Oh ja, Hildesheimer, der wäre wichtig. Und dann ist mir gestern noch siedend heiß Canetti eingefallen – als ich den zu Schulzeiten gelesen habe, hat mich »Die Blendung« sofort begeistert, aber mit seinen Lebens-Erinnerungen konnte ich nur wenig anfangen; die müsste ich jetzt auch unbedingt nochmal lesen.
Als ich JPs »Titan« gelesen habe, war ich die ganze Zeit dankbar dafür, dass die Portionierung des Romans in Zykel das Schritt-für-Schritt-Lesen so erleichtert. Sonst muss man das eben selber machen und wie Jochen Schmidt bei seiner Proust-Lektüre aller 20 Seiten hart abbrechen. Schmidts neunmonatige blog-begleitete Großlektüre hat auf jeden Fall Maßstäbe gesetzt. Auch dass er diese Rubrik „Verlorene Praxis“ hatte, denn Google und Wikipedia verleiten ja dazu, dauernd abzuschweifen vom eigentlichen Romantext. Hat er absichtlich nicht gemacht & alles einfach nur festgehalten. Sonst würde er jetzt noch irgendwo auf Seite 1.000 rumhängen, hehe.
Shortlist-Vorschlag: X Autoren, mit denen man es zig Mal versucht hat, weil man „weiß“, die taugen, mit denen man dann aber ehrlicherweise doch nichts anfangen kann, wäre bei mir z. B. Balzac.