Und das ungeheuerliche Russland, unwahrscheinlich wie eine Herde bekleideter Läuse, stapfte in Bastschuhen zu beiden Seiten des Waggons.
Zum schönsten in einem langen und kontinuierlichen Leseleben gehören jene Momente, in denen man unvorbereitet auf einen Autor stößt, der einem ganz neu und ursprünglich ein Vergnügen bereitet, mit dem man schon lange nicht mehr gerechnet hatte. Meine Lektüre von Isaak Babels Erzählungen ist ein solcher Glücksfall. Natürlich kannte ich Babel dem Namen nach, wusste auch, dass er in der DDR viel gelesen wurde, aber ich war nie zufällig so an einem seiner Bücher vorbeigekommen, dass es mich im Augenblick gereizt hätte, ihn kennenzulernen. Erst die jetzt erschienene Neuausgabe seiner sämtlichen Erzählungen bei Hanser hat mich verführt.
Im Zentrum des Bandes steht Babels Erzählzyklus „Die Reiterarmee“ in der Übersetzung Peter Urbans, die – mit wenigen Änderungen – aus der Ausgabe der Friedenauer Presse von 1994 übernommen wurde. „Die Reiterarmee“ enthält Babels Erzählungen aus dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920, an dem er als Kriegsjournalist teilnahm, nachdem er zuvor schon im Ersten Weltkrieg und dem nachfolgenden russischen Bürgerkrieg als Soldat und Reporter gedient hatte. Babels Erzählweise ist zumeist denkbar knapp und unemotional, dann aber immer wieder durchsetzt mit kurzen, nahezu lyrischen Naturbeschreibungen, ohne dass die Texte dadurch ihre Stimmigkeit verlieren würden. Babel versucht an keiner Stelle ein historisches oder auch nur geschlossenes Bild des Krieges zu liefern; er konzentriert sich im Gegenteil auf Anekdoten, von denen durchaus nicht jedesmal klar wird, wo sie in der Chronologie der Ereignisse zu verorten sind. Kriegselend, Euphorie der Attacke und Streitereien unter den Soldaten, hohe Kriegsziele und Orientierungslosigkeit, Geistliche, Künstler, Bettler und Generale, Juden und Christen, Polen und Russen treffen unvermittelt aufeinander, Verständnis, Missverständnis und Tod wechseln sich unvorhersehbar ab und der Erzähler Ljutov – Babels eigener Nom de guerre – scheint kaum hinterherzukommen mit seinen Notizen.
Um diesen Kern herum finden sich in vier Teilen alle anderen Erzählungen Babels in der Übersetzung von Bettina Kaibach. Man muss ihr das Kompliment machen, dass es ihr tatsächlich gelungen ist, einen Ton für ihre Übersetzung zu finden, der kaum eine Diskrepanz zu dem Urbans erkennen lässt. Natürlich sind Babels Erzählungen aus Odessa stofflich oft leichter und in weiten Teilen humoristischer als die der „Reiterarmee“, aber Kaibach trifft wie Urban die lakonisch-lyrische Spannung der Texte vortrefflich. Der „Reiterarmee“ voran gehen die beiden Sammlungen „Die Geschichte meines Taubenschlags“ und die „Geschichten aus Odessa“, wobei dieser Zyklus und die Sammlung „Die Reiterarmee“ um einige zugehörige Texte ergänzt werden. Nachgestellt sind zwei Gruppen von Erzählungen, die Babel nicht selbst gesammelt hat und die der Chronologie der Entstehung nach geordnet wurden. Besonders die frühen, noch recht konventionellen Erzählungen machen deutlich, wie Babel schließlich zu seinem eigenen, knappen und lakonischen Ton gefunden hat.
Wie bereits oben gesagt, hat mich seit Langem kein Erzähler mehr so auf Anhieb überrascht und überzeugt. Babels Erzählungen präsentieren eine ganz und gar eigenständige und originelle Sicht auf die Welt, sie zeigen eine Wirklichkeit, die sich in dieser Präzision wohl schwerlich anderswo wird finden lassen, wenn sie sich überhaupt finden lässt. Eines jener wenigen Bücher, die tatsächlich ein Stück Welt bewahren!
Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 863 Seiten. 39,90 €.