Der 100.000-Euro-Fall

Maxim Billers Buch »Esra« wurde im Frühjahr 2003 aus dem Vertrieb genommen, weil zwei Frauen gegen das Buch eine einstweilige Verfügung erwirkt hatten. Sie glaubten, sich in Figuren des Buches wiederzuerkennen und sahen ihre Persönlichkeitsrechte angegriffen. Im Juni 2005 kam der sich daraus entwickelnde Prozess zu seinem Ende, als der Bundesgerichtshof die weitere Verbreitung des Buches verbot. Diese Urteil ist nun Grundlage für eine Schadensersatzklage der selben beiden Frauen gegen Autor und Verlag; es geht um 100.000 Euro.

Der Bundesgerichtshof hatte sein Urteil damit begründet, dass Billers Buch nicht Typen zeichne, sondern Porträts liefere. In einem solchen Fall müsse die durch die Verfassung garantierte Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ) vor den ebenfalls verfassungsrechtlich geschützen allgemeinen Persönlichkeitsrechten (Art. 2 Abs 1 GG) der Klägerinnen zurücktreten. Damit wurde festgestellt, dass Billers Buch die Persönlichkeitsrechte der Klägerinnen verletzt hatte.

Auf der Grundlage dieser Feststellung fordern die beiden Klägerinnen jetzt Schadensersatz für den erlittenen Schaden. Ob durch die Verletzung der Persönlichkeitsrechte überhaupt ein erheblicher Schaden eingetreten ist, steht keineswegs bereits fest, sondern muss sich im nun anstehenden Prozess erweisen. Auch ob sich die Klägerinnen mit ihrer Vorstellung über die Höhe der Entschädigung durchsetzen können, ist gänzlich unklar. Deutsche Gerichte neigen eher nicht dazu, hohen Schadensersatzforderungen nachzukommen.

Das ganze sorgt für nicht unerhebliche Aufregung unter deutschen Schriftstellern, die einen Grundbestand ihres Berufsstandes – die Verarbeitung von Wirklichkeitsdetails in fiktionalen Texten – gefährdet sehen. So haben sich mehr als Hundert bekannte Autoren und Publizisten in einer Unterschriftenliste mit Biller solidarisch erklärt. Sie bestreiten, dass durch ein verbotenes Buch ein Schaden habe entstehen können, was ein hinfälliges Argument ist, da die Klägerinnen mit Sicherheit nicht den Schaden einklagen, der nach dem Vertriebsstop durch das Buch entstanden ist, sondern zum einen denjenigen, den die bis dahin bereits verkauften Bücher verursacht haben, und zum anderen denjenigen, der ihnen durch den anschließend zu führenden Prozess entstanden ist.

Interessant ist der Aufschrei Daniel Kehlmanns (dem auch mal jemand sagen sollte, dass der Roman von Thomas Mann nicht »Die Buddenbrooks« heißt) in der F.A.Z., der unter dem Titel Ein Autor wird vernichtet gleich den Untergang der Kunstfreiheit zumindest in der deutschen Literatur befürchtet. Er rät – freilich für den in Frage stehenden Fall ein wenig spät – allen Menschen, sich von Schriftstellern fernzuhalten, um nicht in deren Büchern vorzukommen – ein Verfahren, das, wenn es denn konsequent befolgt würde, die Literatur ebenso erledigte, da dann die Schriftsteller ja nichts mehr hätten, worüber sie schreiben könnten.

In der allgemeinen Aufregung scheint mir der Einzelfall eindeutig zu hoch gehängt. Nichts spricht gegen die Solidarität der Kollegen mit Maxim Biller, aber ebenso wenig spricht gegen den Versuch der Klägerinnen, ein rechtskräftiges Urteil, das ihnen die Verletzung ihrer Rechte bescheinigt, dazu zu benutzen, dafür eine Kompensation zu erlangen. Die jetzige Klage auf Schadensersatz ist nur die ganz normale juristische Konsequenz, die sich aus dem ersten Urteil ergibt. Und ich wüßte gerne mehr: Hat es Versuche der Klägerinnen gegeben, sich mit dem Verlag im Vorfeld der neuen Klage gütlich zu einigen? Hat der Verlag von sich aus eine entsprechende Kompensation angeboten (was meiner unmaßgeblichen Meinung nach selbstverständlich gewesen wäre)? Wenn ja, in welcher Höhe?

Die Freiheit der Kunst sehe ich jedenfalls nicht gefährdet, und sie ist auch durch das erste Urteil im Fall Biller nicht eingeschränkt worden. Schon immer war es eine bedenkliche Frage, wann Kunst die Persönlichkeitsrechte anderer Personen verletzt. Wieviel Wirklichkeit muss und darf in einem Roman vorkommen. Diese Grenzen haben immer schon bestanden, sie verändern sich in und mit den Zeiten, aber es gab sie immer und wird sie immer geben. Im Fall »Esra« wurden sie nach Auffassung des Bundesgerichtshofs überschritten; ab dem 9. August wird darüber verhandelt werden, welche Folgen das haben wird. Auch dieser Prozess kann sich lange durch die Instanzen ziehen. Am Ende wird ein Urteil stehen, dass wahrscheinlich einmal mehr niemand für gerecht halten wird.

George Orwell: 1984

Zur Wiederlektüre nach über 20 Jahren bin ich auf etwas verschlungenem Weg gekommen: Als ich mir die die Verfilmung des »Merchant of Venice« durch Michael Radford anschaute und mich zu erinnern versuchte, ob ich schon jemals einen anderen Fim dieses Regisseurs gesehen hatte, stellte ich überrascht fest, dass er auch für die Verfilmung von »1984« verantwortlich war. Ich habe dann zuerst den Film nach 22 Jahren noch einmal angeschaut und dann, neugierig wie nah am Buch die Verfilmung wohl sein möchte (sie ist erstaunlich nah am Buch!), das ebenfalls 22 Jahre alte und noch ungelesene Taschenbuch mit der Übersetzung durch Michael Walter aus dem Regal gezogen. Ich hatte noch zu Schulzeiten die ältere Übersetzung von Kurt Wagenseil gelesen, dann im Jahr des Titels brav die neue Übersetzung gekauft, eingestellt und seitdem von Mal zu Mal mit umgezogen.

Weit besser hätt’ ich doch mein weniges verpraßt,
Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

Nun aber zum Buch: Wiedergefunden habe ich nicht, was ich erwartet hatte. Was sich im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt und mit den Jahren auch meine frühere Lektüre überlagert hat, ist das Bild eines technisierten Überwachungsstaates. Überwachungsstaat mag gerade noch angehen, von Technisierung aber kann kaum die Rede sein. Überhaupt wird nur ein geringer Anteil der Bevölkerung – hauptsächlich die Mitglieder der »Äußeren Partei« – tatsächlich überwacht und auch bei denen ist der Grad der Kontrolle höchst unklar, was einen nicht unwesentlichen Anteil der von der Partei ausgeübten Macht darstellt.

Vorherrschend aber ist ganz etwas anderes: Not und Elend in einem immerwährenden Kriegszustand, nahezu kompletter Mangel an futuristischer Technik – einzig der »Sprechschreiber« geht wesentlich über den technischen Horizont der 1940er Jahre hinaus –, statt dessen krudeste ideologische und psychologische Methoden, deren Anwendung nicht nur in Bezug auf den Erfolg fraglich erscheinen müsste, sondern auch im fiktionalen Gefüge des Romans eigentlich keinen Platz hat. Wenn die Partei tatsächlich die Vergangenheit so perfekt beherrscht, wie es der Roman vorgibt, so braucht sie auch Märtyrerschaft nicht zu fürchten, da die »vaporisierten« Gedankenverbrecher ja niemals existiert haben. Sie könnte sich daher getrost den mit den Delinquenten betriebenen Aufwand, der dazu führen soll, sie zu linientreuen Genossen zu machen, bevor man sie beseitigt, sparen und die Festgenommenen ohne weiteres ins Jenseits befördern. Geständnisse und Schauprozesse, so man sie denn für die Propaganda benötigt, lassen sich sicherlich unaufwändiger produzieren. Auch bleibt der Versuch unverständlich, die Vergangenheit überhaupt beherrschen zu wollen und immer erneut umzuschreiben anstatt sie einfach auszulöschen. Warum werden denn gedruckte Nachrichten überhaupt noch produziert und ausgeliefert? Wem hat die Partei denn überhaupt etwas zu beweisen? »Doppeldenk« und »Televisor« lassen solchen Aufwand als unnötig erscheinen.

Einzig durch das implizite Menschenbild wird der dritte Teil des Romans interessant: Es existiert in Orwells Utopie kein letzter Zufluchtsort des Individuums in seiner Gedankenwelt, den die Macht nicht erreichen könnte, wenn sie es einmal darauf angelegt hat. Auch der letzte Widerstand des Einzelnen kann gebrochen werden, wenn es die Mächtigen tatsächlich darauf anlegen würden. Insoweit ist Winston Smith eine interessante Gegenfigur zu Kleists Michael Kohlhaas, der sich noch durch das Akzeptieren seines Todes dem Zugriff des Mächtigen entziehen kann.

Erstaunlich, aber dann auch wieder sehr verständlich ist, dass der Roman seine Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt so ganz verloren zu haben scheint. Das Gespenst des Überwachungsstaates scheint an Bedrohlichkeit eingebüßt zu haben oder seine Form hat sich inzwischen so verändert, dass Orwells Vision nicht mehr greift. Es steht zu befürchten, dass der Roman in den nächsten zehn Jahren gänzlich obsolet werden wird, falls er es nicht heute schon ist.

Aktuelle Ausgabe:
Orwell, George: 1984
Ullstein Taschenbuch. ISBN 3-548-23410-0
Paperback – 320 Seiten – 7,95 Eur[D]

P.S.: Im Anschluss habe ich auch noch einmal Anthony Burgess’ Essay über Orwells »1984« gelesen, der beispielhaft deutlich macht, wie sehr der Roman eine Extrapolation aus der unmittelbaren Lebenswelt Orwells zum Zeitpunkt der Niederschrift ist.

Hellmut Butterweck: Der Nürnberger Prozess

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Vor der Kritik erst ein allgemeines und notwendiges Lob: Dies ist eine auch für den historischen Laien gut lesbare, weitgehend sachliche Auseinandersetzung mit dem Nürnberger Prozess, deren Stärke darin besteht, in weiten Passagen die Protokolle zu zitieren und so alle Prozessbeteiligten selbst zu Wort kommen zu lassen. Butterweck beginnt mit den juristischen Voraussetzungen und historischen Konstellationen, die zum Nürnberger Prozess geführt haben, und er endet mit einer kurzen, auch hier wieder weitgehend an den Selbstaussagen der Betroffenen orientierten Darstellung der Haftzeit der nicht zum Tode verurteilten Nürnberger Angeklagten. Es ist derzeit keine vergleichbare sachliche und aktuelle Darstellung des Nürnberger Prozesses lieferbar, und das Buch ist eine notwendige und gute Ergänzung der populäreren Literatur zum Dritten Reich und seinen Folgen.

Der Leser wird gut informiert über den Ablauf des Prozesses, die Schwierigkeiten, die sich für Gericht, Anklage, Verteidigung und Angeklagte im Verlauf ergaben, streckenweise auch über den Widerhall, den der Prozess in der zeitgenössischen Öffentlichkeit fand, über Prozesssensationen und -pannen usw. usf. Die eine oder der andere mag vielleicht bedauern, dass die Personen der Verteidiger etwas blass bleiben; hier hätte man sich Pars pro Toto wenigstens das eine oder andere detailliertere Portrait gewünscht. Insgesamt macht das Buch das für den Laien gänzlich unüberschaubare Konvolut der Prozessakten in seinen wesentlichen Züge begreiflich und den Prozess in seinen Voraussetzungen und Abläufen klar verständlich.

Formal bleibt das Buch allerdings ein wenig unausgewogen und unfertig. Nachdem Butterweck weite Passagen des Prozesses sorgfältig und genau nachgezeichnet hat, geht er auf S. 336 ohne erkennbaren inhaltlichen Anlass plötzlich zu einer summarischen Darstellung über, die seltsam gehetzt wirkt. Sie orientiert sich an den einzelnen Angeklagten, durchbricht aber dieses Prinzip zum Beispiel im Abschnitt über Wilhelm Keitel, in den Material einfließt, das mit dessen Venehmung durch die Ankläger nichts zu tun hat. Überhaupt wirkt das gesamte Kapitel 12 im Vergleich mit dem übrigen Text eher wie ein Entwurf, als habe etwa eine späte Beschränkung der Seitenzahl von Seiten des Verlags den Autor zu Konzessionen gezwungen.

Als Mangel könnte man ansonsten konstatieren, dass der Autor sprachlich und inhaltlich nicht immer ganz auf der Höhe seines Themas ist. Mokante Kommentare wie zum Beispiel

Es sei erstaunlich, zitiert Gitta Sereny den Speer zitierenden Verleger Wolf Jobst Siedler, „ich musste in die Siebziger kommen, um ein erstes wirklich erotisches Erlebnis mit einer Frau zu haben.“ Dabei dürfte er sich wenige Wochen später übernommen haben. [S. 125]

erscheinen zumindest mir unnötig und sind leider kein Einzelfall. Aber auch Redeweisen wie die vom »widerwärtigen restaurativen politischen Klima der Nachkriegszeit« [S. 218] oder einer »Justizkomödie pur« [S. 400] im Fall des Urteils gegen Schacht lassen Zweifel aufkommen, ob das Verständnis des Autors der Problematik des zeitgenössischen Geschehens immer angemessen ist. Ganz zu schweigen von dem Grundproblem des gesamten Prozesses, dem sich Butterweck zum Glück an keiner Stelle auch nur zu stellen versucht, nämlich dem, ob ein solcher juristischer Prozess den verhandelten Geschehnissen überhaupt gerecht werden konnte oder ob er nicht vielmehr nur einen verzweifelten Versuch der zivilisierten Völker darstellt, angesichts der unglaublichsten Barbarei nicht selbst in Barbarei zu verfallen. Was ein Prozesses gegen die sogenannten Hauptverbrecher überhaupt erreichen hätte sollen und können und was Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang bedeuten soll, erscheint mir heute ebenso ungeklärt wie 1945, als der Prozess eröffnet wurde. Was erreicht wurde, ist offensichtlich; wie das dem unglaublichen Grauen gerecht werden soll, für das Deutsche im vergangenen Jahrhundert verantwortlich waren, bleibt weiterhin völlig unklar. Natürlich kann auch Butterweck dies nicht beantworten, aber vor diesem Horizont bleiben sein Bekenntnis zu den Sternen des Völkerrechts [S. 414] und seine wiederholten antiamerikanischen Anwürfe naiv.

Butterweck, Hellmut: Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung
Czernin, 2005. ISBN 3-7076-0058-0
456 Seiten – 21,5 × 13,5 cm – 27,00 Eur[D]