Michael Chabon: Schurken der Landstraße

978-3-462-04189-7Witzger, kleiner Abenteuerroman, in dessen Zentrum zwei jüdische Abenteurer stehen, die sich im 10. nachchristlichen Jahrhundert im Reich der Chasaren zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer herumtreiben. Zelikman, offenbar ein Regensburger Arzt, und Amram, der aus Afrika stammt, geraten durch Zufall in die Folgen eines Staatsumsturzes. Ihnen fällt der einzige Überlebende des alten Herrscherhauses in die Hände, den sie zu einem Verwandten in Sicherheit bringen sollen. Aber natürlich geraten sie zwischen alle Fronten, so wie sich das für zwei echte Abenteurer gehört. Die Fiktion ist kenntnisreich und detailliert, die Fabel genretypisch, allerdings durch einige Übertreibungen und besonders auch den tief pessimistischen Zelikman – einen Don Quijote ganz eigenen Gepräges – weitgehend ironisiert.

Angenehme, leichte Lektüre für nebenbei, dafür aber deutlich zu teuer.

Michael Chabon: Schurken der Landstraße. Eine Abenteuergeschichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010. Pappband, Karte auf dem vorderen Vorsatz, 184 Seiten. 17,95 €.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Nur auf den allerersten Blick handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminalroman. Meyer Landsman, ein heruntergekommener Inspektor der Mordkommission, wird in dem nicht weniger heruntergekommenen Hotel Zamenhof, in dem er seit seiner Scheidung wohnt, vom Portier gebeten, sich einen Toten anzuschauen: Der Gast, der anscheinend von einem professionellen Killer erschossen wurde, nannte sich Emanuel Lasker. Er war drogenabhängig und offenbar tatsächlich, wie schon sein Deckname vermuten lässt, Schachspieler, denn unter seinen wenigen Habseligkeiten findet sich auch ein Schachbrett, auf dem Meyer Landsman eine komplizierte Stellung aufgebaut findet, die später noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Während Landsman mit seiner Untersuchung beginnt, entfaltet sich zugleich vor dem Leser eine eigentümliche Alternativwelt, die die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg neu erfindet. Noch im Zweiten Weltkrieg beginnen die USA europäischen Juden Asyl zu gewähren. Sie werden in einem eigenen District an der Südküste Alaskas, in Sitka, untergebracht. Umschlossen von den indianischen Tlingit bildet die Enklave Sitka das einzige zusammenhängende jüdische Siedlungsgebiet der Welt. Der Staat Israel ist in Michael Chabons Fassung der Weltgeschichte nur wenige Monate nach seiner Gründung im Krieg gegen die Araber wieder untergegangen. Aber auch der jüdische District Sitka steht unmittelbar vor seiner Auflösung: Seine Existenz wurde nur für 60 Jahre garantiert, und die US-Behörden bereiten die Rückgabe des Gebietes an die einheimischen Tlingit vor.

Auch die Mordkommission wird – unter Leitung von Meyer Landmans Ex-Frau Bina Gelbfish – abgewickelt. Noch gibt es einige ungelöste Fälle, und Bina möchte so viele wie möglich abschließen, bevor die Amerikaner übernehmen. Und obwohl Bina den neuen Fall des Toten im Zamenhof umgehend als abgeschlossen kennzeichnet, ermittelt Landsman mit seinem Partner Berko Shemets in der Sache weiter. Die Spur führt ihn  über den lokalen Schachtreff Sitkas zu den Verbover Juden. Emanuel Lasker erweist sich als Sohn des mächtigsten Verbover Rabbis Shpilman. Aufgewachsen als ein echtes Wunderkind, besonders auch fürs Schachspiel begabt, wurde Mendel Shpilman von vielen für den Messias seiner Generation gehalten. Und während Landsman zu verstehen versucht, wie es dazu gekommen ist, dass Mendel Shpilman tot in einer Absteige geendet ist, kommt er zugleich Schritt für Schritt einer weitreichenden politischen Verschwörung auf die Spur …

Chabons Kriminalroman ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite handelt es sich um ein offensichtliches und souverän geführtes Spiel mit den überlieferten Formen und Klischees des klassischen Detektivromans. Auf der anderen Seite erschafft Chabon überzeugend eine alternative Weltgeschichte, um seine jüdische Enklave mit ihrer eigenen Kultur und Sprache real erscheinen zu lassen. Dieser Reichtum an erfundener Welt hat zu einem ungewöhnlichen Umfang für einen Detektivroman geführt. Der Leser muss aber nicht befürchten, von Chabon eine Geschichtslektion übergestülpt zu bekommen, sondern die Details dieser Welt fließen peu à peu in den Erzähltext ein. Nur einem sorgfältigen Leser wird sich der ganze Reichtum dieses Buchs erschließen.

Die Schachspieler schließlich wird freuen, hier einmal einen Roman zu finden, in dem das Schachspiel nicht von einem weitgehend ahnungslosen Autor als dekorativer Zierrat missbraucht wird, sondern seine Darstellung aus genauen Kenntnissen des Autors entspringt. Die Darstellung sowohl der Patzer im Hotel Einstein als auch des Wunderkinds Mendel Shpilman, ja des Schachspiels insgesamt als integralem Bestandteil jüdischer Kultur überzeugt aufgrund der offensichtlich engen Vertrautheit Chabons mit dem Spiel und seiner Geschichte. Und nicht zuletzt steht ein Schachproblem im Zentrum des Buches, das von einem der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts stammt:

nabokov-matt-in-2

Matt in 2

Dieses Problem wurde von Vladimir Nabokov im Jahr 1940 in Paris komponiert, kurz bevor er Frankreich in Richtung USA verließ (vgl. Nabokovs Memoiren »Speak, Memory«, Ende des 14. Kapitels). Die Lösung wird hier natürlich nicht verraten.

Wer im Übrigen zu faul ist, den fast 500-seitigen Roman zu lesen, darf sich auf seine Verfilmung durch die Coen-Brothers freuen. Man kann sich für dieses Buch wohl keine besseren Drehbuch-Autoren und Regisseure wünschen.

Und da wir gerade beim Kino sind: Ab dem 7. Januar 2010 soll die Verfilmung der Schachschmonzette »Die Schachspielerin« (Joueuse) in die deutschen Kinos kommen. Das Buch von Bertina Henrichs hatte es 2006 auf die Bestsellerlisten geschafft und erzählt von der wundersamen Selbstfindung eines in die Jahre gekommenen griechischen Zimmermädchens, das durch das Erlernen des Schachspiels zu einer gänzlich neuen Weltsicht findet. Wollen wir hoffen, dass sich Regisseurin Caroline Bottaro einen ordentlichen Berater in Sachen Schach besorgt hat, denn die Buchvorlage zeugte ausschließlich von der schachlichen Ahnungslosigkeit ihrer Autorin.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. dtv 13793. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. 496 Seiten. 9,90 €.

(geschrieben für den Schachkalender 2010)

Michael Chabon: Wonder Boys

978-3-462-04027-2Ein weiterer Pittsburgh-Roman von Michael Chabon, diesmal aus der Perspektive eines Creative-Writing-Professors erzählt, der an einem Wochenende die Zuspitzung und Lösung seiner Lebenskrise durchlebt. Hintergrund bildet ein Literaturfestival des Colleges, an dem der Ich-Erzähler Grady Tripp arbeitet. Er hat vor einigen Jahren eine Reihe erfolgreicher Romane geschrieben, sitzt aber nun schon seit sieben Jahren an seinem nächsten Buch mit dem Titel Wonder Boys. Er ist ihm etwas aus den Fugen geraten, denn obwohl sein Ende noch in weiter Ferne zu liegen scheint, hat Tripp bereits mehr als 2.600 Seiten geschrieben.

Für das Wochenende des Literaturfestivals hat sich nun Tripps Lektor angesagt, der auf Tripps Roman zur Rettung seiner Karriere hofft. Am selben Tag, an dem Tripp seinem Lektor also wahrscheinlich gestehen muss, dass es vom Ende seines Romans weiter entfernt zu sein scheint als je zuvor, verlässt ihn außerdem noch seine Frau und seine Geliebte, die Rektorin seines Colleges, teilt ihm mit, dass sie schwanger von ihm ist. Und als sei dies nicht genug, muss er sich der Annäherungsversuche einer seiner Studentinnen erwehren und sich um einen seiner begabtesten Studenten kümmern, der suizidgefährdet zu sein scheint oder wenigstens so tut, als sei er es, und auch sonst ein Talent dafür hat, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Trotz des etwas abgegriffenen Themas – Krise eines alternden Autors – ist Chabon ein humorvoller und gut lesbarer Roman gelungen. Das Figurenensemble ist reichhaltig – beinahe zu reichhaltig; so lässt Chabon etwa einen zu Anfang eingeführten Transvestiten bald wieder verschwinden, da er offenbar nichts weiter mit ihm anzufangen weiß –, die Situationskomik gelungen und das Ende erträglich, wenn auch, nach dem vorangegangenen Chaos, ein wenig zu harmonisch. Aber Komödien müssen eben mit der Rettung des Protagonisten enden.

Michael Chabon: Wonder Boys. Deutsch von Hans Hermann. KiWi 1064. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. 384 Seiten. 8,95 €.

P. S.: Die Verfilmung des Romans mit Michael Douglas und Tobey Maguire in den Hauptrollen ist durchaus sehenswert, wenn sie sich auch einige Eingriffe ins Buch erlaubt.

Michael Chabon: Die Geheimnisse von Pittsburgh

978-3-462-03946-7 Erstlingsroman nach dem bewährten Strickmuster »der letzte Sommer der Jugend«. Ich-Erzähler ist der Student der Volkswirtschaft Art Bechstein, dessen Vater ein hochrangiges Mitglied einer nicht näher bezeichneten jüdischen Verbrecher-Organisation ist. Erzählanlass ist die Begegnung Arts mit dem homosexuellen Arthur Lecomte, der es offensichtlich auf eine Liebesbeziehung mit Art abgesehen hat, und der Bibliothekarin Phlox Lombardi, die dieselben Absichten verfolgt. Als weitere wichtige Figur tritt der Alkoholiker und Rocker Cleveland Arning hinzu, der für Arts Onkel Lenny Wucherzinsen eintreibt, aber gern ein richtiger Krimineller wäre.

Im Zentrum der locker gestrickten Handlung steht die emotionale Verwirrung Arts, der sich sowohl in Arthur als auch in Phlox verliebt und mit beiden eine Zeitlang eine Liebesbeziehung führt. Beide Beziehungen scheinen weitgehend von der Sexualität bestimmt zu sein, jedenfalls konnte ich – auch entgegen den Beteuerungen des Ich-Erzählers – keine andere Motivation entdecken. Immerhin gelingt dem Autor ein eher unerwartetes Ende de Romans.

Das Buch hat alles, was solch ein Buch braucht: Ein bisschen abseitigen Sex, ein paar albern unbeschwerte Szenen einer verklingenden Jugend, ein paar Besäufnisse, ein wenig Eifersucht, eine überwältigende Schönheit – Jane Bellwether –, die mit einem anderen liiert ist, und nicht zuletzt den morbid gefährlichen Hintergrund einer jüdischen Mafia. Einzig Drogen spielen – abgesehen vom Alkohol – erfreulicherweise keine bedeutende Rolle im Buch. Wenn man als Leser das Strickmuster erkennt und nicht mehr selbst in dem Alter des Erzählers ist, hat das Buch einige Längen, die aber tolerabel sind. Eine nette Lektüre, doch sollte man nicht zu viel erwarten.

Michael Chabon: Die Geheimnisse von Pittsburgh. Aus dem amerikanischen Englisch von Denis Scheck. KiWi 1011. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. 302 Seiten. 8,95 €.