Jahresrückblick 2022

Das Jahr 2022 war ein etwas durchschnittliches Lektüre-Jahr, sowohl was die Menge der gelesenen und hier besprochenen Bücher angeht als auch nach deren Qualität. Wirklich negative Ausreißer gab es aber keine; es hat sich auch in diesem Jahr die Tendenz bei mir verfestigt, nur noch tote Autoren zu lesen, und der Anteil des Wiedergelesenen hat sich, so wenigstens mein ungeprüfter Eindruck, erhöht.

In der Erinnerung stechen hervor:

  • Gogols Tote Seelen, die in der Übersetzung von Vera Bischitzky sich als überraschend frisches Buch erwiesen.
  • Thomas Manns Der Erwählte, der seit über 40 Jahren zu meinen liebsten Büchern gehört.
  • Die beiden abschließenden Teile von Anthony Burgess The Malayan Trilogy in der Übersetzung von Ludger Tolksdorf.
  • Und – noch kurz vor Toresschluss – Joseph Conrads Lord Jim in der neuen Übersetzung von Michael Walter; wahrscheinlich der Höhepunkt dieses Lesejahres.

Anthony Burgess: Betten im Orient

Plötzlich, während er mit einem Streichholz nach den aufgequollenen Zigarettenkippen im Wasser des Aschenbecher stocherte, erschien ihm all dies als romantisch – der letzte Legionär, seine Einsamkeit, die aussichtslose Sache wirklich aussichtslos –, und instinktiv zog er den Bauch ein, strich sich, um den nackten Teil der Kopfhaut zu bedecken, übers Haar und wischte sich den Schweiß von den Wangen.

Der abschließende Teil der Malayan Trilogy erschien nur ein Jahr nach Der Feind in der Decke und schließt ohne präzise Zeitangabe an die Handlung des vorherigen Teils an. Die Handlung erstreckt sich nur wenig über den Unabhängigkeitstag der Föderation Malaya, den 31. August 1957 hinaus. Von einer konkreten, zusammenhängenden Handlung lässt sich in diesem Buch noch weniger sprechen als in den beiden vorhergehenden Teilen, das Figurenensemble ist noch lockerer miteinander verknüpft und der Protagonist Victor Crabbe erscheint nur noch als eine Figur unter anderen. Er ist nominell immer noch Leiter der staatlichen Schulbehörde des fiktiven Kleinstaates Negeri Dahaga, doch besteht seine Hauptaufgabe darin, seinen malaysischen Nachfolger einzuarbeiten und von diesem als Trouble Shooter benutzt zu werden. Als privates Projekt versucht er, dem jungen chinesischen Komponisten Robert Loo zum Durchbruch zu verhelfen, der allerdings parallel dazu eine erhebliche Wandlung durchläuft und schließlich ganz anders endet, als Crabbe sich das gewünscht hätte.

Parallel dazu werden die Geschichten einer außergewöhnlich gut aussehenden Lehrerin erzählt, die verzweifelt einen Traumprinzen zum Heiraten sucht, eines Polizei-Schreibers, der aus seinem Job gedrängt wird und den dafür verantwortlichen Kollegen mehrfach verprügelt, seines Sohns, der mit drei Freunden an einer versuchten Erpressung nur knapp vorbeischliddert, eines muslimischen Tierarztes, der versucht die Lehrerin zu heiraten, um den Heiratsplänen seiner Mutter zu ergehen, der gesamten malaysischen Gesellschaft, die von tiefen Vorurteilen der ethnischen Gruppen untereinander geprägt ist und schließlich auch der abziehenden Engländer, die durch US-Amerikaner ersetzt werden, um Malaya nicht den kommunistischen Revolutionären zu überlassen; viel Stoff für knapp 240 Seiten. Das Buch klingt aus mit einer milden Parodie auf Heart of Darkness, die die finale Bedeutungslosigkeit Victor Crabbes manifestiert.

Der Titel ist natürlich eine Anspielung auf Shakespeares Antony and Cleopatra, wobei das Zitat selbst mehrfach in Der Feind in der Decke vorkam, hier aber bis auf den Titel wohl absichtlich komplett fehlt. Man kann in dieser Trilogie bereits Burgess’ spätere, sehr souveräne Erzähler vorausahnen, ja es gibt bereits eine Stelle, wo sich der Autor erlaubt, die Leser direkt anzusprechen.

Ein in seiner gewollt musivischen Form sehr gelungener Ausklang dieses erstaunlich welthaltigen Erstlings.

Anthony Burgess: Betten im Orient. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  241 Seiten. 34,– €.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke

Bei Allah, seine Gläubiger waren hinter ihm her, oder ein Beilschläger, oder vielleicht seine Ehefrau. Im Orient ist die Auswahl begrenzt.

Der zweite Teil der Malayan Trilogy erschien 1958, zwei Jahre nach Jetzt ein Tiger. Die Handlung beginnt am 12. Februar 1956 als der Protagonist Victor Crabbe zusammen mit seiner Frau Fenella noch weiter in den Norden Malayas fliegt, um dort eine Stelle als Schulrektor anzutreten. Fenella ist etwas angekratzt, da sie am selben Tag erfahren hat, dass Victor eine Affäre mit einer Malaiin hatte, was ihren Drang, nach England zurück zu wollen, nicht gerade reduziert.

In Kenching, der Hauptstadt des fiktiven Staates Negeri Dahaga, erwartet sie niemand am Flughafen. So schlagen sich die Crabbes allein zur Stadt durch, wobei sie unterwegs zufällig auf Rupert Hardman treffen, einen alten Studienkollegen Victors, der sich in Kenching mehr schlecht als recht als Anwalt durchschlägt und der die zweite Hauptfigur des Romans werden wird. Hardman setzt sie am Haus von Victors Vorgesetztem Talbot ab, wo sie zuerst dessen Frau Anne kennenlernen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf der Handlung spielen wird.

Wie bereits im ersten Band werden auch diesmal mehrere Erzählstränge parallel erzählt: Victor Crabbe hat mit seinem Vizerektor zu kämpfen und steht außerdem im Zentrum des lokalen Klatsches. Er beginnt eine Affäre mit Anne Talbot, die ihn als einen von zwei möglichen Kandidaten für einen Ausstieg aus ihrer Ehe betrachtet. Fenella wird von einem malaiischen hohen Beamten umworben, was sie zu ganz ungekannten Höhen des Selbstbewusstseins führt. Rupert Hardman heiratet die reiche Witwe Normah, um seine finanziellen Probleme überwinden und sich endlich selbstständig machen zu können. Dass er zu diesem Zweck Muslim werden muss, nimmt er vorerst billigend in Kauf, es wird aber eine ärgere Belastung für ihn, als er erwartet hatte. Schließlich plant er seine Flucht aus Malaya und vor seiner Ehefrau auf einer Pilgerreise gen Mekka. Und noch einige andere Nebenstränge werden verfolgt.

Burgess, der zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon die komplette Trilogie konzipiert hatte, bekommt zum Ende des zweiten Bandes gerade noch ein etwas vages Gleichgewicht als Abschluss hin: Victor steigt als Nachfolger Talbots zum Chef des Schulamtes auf; es gelingt ihm zudem durch einen unfreiwilligen Akt des Heldentums die Gerüchte um seine kommunistische Gesinnung zu widerlegen. Zwar hat ihn Fenella verlassen, aber nach einem Durchgang durch Depression und Krankheit scheint er auch diesen Schlag überwunden zu haben. Derweil geht Malaya immer rascher seiner Unabhängigkeit und damit Victor seiner Überflüssigkeit entgegen.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  216 Seiten. 32,– €.

Wird fortgesetzt …

Anthony Burgess: Jetzt ein Tiger

Weißt du, die Wirklichkeit ist immer langweilig, aber wenn wir einsehen, dass sie alles ist, was wir haben – dann hört sie wundersamerweise auf, langweilig zu sein.

Bei Jetzt ein Tiger (Time for a Tiger) handelt es sich um Burgess’ ersten Roman, der 1956 erschien. Er bildet den Auftakt zur sogenannten Malayan Trilogy, deren übrige Bände bis 1959 herausgebracht wurden. Seitdem wurden sie in allen englischen Ausgaben nur noch zusammen gedruckt und haben den Übertitel The Long Day Wanes (Der lange Tag schwindet) bekommen. Alle drei Romane sind jeweils etwa 200 Seiten stark, so dass sie zusammen einen ganz ansehnlichen Band ergeben. Zusammengehalten werden sie durch den gemeinsamen Protagonisten Victor Crabbe, einen Engländer, der in Malaya (dem Vorgängerstaat des heutigen Malaysia) als Lehrer die letzten Jahre der britischen Herrschaft (1955–1957) erlebt.

Crabbe ist verheiratet, etwas unglücklich, da seine Frau Fenella nach Europa zurück will und er sich Vorwürfe macht, sie nicht genug zu lieben, wenigstens weniger als seine erste Frau, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, bei dem Crabbe am Steuer saß. Er ist Lehrer an einer englisch geprägten Privatschule im Norden Malayas und ist bei seinen Schülern ebenso beliebt wie bei der Schulleitung unbeliebt. Crabbe unterrichtet Geschichte und ist sich der prekärer politischen Lage Malayas bewusst: Im Dschungel drohen kommunistische Terroristen, die von China unterstützt werden, mit dem Umsturz des Staates, die soziale Spanne zwischen Ober- und Unterschicht ist erheblich und die diversen Ethnien und Religionen (Malaien, Chinesen, Inder und Europäer bzw. Moslems, Buddhisten, Hindus und Christen) hegen solide Vorurteile gegeneinander, was auch den Schulalltag nicht eben leichter macht. Am Ende von Jetzt ein Tiger wird Crabbe die Schule verlassen und an die Ostküste der malaiischen Halbinsel wechseln.

Neben Crabbe, der, wie gesagt, die Trilogie als Protagonist zusammenhält, gibt es in Jetzt ein Tiger weitere Hauptfiguren: Den ewig betrunkenen Polizei-Leutnant Nabby Adams, der ständig auf der Suche nach dem nächsten Tiger ist – einer bis heute in Südostasien beliebten Biermarke – und den in halbwegs nüchternem Zustand die Liste seiner untilgbar erscheinenden Schulden plagt. Und seinen Sancho Pansa Alladad Khan, der – ähnlich unglücklich verheiratet wie Crabbe – heimlich in Crabbes Frau verliebt ist und im Laufe des Buches für einen Moslem erstaunliche Mengen Alkohol konsumiert. Dieses Trio (bzw. Quartett, wenn man Fenella mit dazu zählt) ist umringt von einer ganzen Schar von schrägen und interessanten Nebenfiguren: Dem schwulen, aber verheirateten Koch der Crabbes, dem ebenso überforderten wie cholerischen Schulleiter Boothby, einem jungen chinesischen Schüler, aus dem weder Crabbe noch Boothby richtig schlau werden, einem Kollegen Alladad Khans, den Khan um dessen Kenntnisse der englischen Sprache beneidet, Crabbes malaiischer Geliebten, die versucht sich an ihm mit Gift zu rächen, als er sie verlässt usw. usf.

Eine Handlung hat das Buch zwar, aber es lohnt kaum, sie nachzuerzählen. Seine Qualität bezieht das Buch vielmehr aus der Beschreibung des Lebens, der Konflikte, der Bestrebungen, Hoffnungen und Träume seiner Protagonisten. Für die nur gut 200 Seiten, die das Buch umfasst, ist es erstaunlich welthaltig und liefert mit seinem Gemisch aus englischen und malaiischen Dialogen (auf die Wiedergabe des von Adams und Khan gebrauchten Urdu verzichtet Burgess glücklicherweise) einen sehr lebendigen Ausschnitt dieser malaiisch-britischen Welt. Für einen Erstling ein ganz erstaunlich reichhaltiges Buch.

Die deutsche Übersetzung habe ich nur stichprobenartig geprüft, und sie hat sich an allen Stellen bewährt. Auch schwierige Stellen sind durchaus witzig gelöst – so heißt Adams Hündin Cough im Deutschen Issdich – und mit der Entscheidung, die malaiischen Passagen unübersetzt ins Deutsche zu übernehmen – Burgess hat ein Glossar erstellt, das natürlich ebenfalls übersetzt wurde –, hat man dem Buch seine sprachliche Vielfalt belassen.

Es ist zu hoffen, dass dieses überraschend gute Buch auf genügend Interesse stößt, dass sich Verlag und Übersetzer entschließen können, auch die beiden übrigen Teile der Malayan Trilogy ins Deutsche zu transportieren.

Anthony Burgess: Jetzt ein Tiger. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2019. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  231 Seiten. 26,– €.

Wird fortgesetzt …

Anthony Burgess: Earthly Powers

Toomey offers this bulky but overpriced novel as an elected swansong.

Burgess Earthly PowersDieser Roman stand seit Mitte der 80er Jahre ungelesen in meinem Bücherschrank. Ich hatte damals – angeregt durch einen Kommilitonen – eine kurze Phase der Burgess-Begeisterung, konnte mich dann aber doch nicht dazu aufraffen, mich durch die 650 Seiten dieses Romans zu beißen. Wahrscheinlich hätte er mir damals auch nicht so viel Vergnügen gemacht wie heute, einfach deshalb, weil mir viele der Anspielungen entgangen wären.

Ich-Erzähler ist der über 80-jährige britische Schriftsteller Kenneth M. Toomey, der zur Jetzt-Zeit des Romans – Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts – in Malta lebt, um der Besteuerung in England zu entgehen. Toomey war über die Ehe seiner Schwester verwandt mit Carlo Campanati, Papst Gregor XVII., der in der fiktiven Welt des Romans 1958 als Nachfolger Pius’ XII. gewählt wird. An seinem 81. Geburtstag erhält Toomey einen Besuch des Erzbischofs von Malta, der ihn bittet, im Heiligspechungsverfahren Gregors als Zeuge aufzutreten, da er eine vorgebliche Wunderheilung durch den damals noch als Exorzisten wirkenden Carlo miterlebt habe. Dies liefert den Anstoß dazu, dass Toomey sein Leben ab dem Jahr 1916 erzählt, was die Hauptmasse des Romans bildet. Auftakt der pseudoautobiographischen Erzählung bildet Toomeys innere Lossagung von der katholischen Kirche, die seine Homosexualität nur als Sünde begreifen kann. Toomey ist eines von drei Kindern aus einer britisch-französichen Ehe und im Glauben seiner Mutter erzogen worden. Er ist bereits zu Anfang der Autobiographie als Schriftsteller tätig. Sein erster Roman ist zwar kein großer Erfolg, doch gelingt ihm der Durchbruch als Bühnenautor mit einigen leichten Komödien. Als eine Affäre mit einem verheirateten Schauspieler publik wird, flieht Toomey vor einer drohenden Strafverfolgung aus England; in Italien lernt er wenig später zufällig die Brüder Carlo und Domenico Camapanati kennen. Carlo ist damals bereits ein ambitionierter Geistlicher, während Domenico ein mittelmäßig begabter Musiker ist, der mit einer Oper Erfolg zu haben hofft. Toomey soll ihm das Libretto dazu schreiben; die Oper wird zwar kein Erfolg, doch Domenico und Kenneth’ Schwester Hortense werden ein Paar und heiraten.

Der weitere Roman verfolgt nun in der Hauptsache die Karrieren dieser vier Familienmitglieder des Toomey-Campanati-Clans sowie der beiden Kinder von Hortense und Domenico. Ihre gewöhnlich ungewöhnliche Familiengeschichte liefert Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Kultur der USA, insbesondere Hollywoods, dem Nationalsozialismus – Toomey durchleidet mehrfach unfreiwillige Verwicklungen –, der katholischen Kirche und der Schriftstellerei als Beruf und Geschäft. All das ist witzig und intelligent gemacht, liefert aber trotz Ausflügen nach Asien und Afrika durchaus nicht das große, umfassende Bild der Welt des 20. Jahrhunderts, das dem Buch manchenorts zugeschrieben wird. Es ist viel eher als eine vielfach gebrochene, in weiten Teilen uneitle Selbstbespiegelung des alten Burgess’ zu lesen, woran auch die dem Protagonisten zusätzlich aufgepfropfte Homosexualität nichts ändert.

Ich habe mich anlässlich dieser Lektüre gefragt, ob Burgess in Deutschland noch gelesen wird. Soweit der Buchmarkt einen Hinweis gibt, scheint das nicht so zu sein: Zwar sind die Übersetzungen von “A Clockwork Orange” (dies sogar in zwei Übersetzungen) und “Earthly Powers” („Der Fürst der Phantome“) sowie der lesenswerten Einführung in das Werk von James Joyce – der naturgemäß auch in “Earthly Powers” prominent vertreten ist – “Here Comes Everybody” (zuletzt 2004 als „Joyce für Jedermann“ im Suhrkamp Taschenbuch) noch lieferbar, aber alles andere scheint vergessen zu sein und das, obwohl Burgess in bedeutender Breite ins Deutsche übertragen wurde.

Da mir “Earthly Powers” einiges Vergnügen bereitet hat, wird hier sicherlich in Zukunft noch der eine und andere Hinweis auf Bücher von Burgess folgen.

Anthony Burgess: Earthly Powers. New York u.a.: Penguin, 51983. Broschur, 649 Seiten. Lieferbar als Vintage Classic für ca. 27,– €.

George Orwell: 1984

Zur Wiederlektüre nach über 20 Jahren bin ich auf etwas verschlungenem Weg gekommen: Als ich mir die die Verfilmung des »Merchant of Venice« durch Michael Radford anschaute und mich zu erinnern versuchte, ob ich schon jemals einen anderen Fim dieses Regisseurs gesehen hatte, stellte ich überrascht fest, dass er auch für die Verfilmung von »1984« verantwortlich war. Ich habe dann zuerst den Film nach 22 Jahren noch einmal angeschaut und dann, neugierig wie nah am Buch die Verfilmung wohl sein möchte (sie ist erstaunlich nah am Buch!), das ebenfalls 22 Jahre alte und noch ungelesene Taschenbuch mit der Übersetzung durch Michael Walter aus dem Regal gezogen. Ich hatte noch zu Schulzeiten die ältere Übersetzung von Kurt Wagenseil gelesen, dann im Jahr des Titels brav die neue Übersetzung gekauft, eingestellt und seitdem von Mal zu Mal mit umgezogen.

Weit besser hätt’ ich doch mein weniges verpraßt,
Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

Nun aber zum Buch: Wiedergefunden habe ich nicht, was ich erwartet hatte. Was sich im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt und mit den Jahren auch meine frühere Lektüre überlagert hat, ist das Bild eines technisierten Überwachungsstaates. Überwachungsstaat mag gerade noch angehen, von Technisierung aber kann kaum die Rede sein. Überhaupt wird nur ein geringer Anteil der Bevölkerung – hauptsächlich die Mitglieder der »Äußeren Partei« – tatsächlich überwacht und auch bei denen ist der Grad der Kontrolle höchst unklar, was einen nicht unwesentlichen Anteil der von der Partei ausgeübten Macht darstellt.

Vorherrschend aber ist ganz etwas anderes: Not und Elend in einem immerwährenden Kriegszustand, nahezu kompletter Mangel an futuristischer Technik – einzig der »Sprechschreiber« geht wesentlich über den technischen Horizont der 1940er Jahre hinaus –, statt dessen krudeste ideologische und psychologische Methoden, deren Anwendung nicht nur in Bezug auf den Erfolg fraglich erscheinen müsste, sondern auch im fiktionalen Gefüge des Romans eigentlich keinen Platz hat. Wenn die Partei tatsächlich die Vergangenheit so perfekt beherrscht, wie es der Roman vorgibt, so braucht sie auch Märtyrerschaft nicht zu fürchten, da die »vaporisierten« Gedankenverbrecher ja niemals existiert haben. Sie könnte sich daher getrost den mit den Delinquenten betriebenen Aufwand, der dazu führen soll, sie zu linientreuen Genossen zu machen, bevor man sie beseitigt, sparen und die Festgenommenen ohne weiteres ins Jenseits befördern. Geständnisse und Schauprozesse, so man sie denn für die Propaganda benötigt, lassen sich sicherlich unaufwändiger produzieren. Auch bleibt der Versuch unverständlich, die Vergangenheit überhaupt beherrschen zu wollen und immer erneut umzuschreiben anstatt sie einfach auszulöschen. Warum werden denn gedruckte Nachrichten überhaupt noch produziert und ausgeliefert? Wem hat die Partei denn überhaupt etwas zu beweisen? »Doppeldenk« und »Televisor« lassen solchen Aufwand als unnötig erscheinen.

Einzig durch das implizite Menschenbild wird der dritte Teil des Romans interessant: Es existiert in Orwells Utopie kein letzter Zufluchtsort des Individuums in seiner Gedankenwelt, den die Macht nicht erreichen könnte, wenn sie es einmal darauf angelegt hat. Auch der letzte Widerstand des Einzelnen kann gebrochen werden, wenn es die Mächtigen tatsächlich darauf anlegen würden. Insoweit ist Winston Smith eine interessante Gegenfigur zu Kleists Michael Kohlhaas, der sich noch durch das Akzeptieren seines Todes dem Zugriff des Mächtigen entziehen kann.

Erstaunlich, aber dann auch wieder sehr verständlich ist, dass der Roman seine Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt so ganz verloren zu haben scheint. Das Gespenst des Überwachungsstaates scheint an Bedrohlichkeit eingebüßt zu haben oder seine Form hat sich inzwischen so verändert, dass Orwells Vision nicht mehr greift. Es steht zu befürchten, dass der Roman in den nächsten zehn Jahren gänzlich obsolet werden wird, falls er es nicht heute schon ist.

Aktuelle Ausgabe:
Orwell, George: 1984
Ullstein Taschenbuch. ISBN 3-548-23410-0
Paperback – 320 Seiten – 7,95 Eur[D]

P.S.: Im Anschluss habe ich auch noch einmal Anthony Burgess’ Essay über Orwells »1984« gelesen, der beispielhaft deutlich macht, wie sehr der Roman eine Extrapolation aus der unmittelbaren Lebenswelt Orwells zum Zeitpunkt der Niederschrift ist.