Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm

Anständiges Haus. Anständige Leute.

Adiga hatte mit seinem Erstling »Der weiße Tiger« einen weltweiten Erfolg gefeiert, besonders da ihm – völlig zu Recht – der Booker Prize für das Buch verliehen worden war. Adiga hat anschließend in kurzer Zeit zwei weitere Bücher vorgelegt. Eine so rege Produktivität weckt bei mir immer erst einmal den Verdacht, ein Autor (und zumeist auch sein Verleger) wollten mit Gewalt den Tages-Erfolg nutzen, doch »Letzter Mann im Turm« beweist, dass Adiga genug Substanz hat, um auch nach so kurzer Zeit einen guten Roman von mehr als 500 Seiten schreiben zu können.

Das Zentrum der Erzählung bildet eine Hausgemeinschaft in Mumbai, im südlich vom Internationalen Flughafen gelegenen Stadtteil Vakola, einer Gegend, die halb kleinbürgerliche Wohngegend, halb Slum ist. Vakola ist aber zugleich jenes Viertel, in dem sich die expandierende Baubranche ausbreitet: Hier werden zahlreiche Wohnanlagen mit teuren Luxuswohnungen errichtet, denen die alte Besiedlung weichen muss. So soll es auch der Wohngemeinschaft in den beiden Türmen der Vishram Society ergehen. Turm A, um den es im Buch hauptsächlich geht, wurde bereits Ende der 50er Jahre errichtet und beginnt schon, leicht marode zu werden. Doch seine Wohnungs-Eigentümer bildet eine funktionierende und zufriedene Gemeinschaft mit jahrelangen Bekannt- und Freundschaften und festen Ritualen. All dies ändert sich, als der Bauunternehmer Dharmen Shah den Plan entwirft, sein unternehmerisches Lebenswerk durch den Bau einer Wohnanlage genau auf dem Gelände der Vishram Society zu krönen. Er macht daher den Bewohnern ein Angebot, dass diese kaum ausschlagen können: Er ist bereit, ihnen für ihre Wohnungen etwa das Doppelte des Marktwertes zu zahlen, was pro Wohneinheit einem Betrag von ungefähr 236.000 € entspräche, was circa das 400-Fache des durchschnittlichen indischen Jahreseinkommens darstellt.

Wie immer in solchen Fällen sind die Meinungen zuerst geteilt. Allerdings lassen sich bald zwei, dann ein weiterer der vier Gegner des Verkaufs überzeugen. Letzter Mann im Turm  bleibt aber Yogesh Murthy, genannt Masterji, ein pensionierter Physik-Lehrer, der nach dem kürzlichen Tod seiner Frau allein in seiner Wohnung lebt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Der Bauunternehmer hat sein Angebot mit einem Ultimatum versehen, und je näher dieser Termin rückt, desto größer wird der Druck der Mitbewohner auf Masterji. Er durchläuft alle Grade von der geachtetsten zur geächtetsten Person im Haus. Und Adiga scheut auch nicht vor der letzten Konsequenz dieser Fabel zurück.

Das Buch braucht recht lange bis es bei seinem Thema angekommen ist. Danach bleibt – eventuell mit Ausnahme des Endes – alles im Rahmen des Normalen, Voraussehbaren, Erwartbaren. Und gerade darum scheint es Adiga zu gehen: Wie selbstverständlich ganz normale Menschen, die viele Jahren gut und solidarisch miteinander gelebt haben, all das vergessen und beginnen, einem, der nicht ihrem Willen folgt, ihre Entscheidung aufzuzwingen. Es ist genau diese Normalität, ja Banalität des Bösen, die schrittweise Entwicklung von anständigen Menschen hin zur Bereitschaft, einem eigentlich geschätzten, ja fast verehrten Mitbürger das Schlimmste nicht nur zu wünschen, sondern auch anzutun, um die es in diesem Buch geht. Es bedarf gar keines dämonischen Antreibers, um die ärgsten Verbrechen geschehen zu lassen, es bedarf nur eines gerüttelten Maßes an Eigeninteresse, um alle bürgerlichen und endlich auch mitmenschlichen Grenzen zu überschreiten. Und das alles lässt Adiga in der unmittelbaren Gegenwart und der handfestesten Realität Indiens spielen. Es ist daher alles andere als zufällig, dass der Roman immer wieder en passant auf die Welt der Bollywood-Filme als illusionärer Gegenwelt hinweist.

In diesem Sinne ist »Letzter Mann im Turm« eine konsequente Fortsetzung von »Der weiße Tiger«. Adiga zeigt einmal mehr die Gnadenlosigkeit und Grausamkeit der Wirklichkeit einer kapitalistisch bürgerlich verfassten Gesellschaft – nicht nur Indiens – auf. Dass er es mit solch einer erzählerischen Gelassenheit und scheinbaren Harmlosigkeit tun kann, macht seine Qualität aus.

Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm. Aus dem Englischen von Susann Urban und Ilija Trojanow. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, bedruckter Vorsatz, 515 Seiten. 19,95 €.

Paul Auster: Unsichtbar

978-3-498-00081-3Auster ist schlicht ein großer Routinier der literarischen Fiktion. Unsichtbar enthält im Wesentlichen zwei erzählerische Ebenen, von denen die eine eine Variation der klassischen Herausgeberfiktion darstellt. Im Zentrum des Romans steht der 20-jährige Adam Walker, der 1967 in New York Literatur studiert und Schriftsteller werden will. Er lernt auf einer Party Rudolf Born, einen Schweizer Gastprofessor seiner Universität, und dessen Freundin Margot kennen. Als er Born kurze Zeit später zufällig wieder trifft, macht dieser ihm ein außergewöhnliches Angebot: Born habe geerbt und wolle Geld in ein Projekt investieren, etwa eine literarische Zeitschrift. Ob Walker sich vorstellen könne, eine solche Zeitschrift zu leiten? Obwohl Walker misstrauisch ist, ob es sich nicht um einen Scherz handelt, entwickelt er ein Konzept für eine solche Zeitung, das von Born akzeptiert wird: Born will die Zeitschrift im ersten Jahr mit 25.000 $ finanzieren. Als Born kurz darauf für kurze Zeit nach Paris reist, beginnt seine Freundin eine Affäre mit Walker, die mit Borns Rückkehr endet. Born trennt sich allerdings daraufhin von Margot, auch weil er vorhat in Frankreich zu heiraten. An dem Plan mit der Zeitschrift ändert sich aber nichts: Als Walker Born das nächste Mal trifft, stellt der ihm einen Scheck über das erste Viertel der geplanten Summe aus. Als die beiden dann ausgehen, um etwas zu essen, werden sie von einem Schwarzen überfallen, den Born kurz entschlossen mit einem Messer niedersticht. Walker sucht das nächste Telefon, um eine Ambulanz zu rufen, doch als er zum Tatort zurückkehrt, sind Born und das Opfer verschwunden. Am nächsten Tag erfährt Walker aus der Zeitung, dass die Leiche eines Schwarzen entdeckt wurde, der mit zahlreichen Messerstichen getötet wurde. Am selben Tag findet er in seinem Briefkasten eine Drohung Borns, ihn zu töten, falls er zur Polizei gehe. Als Walker sich nach mehreren Tagen doch dazu entschließt, die Polizei zu verständigen, ist Born inzwischen nach Frankreich geflohen.

Soweit der erste von vier Teilen des Buchs. Im zweiten Teil erfährt der Leser, dass es sich beim ersten um einen Entwurf Walkers zum einem autobiografischen Roman handelt. Walker hat diesen Entwurf an einen ehemaligen Kommilitonen und erfolgreichen Autor, James Freeman, geschickt mit der Bitte, ihm schriftstellerisch etwas auf die Sprünge zu helfen, da er mit dem zweiten Teil nicht recht vorwärts komme. Freeman erfährt, dass der inzwischen 60-jährige Walker an Leukämie erkrankt ist und wahrscheinlich bald sterben wird. Er gibt Walker einige allgemeine Tipps und hält bald den zweiten Teil des Romans in Händen, der von den folgenden Monaten des Jahres 1967 erzählt: Walker arbeitet als Hilfskraft in der Universitätsbibliothek und hat außerdem eine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester, mit der er zusammenlebt. Dieses Verhältnis endet, als Walker ein Auslandsstudienjahr in Paris antritt.

Als Freeman nach der Lektüre des zweiten Kapitels Walker wie verabredet besuchen will, erfährt er, dass der kurz zuvor verstorben ist. Er hat Freeman aber den Entwurf des abschließenden dritten Kapitels hinterlassen. Wie zu erwarten ist, spielt der letzte Teil von Walkers Roman in Paris und bringt eine Wiederbegegnung sowohl mit Margot als auch mit Born. Die Ereignisse der wenigen Wochen, die Walker in Paris zubringt, nachzuerzählen, kann hier unterbleiben. Wichtig ist nur, dass Walker versucht, Borns geplante Eheschließung zu verhindern und auf diese obskure Weise den New Yorker Mord an dem Schwarzen zu rächen. Als Born Walkers Vorhaben erkennt, lässt er Walker kurzerhand wegen Drogenbesitzes festnehmen und ausweisen.

Im vierten und letzten Teil des Buches beschäftigt sich Freeman mit dessen Herausgabe, nachdem Walkers Schwester ihm dazu den Auftrag erteilt hat. Nachdem Freeman von ihr erfahren hat, dass zumindest die inzestuöse Beziehung frei erfunden ist, nutzt er seinen nächsten Paris-Aufenthalt, um zu recherchieren, wie viel von dritten Teil der Erzählung der Wahrheit entspricht. Und tatsächlich kann er eine der Figuren aus Walkers Roman identifizieren. Von ihr erfahren wir zum Abschluss auch von der weiteren Geschichte Rudolf Borns.

Auster beweist einmal mehr, dass die guten alten Muster der Erzählkunst immer noch wirksam sind: Herausgeberfiktion, Spannung zwischen den Ebenen der Fiktion und der fiktiven Wirklichkeit, Liebe, Sex and Crime, eine moralisch fragwürdige Haupt- und eine zwielichtige Nebenfigur – all das wird zu einem gut erfundenen, routiniert erzählten Unterhaltungsroman verarbeitet. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch leichter Hand Auster das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen seiner Fiktionen aufrecht erhalten kann. Für meinen persönlichen Geschmack war es in diesem Fall am Ende eine fiktionale Ebene zu viel, aber das mögen andere Leser anders empfinden.

Paul Auster: Unsichtbar. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Reinbek: Rowohlt, 2010. Pappband, Lesebändchen, 316 Seiten. 19,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (28)

Wisset derowegen, dass nicht durch langen Fleiss, sondern durch des Geistes Demut und Gebet und Reinigkeit des Herzens, nicht durch einen kostbaren Vorrat vieler Bücher, sondern durch einen reinen Verstand und Schlüssel der Wahrheit die Wissenschaft muss erlanget werden; denn die Menge der Bücher beschweret den Leser und machet ihn nichts klüger, und wer vielen Autoribus folget, der irret mit vielen.

Agrippa von Nettesheim

Vgl. auch: So verstau’ ich meine Bücher

Allen Lesern ins Stammbuch (25)

Das Publikum? Was sind das denn für Menschen? Was wissen sie schon? Die Vorstellung, die sich das Publikum von der Geburt eines literarischen Werks macht, entspricht haargenau, haargenau jener, die sich kleine Kinder von der Geburt eines Babys machen. Die meisten glauben, Bücher bringe der Storch.

Gilbert Adair
Blindband

Gilbert Adair: Blindband

978-3-406-57225-8 Ein inhaltlich konventioneller Krimi, dessen Besonderheit einzig und allein in der nahezu durchgehend dialogischen Behandlung des Stoffes liegt. Der erfolgreiche Schriftsteller Paul ist vor vier Jahren bei einem Autounfall entstellt worden und hat beide Augen eingebüßt. Nun hat er sich aber entschlossen, doch wieder ein Buch zu schreiben, eine Art autobiografisch unterfütterten Essay, dessen Hauptgewicht auf der Erfahrung seiner Blindheit liegt. Er holt sich zu diesem Zweck eine Schreibkraft ins Haus, John, der sich – wie der Leser früh zu ahnen beginnt – als seine Nemesis erweisen wird. Es soll hier natürlich nicht zuviel verraten werden, um niemandem den Spaß an der Lektüre zu verderben.

Ich habe mich zur Lektüre verführen lassen, da das Buch von Thomas Schlachter übersetzt wurde, der die von mir hier sehr gelobten Wodehouse-Übersetzungen für die Edition Epoca gefertigt hat. Da ich aber kein Krimi-Leser bin und zudem der artifizielle Erzählstandpunkt mir doch eher brüchig vorkam, habe ich mich bei der Lektüre herzlich gelangweilt. Auch die abschließende Pointe kam mir sehr konstruiert vor.

Gilbert Adair: Blindband. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. München: Beck, 2008. Pappband, 239 Seiten. 18,90 €.

Markus Werner: Festland

Virtuose Erzählung, die drei Zeitebenen miteinander verbindet. Protagonistin und Erzählerin Julia hat gerade ihr Studium abgeschlossen und ist anschließend in eine depressive Verstimmung geraten. Aus dieser befreit sie ein Anruf ihres Vaters, zu dem sie nur wenig Kontakt hat. Aufgewachsen ist sie nach dem Freitod ihrer Mutter bei den Großeltern, die den unehelichen Vater vom Leben Julias ferngehalten haben. Nun ist Julia aber neugierig auf die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Zeugung. Sie sucht daher ihren Vater auf und findet diesen ebenfalls von einer Depression befallen. Der Vater erzählt seiner Tochter nun die Geschichte seiner unerwiderten Liebe zu Lena, Julias Mutter, aus der Julia als Kind eines einzigen Beischlafs hervorgegangen ist. Als dritte Zeitebene tritt der eigentliche Erzählzeitpunkt hinzu, zu dem sich Julia im Haus ihres Vaters im piemontesischen Orta aufhält. Auf dieser Ebene wird von der Trennung Julias von ihrem Geliebten Josef, einem Mediziner, erzählt.

Mit Orta und dem nahen Sacro Monte di Varallo geraten die beiden scheiternden Liebesbeziehungen des Buches unvermittelt in die Nähe der gescheiterten Liebe Nietzsches zu Lou Andreas-Salomé. Dabei lassen sich nicht ohne weiteres allegorisierende Parallelen ziehen, sondern der Ort und die beiden Spiegelfiguren Andreas-Salomé und Nietzsche dienen eher als Vexierbild der erzählten Ereignisse.

Der Text präsentiert einen souveränen und artistischen Erzähler, dem es ohne große Schwierigkeiten gelingt, seine im Grunde recht simple Liebesgeschichte nicht nur durch eine komplexe Erzählstruktur anzureichern, sondern ihr durch die literarisch-biographische Unterfütterung zudem einen auf Anhieb interessanten assoziativen Hallraum mitzugeben. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es sich nicht erweisen könnte, dass hier letztlich die Trivialität – die ja wesentlich diejenige des Stoffs ist – mehr verschleiert als gehoben wird. Es mag aber auch sein, dass diese reklamierte Differenz am Ende nicht nachweisbar sein wird.

Markus Werner: Festland. dtv 12529. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 42003. 142 Seiten. 8,– €.

Aravind Adiga: The White Tiger

adiga_tiger Bemerkenswerter Erstling eines jungen indischen Autors, auf den ersten Blick eine Kombination aus Schelmenroman und monologischem Briefroman. Beim Ich-Erzähler bzw. Verfasser der »Briefe«, die vorgeblich als E-Mails daherkommen, handelt es sich um Balram Halwai, Sohn eines Rikscha-Wallahs aus der indischen Provinz, der nun als erfolgreicher Unternehmer in Bangalore lebt. Seine E-Mails sind an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao gerichtet, dessen Staatsbesuch in Indien unmittelbar bevorsteht. Ziel der E-Mails sei, dem Premier das Wesen freien Unternehmertums zu erklären, über das dieser sich angeblich in Bangalore unterrichten will.

Balram, der unter falschen Namen lebt, weil er wegen Mordes gesucht wird, präsentiert sich als ein Muster eines neuen indischen Unternehmertums. Seine Karriere beginnt, als es ihn aus seinem Dorf nach Delhi verschlägt, wo er zufällig eine Stelle als Fahrer im Haushalt eines seiner ehemaligen Grundherrn erhält. Er wird schließlich Fahrer des westlich beeinflussten, liberalen Sohnes der Familie, den er eines Tages ermordet, um mit 700.000 Rupien, die als Bestechungsgeld für die Regierung vorgesehen waren, nach Bangalore zu fliehen. Balram eröffnet dort ein Taxiunternehmen, besticht die örtliche Polizei, um sich einige Konkurrenten vom Hals zu schaffen, und etabliert sich als zwar korrupter, doch zugleich »moralischer« Mittelständler.

Die überraschende, aber überzeugende Erzählstrategie des Buches, seinen inzwischen zynischen Protagonisten sein Leben und seine private »soziale Revolution«, d. h. den Mord an seinem Brotherrn, in der Ich-Form erzählen zu lassen, erzeugt eine reizvolle ironische Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Und dass das Buch von seinen humoristischen und pittoresken Anfängen ausgehend am Ende bei einem tief schwarzen und pessimistischen Bild des heutigen Indien ankommt und aus seinem armseligen, naiven Narren einen »modernen« Geschäftsmann mit der Moral eines Mafiapaten macht, der den Tod zahlreicher Familienmitglieder als Folge seiner »Karriere« billigend in Kauf nimmt, ist eine überzeugende und nur konsequente Schlusspointe. Ein Schriftsteller geringeren Rangs  wäre hier in die Harmlosigkeiten eines letztlich unverbindlichen Humors ausgewichen – sapienti sat.

Ein mutiger Erstling eines Autors, den man nicht aus den Augen verlieren sollte. Das Buch hat in diesem Jahr den renommierten und verlässlichen Booker Prize gewonnen. Eine deutsche Übersetzung von Ingo Herzke ist gerade bei C. H. Beck in München erschienen.

Aravind Adiga: The White Tiger. New York u. a.: Free Press, 2008. Pappband, Fadenheftung, Buchblock mit Büttenkante vorn, 276 Seiten.  Ca. 15,– €.

Beowulf

beowulf Der Insel Verlag hat pünktlich zur Verfilmung des Beowulf eine Prosaübersetzung des altenglischen Textes durch Gisbert Haefs vorgelegt. Haefs arbeitet auf der Grundlage der Versübertragung von Martin Lehnert, erfindet aber einen Prolog hinzu, in dem das Manuskript des Beowulf von einem Klosterschreiber an seinen Bruder übersandt wird, um es vor dem Zugriff des Abtes zu schützen, der eine frühere Fassung des Textes habe vernichten lassen, da sie zu unchristlich geraten sei. Haefs versucht mit diesem Prolog, die christlichen Elemente des Textes – z. B. die Deutung Grendels als eines Nachkommens der Sippe Kains – als eine spätere, dem eigentlichen Text sekundäre Schicht zu markieren, die der Leser als verfälschende Überlagerung und unzulässige Aneignung des Stoffes wahrnehmen soll. Man mag dazu stehen, wie man will, muss aber wohl anmerken, dass Haefs antiklerikaler und wahrscheinlich auch antichristlicher Impetus nicht viel besser ist als die von ihm markierte Usurpation des Stoffes.

Man kann Haefs Übertragung zugutehalten, dass sie eine knappe und zeitgemäße Version des Stoffes präsentiert, die bei aller rhetorischer Lakonie – viel Formelhaftes der Vorlage wird einfach weggelassen – nicht auf einen markanten Ton und eine elegante, deutlich rhythmisierte Prosa verzichtet. Insoweit eignet sie sich wahrscheinlich für die meisten Leser, die vorerst einmal an der stofflichen Ebene interessiert sind, besser als andere Übertragungen für eine erste Bekanntschaft. Später lässt sich dann ja immer noch auf eine der dem Original näherstehenden Übersetzungen zurückgreifen.

Das Epos selbst ist recht fragmentarischer Natur und erzählt zwei Episoden aus dem Leben des Gauten-Königs Beowulf: Seinen Kampf mit dem Monster Grendel und dessen Mutter und seinen letzten, für ihn tödlich verlaufenden Kampf gegen einen Drachen. Ansonsten werden viele Humpen Bier getrunken und weitere Heldengeschichten zum Besten geben – wie man sich bei Heldens daheim eben so zu unterhalten pflegt: »Weißt Du noch, wie wir damals beim alten Finn die Met-Halle unter Blut gesetzt haben?« Dem Text fehlt eine unheldische Ebene beinahe komplett; nur bei den seltenen Auftritten von Frauen lässt er wenigstens erahnen, dass es noch mehr als Schwertschwingen, Monstererschlagen und Biersaufen im Leben geben könnte. Es scheint mir daher mehr als verwegen, wenn diese altenglische Rabaukengeschichte in einem Atemzug etwa mit Homers Epen genannt wird. Die derzeitige Aufmerksamkeit ist wohl eine Folge der wieder einmal ausgebrochenen Tolkien-Hysterie, da der Autor des Lord of the Rings für die Überbewertung dieses Textes maßgeblich mitverantwortlich ist.

Beowulf. Übertragen von Gisbert Haefs. it 3306. Frankfurt/M.: Insel Verlag, 2007. 136 Seiten. 7,00 €.

Tipp zum Fest

Wenn man an Weihnachten in der hl. Messe neunerlei Holz schneidet und es mit der Hand so vor Augen hält, daß man dadurch hinaussehen kann, so werden alle Hexen kennbar; man erkennt sie daran, sie haben alle Melkeimer auf dem Kopf, rückwärts in den Bänken stehend. Man muß sich aber gleich nach der hl. Messe aus der Kirche machen, sonst verfolgen einen die Hexen und thun einem Uebles an.

Birlinger/Buck
Sagen, Märchen und Aberglauben

Probieren Sie’s nur aus!