Isaak Babel: Mein Taubenschlag

Und  das ungeheuerliche Russland, unwahrscheinlich wie eine Herde bekleideter Läuse, stapfte in Bast­schu­hen zu beiden Seiten des Waggons.

Babel-Taubenschlag

Zum schönsten in einem langen und kon­ti­nu­ier­li­chen Leseleben gehören jene Momente, in denen man unvorbereitet auf einen Autor stößt, der einem ganz neu und ursprünglich ein Vergnügen bereitet, mit dem man schon lange nicht mehr gerechnet hatte. Meine Lektüre von Isaak Babels Erzählungen ist ein solcher Glücksfall. Natürlich kannte ich Babel dem Namen nach, wusste auch, dass er in der DDR viel gelesen wurde, aber ich war nie zufällig so an einem seiner Bücher vorbeigekommen, dass es mich im Augenblick gereizt hätte, ihn kennenzulernen. Erst die jetzt erschienene Neuausgabe seiner sämtlichen Erzählungen bei Hanser hat mich verführt.

Im Zentrum des Bandes steht Babels Erzählzyklus „Die Reiterarmee“ in der Übersetzung Peter Urbans, die – mit wenigen Änderungen – aus der Ausgabe der Friedenauer Presse von 1994 übernommen wurde. „Die Reiterarmee“ enthält Babels Erzählungen aus dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920, an dem er als Kriegsjournalist teilnahm, nachdem er zuvor schon im Ersten Weltkrieg und dem nachfolgenden russischen Bürgerkrieg als Soldat und Reporter gedient hatte. Babels Erzählweise ist zumeist denkbar knapp und unemotional, dann aber immer wieder durchsetzt mit kurzen, nahezu lyrischen Na­tur­be­schrei­bun­gen, ohne dass die Texte dadurch ihre Stimmigkeit verlieren würden. Babel versucht an keiner Stelle ein historisches oder auch nur geschlossenes Bild des Krieges zu liefern; er konzentriert sich im Gegenteil auf Anekdoten, von denen durchaus nicht jedesmal klar wird, wo sie in der Chronologie der Ereignisse zu verorten sind. Kriegselend, Euphorie der Attacke und Streitereien unter den Soldaten, hohe Kriegsziele und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit, Geistliche, Künstler, Bettler und Generale, Juden und Christen, Polen und Russen treffen unvermittelt auf­ein­an­der, Verständnis, Missverständnis und Tod wechseln sich un­vor­her­seh­bar ab und der Erzähler Ljutov – Babels eigener Nom de guerre – scheint kaum hinterherzukommen mit seinen Notizen.

Um diesen Kern herum finden sich in vier Teilen alle anderen Erzählungen Babels in der Übersetzung von Bettina Kaibach. Man muss ihr das Kompliment machen, dass es ihr tatsächlich gelungen ist, einen Ton für ihre Übersetzung zu finden, der kaum eine Diskrepanz zu dem Urbans erkennen lässt. Natürlich sind Babels Erzählungen aus Odessa stofflich oft leichter und in weiten Teilen humoristischer als die der „Reiterarmee“, aber Kaibach trifft wie Urban die lakonisch-lyrische Spannung der Texte vortrefflich. Der „Reiterarmee“ voran gehen die beiden Sammlungen „Die Geschichte meines Tau­ben­schlags“ und die „Geschichten aus Odessa“, wobei dieser Zyklus und die Sammlung „Die Reiterarmee“ um einige zugehörige Texte ergänzt werden. Nachgestellt sind zwei Gruppen von Erzählungen, die Babel nicht selbst gesammelt hat und die der Chronologie der Entstehung nach geordnet wurden. Besonders die frühen, noch recht konventionellen Erzählungen machen deutlich, wie Babel schließlich zu seinem eigenen, knappen und lakonischen Ton gefunden hat.

Wie bereits oben gesagt, hat mich seit Langem kein Erzähler mehr so auf Anhieb überrascht und überzeugt. Babels Erzählungen prä­sen­tie­ren eine ganz und gar eigenständige und originelle Sicht auf die Welt, sie zeigen eine Wirklichkeit, die sich in dieser Präzision wohl schwer­lich anderswo wird finden lassen, wenn sie sich überhaupt finden lässt. Eines jener wenigen Bücher, die tatsächlich ein Stück Welt bewahren!

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 863 Seiten. 39,90 €.

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität

[…] als sei generell alles, was aus meinem Mund komme, abwegig, ja, idiotisch sogar.

Schimmelbusch-MurauDas Buch beruht auf einem netten, wenn auch banalen Einfall: Thomas Bernhard ist 1989 nicht gestorben, sondern hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Seitdem lebt er unter dem Pseudonym Murau als Ehemann, Vater und Freizeitler auf Mallorca und in New York. Allerdings dreht sich das aus dieser Idee entwickelte Buch nur sehr am Rande um Bernhard, wahrscheinlich deshalb, weil seinem Autor zu Bernhard nicht so recht viel einfallen will. Stattdessen füllt er viele, viele Seiten mit etwas, was er wohl für eine Satire des Lebens eines Jet-Set-Journalisten hält, in der ein überzeichnetes Alter Ego in der Welt herumfliegt, seine Obsession für Fellatio aus- und dem finanziellen Ruin entgegen lebt.

Das Rückgrat der Erzählung bildet eine mäßig gelungene Stil-Parodie auf die Notate Siegfried Unselds aus dem Briefwechsel-Band Bernhard/Unseld. In insgesamt fünf Lieferungen durch das ganze Buch hindurch berichtet in ihnen Unseld von seinen Treffen mit Bernhard nach dessen fingiertem Tod. Was sich im ersten Teil noch ganz witzig liest, verflacht bald zu einer öden Wiederholung des immer gleichen Superman-Habitus, ohne dass etwas anderes als eben zusätzliche Seiten gewonnen würde. An einer einzigen Stelle schwingt sich dieser Text zu einer wirklich witzigen Pointe auf, als nämlich Unseld bei einem Besuch in einem Bordell erkennen muss, dass Bernhard die chinesische Vase, die er ihm Ende 1974 in Ohlsdorf geschenkt hat (vgl. Briefwechsel S. 453), zuvor offenbar aus eben diesem Puff entwendet hat (S. 98 ff.). Leider fällt alles andere gegen diesen Höhepunkt steil ab.

Da die ohnehin zu lang geratene Parodie allein kein Buch füllen würde, schreibt Schimmelbusch die oben schon angedeutete Schickimicki-Handlung drumherum und zwischenrein. Ganz zum Schluss tritt dann noch ganz kurz der Leibhaftige selbst auf, redet aber auch nur das, was wir nach der Lektüre des Buches ohnehin erwarten konnten. Ansonsten ist der Text gespickt mit sachlichen Fehlern (um von dem im Titel fehlenden Bindestrich einmal ganz abzusehen), alle natürlich sorgsam absichtsvoll im Text platziert und an entsprechender Stelle (S. 141 f.) poetologisch gerechtfertigt. Wer einen dummen Text schreibt, muss inzwischen offensichtlich nur noch die Klugheit als obsoletes Konzept deklarieren, um mit allem im Reinen zu sein.

Ein Text mehr, der die von ihm selbst aufgelegte Latte mühelos unterspringt. Schade …

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität. Berlin: Metrolit, 2014. Bedruckter Pappband, 208 Seiten. 18,– €.

Jahresrückblick 2013

Auch für das vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren des Jahres. Dieses Mal mit einer strengen Teilung von Klassikern und Neuerscheinungen.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2013:

  1. Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund – ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
  2. Theodor Fontane: Effi Briest – ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist.
  3. Uwe Johnson: Jahrestage – einer der großen und bedeutenden deutschen Romane des 20. Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2013:

  1. David Markson: Wittgensteins Mätresse – wahrscheinlich nicht wirklich schlecht, aber eine Enttäuschung gemessen an der Stellung, die dem Buch in der Geschichte der literarischen Postmoderne zugeschrieben wird.
  2. Friedrich von Borries: RLF – triviales, unverbindliches und schlecht erfundenes Gefasel um einen Volldeppen aus der Werbebranche.
  3. Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit – ein weiteres Beispiel dafür, wie abgrundtief dumm hoch intelligente und gebildete Menschen sein können.

Aus meinem Poesiealbum (XIX) – Journalisten

Als ich noch Bücher las, habe ich irgendwo das Diktum gefunden, daß der Mensch nie verzweifeln könne, denn es bleibe ihm auch beim schlimmsten Zahnweh immer die tröstliche Möglichkeit des Selbstmordes.

Ich habe ein Analogon dazu; ich sage mir: Du kannst zwar versumpfen, aber es bleibt Dir immer noch die Möglichkeit, Journalist zu werden.

Otto Julius Bierbaum
Stilpe

Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit

Aber das ist keine verbreitete Auffassung.

Boghossian-Angst

Der Text scheint – so sagt es jedenfalls das Nachwort von Markus Gabriel – nach seiner „Veröffentlichung im Jahr 2006 in der philosophischen Fachwelt für großes Aufsehen gesorgt“ (S. 135) zu haben. Dass ich davon erst durch die Lektüre eben dieses Nachworts erfahre, nehme man als Hinweis darauf, dass ich nicht zu jener philosophischen Fachwelt gehöre und ordne die nachfolgenden Bemerkungen entsprechend ein.

Ziel des Autors ist es, in dem schmalen Bändchen die Positionen des rezenten philosophischen Relativismus und (sozialen) Konstruktivismus prinzipiell zu prüfen und zurückzuweisen. Dabei kommen verschiedene Philosophen unterschiedlich gut davon; am besten noch Richard Rorty, dessen relativistische Position am Ende aber auch verworfen wird. Selbst Kants erkenntnistheoretische Theorie – die nur sehr allgemein und zurückhaltend behandelt wird, da der Autor sie offensichtlich nicht aus einer Lektüre der Primärtexte kennt – findet keine Gnade vor den Augen des Herrn. Aber zum Glück kennt er anderswoher die eine und einzige Wahrheit® und „ihre segensreichen Wirkungen“ (S. 134). Wir kommen darauf zurück.

Das erstaunlichste an der von Boghossian vorgebrachten Kritik des Relativismus und Konstruktivismus ist, dass er die Absicht der von ihm bekämpften Positionen im Grunde gar nicht begreift. Ihm ist es tatsächlich unverständlich, dass jemand einen Standpunkt einnehmen und vertreten möchte, der nicht den Spielregeln gehorcht, die er (Boghossian) so erfolgreich anzuwenden gelernt hat. Und es ist doch auch offenbar und für jeden Gutwilligen immer einsichtig: Was Wahrheit® ist, bestimmt die Naturwissenschaft und ihre rationale Methode. Jeder, der eine andere Wahrheit für wahr hält, muss entweder akzeptieren, dass diese Wahrheit nur ein indirekter, mittelbarer Ausdruck der Wahrheit® ist oder dass sie schlicht falsch sein muss. Wie das zu beweisen ist? Ganz einfach: aufgrund der Wahrheit® und der einzig zu ihr führenden rationalen Methode.

Boghossian lässt sich herab, wenigstens drei konkrete Beispiele ausführlicher zu besprechen, in denen Relativisten auf Schwierigkeiten hinweisen, die Wahrheit® gegen alternative Auffassungen durchzusetzen:

  • So zitiert er die Aussage eines Lakota-Indianers, die Lakota wüssten, sie seien „Nachfahren der Büffelleute. Sie kamen aus dem Inneren der Erde, nachdem übernatürliche Geister diese Welt für die Menschheit vorbereitet hatten. Wenn Nichtindianer glauben wollen, sie stammten von einem Affen ab, sei’s drum. Mir sind noch keine fünf Lakota begegnet, die an die Wissenschaft und die Evolution glauben.“ Boghossian wendet gegen diese – seiner Wahrheit® gegenüber ja immerhin tolerante – Haltung natürlich ein, dass eine solche Auffassung derjenigen, nach der die amerikanischen Ureinwohner „vor ungefähr 10 000 Jahren die Beringstraße überquerten“ (S. 9), allein deshalb unterlegen sein muss, weil es für sie keine Belege gebe. Warum das die Lakota nicht interessiert, wird klugerweise nicht erörtert.
  • Etwas ausführlicher widmet er sich dem Konflikt zwischen Kardinal Bellarmin und Galileo. Bellarmin soll sich bekanntlich geweigert haben, sich von der Richtigkeit der Behauptungen Galileos durch Augenschein zu überzeugen, indem er nicht durch dessen Teleskop blickte. Bellarmin soll die Position vertreten haben, was auch immer er dort zu sehen bekäme, sei unerheblich, da er die Wahrheit über den Aufbau der Welt aus der Heiligen Schrift kenne. Dieses Beispiel spielt sowohl bei Thomas Kuhn als auch bei Richard Rorty eine prominente Rolle. Auch in diesem Fall verweigert Boghossian bereits vor dem Hindernis: Seine Analyse zeigt zuerst auf, dass in diesem Fall die Wahrheit® und die Wahrheit Bellarmins nicht als gleichwertig anzusehen seien, jedenfalls nicht, wenn man die Kriterien der Wahrheit® zugrunde legt. Dann bestreitet er, dass Bellarmin und Galileo tatsächlich prinzipiell unterschiedlichen Weltbildern anhingen – Kuhn spricht unvorsichtigerweise metaphorisch davon, dass sie in verschiedenen Welten gelebt hätte, was Boghossian souverän zu widerlegen weiß –, indem er Kuhns Aussage so allgemein wie möglich auffasst, wodurch sie absurd wird. Wie Galileo das Problem hätte lösen sollen, Kardinal Bellarmin, der in diesem Fall nicht nur über die Wahrheit, sondern auch über die oft mit ihr verbundene Macht verfügte, von der Wahrheit® zu überzeugen, wird klugerweise nicht erörtert.
  • Schließlich setzt Boghossian dazu an, eine Passage aus Ludwig Wittgensteins „Über Gewißheit“ zu diskutieren, in der Wittgenstein den Konflikt einer Gesellschaft, die Orakel befragt, mit einer, die an die Physik glaubt, thematisiert. Allerdings vermeidet Boghossian schließlich doch die abstrakten Fragen Wittgensteins und ersetzt sie durch ein Beispiel aus Edward E. Evans-Pritchards „Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande“, von dem er ohne weiteren Nachweis suggeriert, dass Wittgenstein es gekannt haben könnte. Das konkrete Beispiel betrifft die Vererbungslehre männlicher Hexer: Die Zande erzählten den Ethnologen, dass Hexer ihre Fähigkeiten einer Substanz im Magen verdanken, die vom Vater auf den Sohn vererbt werde. Diese Substanz lasse sich im Magen von Hexern nach deren Tod nachweisen. Die Frage der Ethnologen, ob denn aufgrund der Vererbung alle Söhne eines Hexers und wiederum auch deren Söhne usw. Hexer würden, verneinen die Zande. Dies bereitet nun sowohl Evans-Pritchard als auch Boghossian rationale Beschwerden, denn wie können die Zande nur zugleich der Auffassung sein, die Hexer-Substanz werde vom Vater auf den Sohn vererbt und nicht alle Söhne eines Hexer würden zu Hexern? Boghossian erwägt drei mögliche Lösungen für diesen rationalen Konflikt:
    1. Die Zande könnten einen logischen Fehler begehen.
    2. Wir könnten aufgrund mangelhafter Übersetzung falsch verstehen, was die Zande meinen.
    3. Die Zande sind an „den relevanten Sachverhalten nicht sonderlich interessiert“ (S.111).
    Weitere Möglichkeiten kommen ihm beim besten Willen nicht in den Sinn. Wie wäre es aber zum Beispiel damit, dass die Zande durchaus dazu in der Lage sind, allgemeine Regeln zu bilden und zugleich im Sinn zu behalten, dass deren Allgemeinheit ein eher unbestimmtes Konzept darstellt. Ich kenne die Zande nun noch weniger als Boghossian, aber wenn es sich um Farmer handelt, so denken sie bei allgemeinen Regeln über die Vererbung der Hexerei-Substanz vielleicht ähnlich wie beim Herauszüchten bestimmter Eigenschaften in der Tierzucht: Die Eigenschaft wird allerdings vom Vater auf die Söhne übertragen, aber eben nicht immer zuverlässig; es sind immer auch Exemplare im Wurf, bei der die gewünschte Eigenschaft nicht auftaucht. Warum sollte das bei der Vererbung der Hexerei anders sein? Wonach fragen denn diese weißen Trottel eigentlich? Das versteht sich doch von selbst. Aufgrund dieser Sachlage ist es wahrscheinlich zu begrüßen, dass sich Boghossian gar keine Gedanken darüber macht, wie die Zande wohl von der Wahrheit® der westlichen Logik zu überzeugen wären.

Wie man leicht sieht, besteht das Hauptproblem an Boghossians Erörterungen, dass er sich auf den eigentlichen Konflikt, dem der Relativismus zu genügen versucht, gar nicht einlässt. In jedem einzelnen Fall steht ohnehin fest, dass die Wahrheit® der jeweils alternativen Position vorzuziehen und nur die Frage der Herleitung dieser Überlegenheit eventuell noch zu klären ist. Lässt sich der Opponent trotz der offenbaren Überlegenheit der Wahrheit® nicht von ihr überzeugen, kann das getrost auf sich beruhen, da er sich ja im Unrecht befindet, und das ist so ziemlich das schlimmste, was einem nach der Auffassung Boghossians geschehen kann.

Dabei will Boghossian aber durchaus nicht auf einer absoluten Überlegenheit der Wahrheit® bestehen. Er ist bereit, die Möglichkeit einzuräumen, man könne auf eine alternative Wahrheit2 stoßen, die der gerade gültigen Wahrheit® überlegen ist:

Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass uns ein alternatives epistemisches System begegnet, das uns an der Korrektheit unserer eigenen epistemischen Prinzipien zweifeln lässt. Wie sollen wir uns so etwas vorstellen? Nun, wir könnten uns die Begegnung mit einer andersartigen Gesellschaft vorstellen, deren wissenschaftliche und technische Fähigkeiten deutlich fortgeschrittener als unsere wären, obwohl sie fundamentale Aspekte unseres epistemischen Systems ablehnt und alternative Prinzipien befürwortet.

Damit diese Begegnung den erwünschten Effekt haben könnte, müsste dieses alternative epistemische System klarerweise eines aus dem wirklichen Leben sein, mit einer nachweislichen Erfolgsbilanz, und nicht nur eine theoretische Möglichkeit. Seine tatsächlichen Leistungen müssten hinreichend eindrucksvoll sein, um in uns legitime Zweifel an der Korrektheit unseres eigenen epistemischen Systems zu wecken. (S. 105 f.)

Dies ist der ironische Höhepunkt des Traktats: Boghossian rechnet nicht einmal damit, direkt durch die Wahrheit2 oder das ihr zugrunde liegende epistemische System der „andersartigen Gesellschaft“ überzeugt zu werden, sondern die „nachweisliche Erfolgsbilanz“ ihrer „technischen Fähigkeiten“ ist es, die den Ausschlag geben wird. Hier zeigt sich das vollkommene Unverständnis Boghossians für die von ihm tatsächlich vertretene Position: Die primitiven Wahrheiten sind der Wahrheit® deswegen unterlegen, weil die aus der Wahrheit® entspringende Erfolgsbilanz für sich spricht: fabrikmässiger und entmenschlichter Massenmord, 10.000-facher Overkill, Zerstörung der Welt und systematische Vernichtung des Lebens und der Lebensräume, die Menschheit als Pest des Planeten sind es, die für die Wahrheit® sprechen; und wer sich davon nicht überwältigt zeigt, befindet sich schlicht im Unrecht. Und wenn dann die Außerirdischen kommen, die uns en passant im Vollzug unserer Ausrottung nachweisen, dass wir höchstens Kinder in den Augen der Herrscher der Wahrheit2 sind, dann und erst dann ist es Zeit, der Wahrheit® abzuschwören und zu neuen Göttern zu beten, so lange man es noch kann.

Warum diese Angst vor der Wahrheit? Woher kommt dieses Bedürfnis, sich gegen ihre segensreichen Wirkungen schützen zu wollen? (S. 133 f.)

Ja, woher nur?

Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit. Aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch. stw 2059. Berlin: Suhrkamp, 2013. Broschur, 164 Seiten. 14,– €.

Friedrich von Borries: RLF

Alle Wege führen unweigerlich
in die Perversität
und in die Absurdität
Wir können die Welt nur verbessern
wenn wir sie abschaffen
Thomas Bernhard
Der Weltverbesserer (1978)

Borries-RLFBücher, nach deren Lektüre man sich nicht sicher ist, ob es sich beim Autor um einen Volldeppen handelt, sind vielleicht nicht die schlechtesten. Die besten sind es aber sicherlich nicht.

„RLF“ – die drei Buchstaben stehen für „das richtige Leben im falschen“, einer Negation eines zum Schlagwort verkommenen Satzes von Adorno; der Anklang an die RAF ist beabsichtigt und fast noch das Netteste am ganzen Buch – erzählt die Geschichte von Jan, einem ganz normalen, notgeilen Arschloch aus der Werbebranche, der von ein paar Möchtegern-Revolutionären dazu benutzt wird, um an Geld zu kommen. Um ihn wieder loszuwerden, lässt ihn der Autor am Ende besoffen vom Balkon eines Luxushotels in Venedig fallen. Ist nicht schade drum.

Jan wird auf den grandiosen Einfall gestoßen, die Revolution als kapitalistisches Kunstwerk zu vermarkten. Zu diesem Zweck tut er, was er am besten kann: voller Pathos dummes Zeug quatschen. Das ganze Buch bewegt sich mit seinen Pappkameraden knapp unterhalb des Reflexionsniveaus von „Narziß und Goldmund“. Auch nur für einen Moment zu versuchen, sein substanzloses Gewäsche mit Adorno in Beziehung zu setzen, hieße, es maßlos zu überschätzen. So wie die Welt.

Unterbrochen wird die Fiktion durch Auszüge aus Interviews mit tatsächlichen Revolutionären der heutigen Zeit zur Frage nach der Möglichkeit des richtigen Lebens im falschen (das Falsche ist bei Adorno übrigens die Inneneinrichtung). Ein paar von ihnen haben auch etwas zu sagen. Zwei scheinen sogar irgendwann einmal Adorno gelesen zu haben.

Wohlgemerkt: Es könnte sich bei alle dem auch um eine Satire handeln; wirklich zu erkennen ist das nicht. Ich fürchte aber, dass der Autor irgend etwas ernst meint; nur was er ernst meint, steht nicht im Buch. Ist auch nicht nötig, verkauft sich auch so, wenn nur richtig Werbung gemacht wird. Bei Suhrkamp. Um 13,99 €.

Friedrich von Borries: RLF. Das richtige Leben im falschen. Berlin: Suhrkamp, 2013. Klappenbroschur, 252 Seiten. 13,99 €.

Frank Brady: Endgame

He was poised for battle against the chess establishment, the Union Bank of Switzerland, the Jews, the United States, Japan, Icelanders in general, the media, processed foods, Coca-Cola, noise, pollution, nuclear energy, and circumcision.

Brady_EndgameFrank Brady schreibt seit knapp 50 Jahren Biographien über den elften Schachweltmeister Robert James (Bobby) Fischer. Bereits 1965 erschien sein erstes Buch, damals noch dem Wunderkind Fischer gewidmet, das der 1943 geborenen Fischer zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr war, und dieses Buch wurde in einer überarbeiteten Neuauflage 1973 und einem unveränderten Nachdruck 1989 nochmals publiziert. 2011 ist dann mit »Endgame« sozusagen die Fassung letzter Hand erschienen; es dürfte für einen Kenner kein kleiner Spaß sein, die Wandlung der Biographie Fischers in der Darstellung Bradys durch die Jahre hindurch zu verfolgen.

Brady ist ein routinierter, journalistischer Schriftsteller mit der Neigung, ab und an sprachlich etwas dick aufzutragen. Eigentlich möchte er Fischer sympathisch darstellen, was ihm aber gerade im letzten Teil des Buches angesichts des immer unerträglicher werdenden Charakters dieses Menschen zunehmend schwer fällt. Fischer war spätestens seit den 80er Jahren soziopathisch, paranoid und schwer depressiv. Und auch wenn ihn Brady bei der Darstellung der letzten, isländischen Jahre zu einem Intellektuellen zu stilisieren versucht, so muss doch festgestellt werden, dass etwa Fischers Faszination mit ständig wechselnden religiösen Ideologien, die er sich immer so zurechtlegt, dass sie sein persönliches Wahnsystem und sein Selbstbild stützen – sobald der jeweils aktuelle Versuch brüchig wird, wechselt er die Religion – und sein wahnhafter Antisemitismus – Juden sind für Fischer letztlich alle Menschen, die nicht seiner Meinung sind – starke Indizien dafür liefern, dass Fischer seinen Kopf außer zum Schachspielen zu nicht viel anderem richtig zu gebrauchen wusste. Es muss Brady zugutegehalten werden, dass er alle für dieses Urteil nötigen Sachverhalte zur Verfügung stellt, wenn er sich auch letztlich weigert, die sich daraus ergebende Konsequenz selbst zu ziehen. Fischer ist für ihn offenbar ein bemitleidenswerter und kranker Mann gewesen, über den den Stab zu brechen Brady zu vermeiden sucht.

Alles in allem ist die Biographie solide, wenn auch dem Kenner hier und da merkwürdige Auslassungen auffallen können: So war Fischer zum Beispiel für das Interzonenturnier in Palma de Mallorca im Jahr 1970, in dem er sich mit einem überragenden Sieg für die Kandidaten-Kämpfe der WM 1972 qualifizierte, nicht startberechtigt, da er an der für dieses Turnier qualifizierenden US-Meisterschaft 1969 nicht teilgenommen hatte. Qualifiziert hatte sich unter anderen Pál Benkő, der seinen Qualifikationsplatz zugunsten Fischers aufgab und ihm so den Weg zum Weltmeistertitel 1972 freimachte. Kein Wort davon in Bradys Biographie. Am Platz kann es nicht gelegen haben, denn an anderer Stelle erfahren wir so wichtige Details wie dieses:

As he [Fischer] and his two bodyguards drove along the banks of the Danube, Bobby noticed that the river wasn’t the color he’d thought it would be. Unlike the ‘The Blue Danube’ of Strauss’s waltz, this deep water was mud brown.

Nun gut.

Eine teilweise sprachlich pompöse, aber trotzdem lesbare und insgesamt stimmige, im Detail etwas nachlässige Biographie Bobby Fischers, die besonders für Nichtschachspieler den Vorzug besitzt, gänzlich ohne Partienotationen und Diagramme auszukommen. Eine deutsche Übersetzung liegt seit 2012 ebenfalls vor.

Frank Brady: Endgame. Kindle-Edition. London: Constable, 2011. 418 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,20 €.

Alan Bennett: Schweinkram

»Zwei unziemliche Geschichten«, wie es im Untertitel des Bändchen heißt:

Mrs. Donaldson erblüht erzählt vom sexuellen Erwachen einer 55-jährigen Witwe, die zur Aufbesserung ihres Einkommens zum einen im lokalen Krankenhaus als simulierende Patientin arbeitet, an der junge Ärzte ihre diagnostischen und sozialen Fähigkeiten üben, zum anderen zwei ihrer Zimmer an ein Studentenpärchen vermietet, die den Ball ins Rollen bringen: Als die jungen Leute Schwierigkeiten haben, die Miete zu begleichen, bieten sie Mrs. Donaldson an, dass sie ihnen zum Ausgleich beim Geschlechtsverkehr zuschauen dürfe. Die etwas verklemmte Mrs. Donaldson lässt sich auf das Experiment eher deshalb ein, um ihren Mietern die Peinlichkeit einer Ablehnung zu ersparen und besucht das Schlafzimmer des Pärchens wie eine Art von Theatervorstellung.

Die ungewohnte Begegnung mit einer ausgelebten Sexualität bringt jedoch auch in ihr einiges in Bewegung, so dass sie von da an als Lauscher an der Wand am Liebesleben ihrer Mitbewohner teilnimmt. Im Krankenhaus entwickelt sich zudem langsam ein Flirt mit dem das Ärzte-Training überwachenden Oberarzt, und als das erste Studentenpaar auszieht und von einem anderen abgelöst wird, nimmt alles noch eine weitere überraschende Wendung.

Die Titelfigur in Mrs. Forbes wird behütet ist die Mutter Graham Forbes’, eines schwulen und eitlen Schönlings, der eine seiner Bankkundinnen heiratet, um in den Genuss ihres ererbten Vermögens zu kommen. Aus dieser spannungsgeladenen Grundkonstellation entwickelt Bennett eine kurze, aber überraschend vielfältige Geschichte um Ehebruch, Erpressung, familiäre Geheimnisse und die sexuellen Beziehungen hinter einer gutbürgerlichen Fassade.

Wie immer gelingt es Bennett aus auf den ersten Blick nicht ungewöhnlichen und eher harmlosen Ausgangssituationen und Figuren überraschende Handlungen zu entwickeln, die ohne jede Aufgeregtheit mitten im wirklichen Leben ankommen. Ein Meister der kleinen Form.

Alan Bennett: Schweinkram. Zwei unziemliche Geschichten. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Salto 188. Berlin: Wagenbach, 2012. Bedrucktes Leinen, Fadenheftung, 141 Seiten. 15,90 €.

Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß

Von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt gibt es nur einen kürzesten Weg, aber unendlich viele Umwege. Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämierung der Umwege.

Eine weitere Sammlung kurzer und kürzester Essays Hans Blumenbergs. Die meisten werden wohl für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben worden sein, doch leider fehlt dem Buch jeglicher Nachweis der Erstveröffentlichungen. Geordnet ist das Material recht locker in fünf Gruppen, die selbst wiederum nur auf einer sehr abstrakten Ebene miteinander zu tun haben. So beschäftigt sich das erste Kapitel mit Fällen von anekdotischer oder metaphorischer Seenot, das zweite widmet sich Problemen des Sinnverlustes, das dritte geht Redeweisen vom Grund und Boden nach, das vierte spricht von religiösen oder metaphysischen Weltordnungen und das letzte schließlich über die titelgebende Sorge.

Auch die Spannbreite der Reflexion ist hoch: Von der nacherzählten und dann knapp konterkarierten Anekdote bis zur ebenso scharfen wie kurz angebundenen philosophischen Ohrfeige ist alles vertreten, fast immer auch für den philosophisch interessierten Laien mit Gewinn zu lesen. Manches gerät Blumenberg geradezu prophetisch:

Doch nein: unsere Zitierer […] würden gar nicht erst feststellen können, daß sie falsch zitiert  hätten. Das Zitat war schon falsch bei dem, nach dem sie zitiert hatten.

Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß. Bibliothek Suhrkamp 965. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. Pappband, Fadenheftung, 227 Seiten. 11,– €.

Michail Bulgakow: Meister und Margarita

bulgakow_meisterMichail Bulgakow ist 1940 gestorben, so dass sein Werk zu Anfang des vergangenen Jahres gemeinfrei geworden ist. Nun legen Alexander Nitzberg und der Berliner Galiani Verlag, die mir zuletzt mit der inzwischen abgeschlossenen Ausgabe der Werke von Daniil Charms Vergnügen gemacht haben, eine Neuübersetzung von Bulgakows Hauptwerk »Meister und Margarita« vor. Da es noch nicht so sehr lange her ist, dass ich die alte Übersetzung von Thomas Reschke gelesen habe, habe ich mich bei der Neuausgabe vorerst auf Stichproben beschränkt.

Nitzbergs Übersetzung muss wohl als flott bezeichnet werden: Gleich aus den ersten drei grammatikalisch wohlgegliederten Sätzen Bulgakows macht Nitzberg ein parataktisches Prosageknatter von neun Sätzen, von denen einige nicht einmal ein Verb aufweisen können. Auf der zweiten Seite wird ein Satz des Dichters Besdomny dem Redakteur Berlioz zugeschustert. Bei jeder Gelegenheit wählt Nitzberg (im Vergleich zu Reschke) den knalligeren, lauteren, auffälligeren Ausdruck. In Ermangelung von nennenswerten Russischkenntnissen kann ich nicht beurteilen, wie weit Nitzbergs Entscheidungen vom Original gedeckt werden, aber ich habe den Verdacht, dass Bulgakow hier durch die Mühle eines Übersetzers gedreht wurde, der seinen Stil zuletzt auf einen Manieristen wie Charms eingerichtet und nicht ausreichend nachjustiert hat.

Den deutschen Leser muss nicht unbedingt interessieren, ob er eher eine Übersetzung oder eine Bearbeitung liest, wenn sich nur beim Lesen das erwartete Vergnügen einstellt. Und dafür ist Bulgakows »Meister und Margarita« allemal gut.

Michail Bulgakow: Meister und Margarita. Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani 2012. Bedruckter Pappband, Leinenrücken, Lesebändchen, 604 Seiten. 29,99 €.