Der fröhliche Selbstmörder, der sich schon dreißig Jahre vorher darauf freut.
Zu Beginn von Woody Allens „Annie Hall“ erzählt Alvy Singer zwei Witze; der erste geht so:
Es gibt da einen alten Witz. Äh: Zwei ältere Damen sitzen in einem Catskill-Berghotel – sagt die eine: »Gott, das Essen hier ist wirklich schrecklich!« – sagt die andere: »Stimmt, und diese kleinen Portionen!« – Naja, und im wesentlichen sehe ich so auch das Leben.
Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die Versuche zur Überwindung des Todes – mystisch als individuelle Unsterblichkeit, metaphorisch in der Erinnerung der Lebenden oder im Werk oder biologisch in den Nachkommen – sind bereits früh als entscheidende Antriebe menschlichen Handelns verstanden worden. Es wird aber wohl nur wenige Beispiele einer so ausgeprägten Todfeindschaft geben, wie sie „Das Buch gegen den Tod“ dokumentiert. Elias Canetti begriff sich als radikalen Gegner des Skandalons Tod und plante spätestens seit 1942 ein Buch gegen den Tod zu schreiben, zu dem aber letztendlich nie mehr als umfangreiche Notizen entstanden sind.
Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger haben nun aus den bereits veröffentlichten Notizen Canettis und dem Nachlass eine Auswahl zusammengestellt, die eine wenigstens ungefähre Vorstellung davon geben können, wie „Das Buch gegen den Tod“ hätte aussehen können. Etwa zwei Drittel des präsentierten Materials war bislang noch unveröffentlicht; angeordnet ist es chronologisch, wobei in jedem Jahr die bereits gedruckten Notizen den ungedruckten vorangestellt sind. Das Material bewegt sich vom aphoristischen Einzeiler über Zitate aus Zeitungen und Büchern bis hin zu autobiographischen Einträgen und Briefentwürfen, so etwa diejenigen, die sich um die Begegnungen und Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard drehen.
Aus all dem ergibt sich kein einheitliches Bild, sondern eine Gemengelage diverser mythologisch und rationalistischer Zugriffe, die immer wieder neu gewendet und durchdacht werden. Hin und wieder finden sich ganz unvermittelt Gedanken von einer bemerkenswerten Originalität:
Zum Mond
Vielleicht fehlen noch Tote auf dem Mond. Mit den ersten Menschen, die dort zugrundegehen, mit seinen ersten Toten, wird er uns vertrauter werden. (S. 133)
Wer das zu Ende denken kann, wird sowohl dem Begriff der Heimat als auch dem Sinn von Friedhöfen ein ganzes Stück näher sein.
Interessanterweise fehlt der biologische Zugriff auf den Tod als eine notwendige Voraussetzung höherer Evolution beinahe vollständig. Ob dies an der Auswahl liegt oder ob dieser Aspekt erst sehr spät im Denken Canettis auftaucht, kann aus dem vorliegenden Material nicht beurteilt werden. Erst unter den Notizen aus dem Jahr 1993 taucht das folgende Fragment eines Gedankens auf:
Der Darwinismus, der aus dem Tod etwas Fortschrittliches macht. (S. 304)
Wenigstens ich finde es sehr schade, dass dies als Gegengewicht zu dem mythologischen Denken Canettis erst so spät, zu spät wirksam zu werden scheint.
Kein Buch für eine systematische Lektüre, aber eine anregende und in allen Teilen interessante Materialsammlung.
Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Hg. v. Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger. München: Hanser, 2014. Pappband, 352 Seiten. 24,90 €.