Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix bei den Pikten

Asterix-bei-den-PiktenSpätestens seit der Aufnahme von „Asterix“ in die erste Auflage von „Kindlers Literatur Lexikon“ (1965 ff., nur echt ohne Bindestrich!) gehören die Geschichten um den kleinen Gallier und seinen vollschlanken Freund auch in Deutschland in den Kanon der Weltliteratur. Dies ist unbestreitbar ein Verdienst René Goscinnys gewesen, der mit „Asterix“ einen der wenigen Comics geschaffen hat, der in allen Altersgruppen und Leserschichten Freunde gefunden hat. Wie sehr „Asterix“ von der Originalität und dem Witz Goscinnys gelebt hat, mussten alle seine Leser schmerzlich erfahren, als Albert Uderzo die Reihe nach Goscinnys überraschendem Tod 1977 allein fortsetzte. Es gab zwar immer noch den ein oder anderen Band, der an die früheren erinnerte, wirkliche Höhepunkte aber fehlten, und die Erfolgsgeschichte schien mit dem Band „Gallien in Gefahr“ (2005) ihren absoluten Tief- und Endpunkt erreicht zu haben.

Natürlich ist es nicht einfach, einen solchen jahrzehntelangen Erfolg einfach auf sich beruhen zu lassen und zu akzeptieren, dass gewisse Dinge ihre Zeit haben und nun einmal zu einem Ende kommen, insbesondere wenn der Verdacht besteht, man könne noch Geld aus dem verbliebenen Ruhm schlagen. Da die Ikone Asterix nun einmal existiert, warum sie nicht in die kommerzielle Unsterblichkeit überführen? Gesagt, getan: Einen neuen Zeichner angeworben, der es perfekt versteht, Uderzos Stil zu imitieren, und einen neuen Autor, denn was immer der schreibt, es kann nicht schlimmer sein als das, was Uderzo zuletzt abgeliefert hat. Und mit der richtigen Werbekampagne läuft das auch: Ein weiterer mittelmäßiger Asterix-Band, der sich am bewährten Muster der Reise-Abenteuer entlangwurschtelt, einige der alten ikonographischen Muster aufgreift (Asterix und Obelix schreien sich mehrfach schlecht motiviert an, Majestix kämpft mit Schild-Problemen, Obelix wird rot, wenn ihn eine hübsche, junge Frau umarmt), dafür andere schlicht ignoriert (keine Massenschlägerei mehr im Gallierdorf, stattdessen viel gänzlich beliebiger Tratsch und Klatsch, keine Wildschwein-Jagd (wahrscheinlich nicht mehr politisch korrekt), Idefix bleibt daheim (eine gänzlich unverständliche Entscheidung, die viel Potenzial zu rein illustrativem Humor verschenkt) usw usf.). Das alles ist brav, aber ohne wirklichen Elan, ohne Originalität und ohne Witz.

Nicht einer der schlechtesten Bände, aber auch keiner von den wirklich guten. Ob unter dem neuen Team noch einmal die Höhe von Abenteuern wie „Streit um Asterix“ oder „Asterix auf Korsika“ erreicht werden wird, bleibt abzuwarten. Der Tiefpunkt jedenfalls ist vorerst einmal überwunden. Dauerhaft überleben wird die Reihe nur, falls es ihr gelingt, sich neu zu erfinden; danach sieht es derzeit aber nicht aus.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix bei den Pikten. Asterix Bd. 35. Berlin: Egmont Ehapa, 2013. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (56)

Da es jedoch auf vieles Bezug nimmt, was vielleicht nicht allgemein bekannt ist, […] liegt es im Interesse des Autors, einige der dunkleren historischen Anspielungen zu erklären. Dieser Pflicht zu genügen, mahnt ihn der bittere Kelch der Erfahrung, hat sie ihm doch oft gezeigt, dass, egal wie wenig das Publikum über eine Sache weiß, ehe sie seinen Blicken dargeboten wird, kaum hat man sie dieser schrecklichen Prüfung ausgesetzt, jeder Einzelne und alle zusammen, man könnte sagen, intuitiv, mehr von ihr verstehen als derjenige, der sie ihnen doch erst gezeigt hat; und dass es im Gegensatz zu dieser unbestreitbaren Tatsache für einen Schriftsteller oder einen Planer ein sehr unsicheres Experiment ist, auf die Erfindungskraft eines anderen Menschen zu vertrauen.

James Fenimore Cooper
Der letzte Mohikaner

Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale

Nickerson_EssexDer Untergang der Essex wäre heute wahrscheinlich ebenso vergessen wie zahlreichen andere Schiffskatastrophen vergangener Jahrhunderte, wenn er nicht das Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby-Dick« geliefert hätte. Melville lernte den Bericht Owen Chase’, des 1.Offiziers der Essex, bereits kennen, als er selbst noch auf einem Walfänger unterwegs war, erhielt sein eigenes Exemplar des Buches aber erst 1851, als sein Roman bereits weitgehend fertiggestellt war.

Natürlich darf das Schicksal der Essex auch ohne Beziehung auf den »Moby-Dick« Interesse für sich beanspruchen: Immerhin betont Chase in seiner Schilderung der Ereignisse, dass es unerhört sei, dass jemals ein Walfangschiff von einem Pottwal gezielt und direkt angegriffen, geschweige denn versenkt worden sei. Was die Zeitgenossen an dem Fall faszinierte, war aber nicht nur die außergewöhnliche Ursache des Untergangs der Essex, sondern auch das Schicksal der wenigen Überlebenden, die letztlich zum Kannibalismus Zuflucht nehmen mussten. Allein schon aus diesem schaurigen Detail erklärt sich, dass der Fall der Essex breit besprochen und noch nach Jahrzehnten bekannt war.

Der Band bei Penguin versammelt alle bekannten Quellen direkt von der Katastrophe Betroffener, von denen einzig der Bericht von Owe Chase in Buchform erschien. Der Bericht von Thomas Nickelson, dem jüngsten Mitglied der Crew der Essex, ergänzt den von Chase insoweit ganz gut, als Chase die Fahrt der Essex vor der Versenkung des Schiffs nur sehr rasch abhandelt. Im Zusammenhang mit Melville sind diese und die weiteren Quellen allerdings nicht erheblich, da er sie nicht gekannt haben kann.

Zusätzlich zu den Primärquellen werden die Notizen dokumentiert, die sich Melville auf den letzten, leeren Seiten seines Exemplars von Chase’ Bericht machte. Allerdings tragen diese Notizen zum Verständnis von »Moby-Dick« nur wenig bei; einzig dass sich Melville anhand des Buches von Chase selbst über die Glaubwürdigkeit des Endes seines Romans beruhigte, könnte vielleicht von Interesse sein.

Alles in allem ein ganz nettes Bändchen, wenn es auch nur von begrenztem Nutzen für den Melville-Leser ist.

Thomas Nickerson, Owen Chase, a. o.: The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale. First Person Accounts. Ed. by Nathaniel and Thomas Philbrick. New York: Penguin, 2000. Broschur, 231 Seiten. Ca. 11,– €.

Colin Crouch: Postdemokratie

Die Demokratie hat einfach nicht mit dem Tempo des sich globalisierenden Kapitalismus Schritt halten können.

978-3-518-12540-3Crouchs Schlagwort von der Postdemokratie wird gerade verstärkt genutzt, was Anlass war, mir den zugehörigen theoretischen Ansatz anzuschauen. Crouch geht von einem Lebenszyklus einer Demokratie aus, der einer nach unten offenen Parabel gleicht. Die westlichen demokratischen Gesellschaften hätten den Höhepunkt dieser Parabel bereits seit langem überschritten und näherten sich daher wieder un- bzw. vordemokratischen Verhältnissen, ohne zu diesen tatsächlich vollständig zurückzukehren. Der Durchgang durch die wahrhaft demokratische Phase hinterlasse untilgbare Spuren, die in der Phase des Verfalls scheindemokratische Strukturen erzeugen, die den Mangel an wirklicher Demokratie überdecken.

Nach Crouchs Auffassung sind die postdemokratischen Verhältnisse dadurch geprägt, dass globale Wirtschaftsunternehmen einen immer stärkeren Einfluss auf die Politik gewinnen, nicht nur in dem Sinne, dass sie durch Lobbyarbeit der Politik ihre Ziele vorgeben können, sondern auch in dem, dass Politik sich Strukturen, Methoden und Arbeitsweisen des industriellen Bereichs aneignet und ursprünglich originär politische oder administrative Aufgaben in den privatwirtschaftlichen Bereich auslagert. Dies gehe einher mit einem wachsenden Desinteresse eines Großteils der Bürger an Politik, was sich in schwindenden Mitgliederzahlen der Parteien niederschlage. Außerdem sei eine fortschreitende Entmachtung der Gewerkschaften festzustellen, so dass der reale Einfluss der breiten Masse der Bevölkerung auf die Politik immer weiter zurückgehe. Die Parteien wiederum unterschieden sich programmatisch immer weniger und setzten in ihren Wahlkämpfen auf eine stärkere Personalisierung. Das Beispiel der Forza Italia, die in ihren Anfängen über die Person ihres Parteiführers Berlusconi hinaus kein weiteres konkretes politisches Programm aufgewiesen und zudem eine erfolgreiche Verbindung von Medienmacht und Parteiarbeit demonstriert habe, stellt für Crouch eine typische Erscheinung postdemokratischer Verhältnisse dar. Crouch setzt an mehreren Stellen als den Umschlagspunkt zwischen demokratischen und postdemokratischen Verhältnissen die Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts an.

Ganz unabhängig davon, für wie einleuchtend oder zutreffend man Crouchs Analysen hält, ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, dass es sehr prägnant die politische Position eines Sozialisten in postkommunistischer Zeit darstellt. Da Crouch ein vertretbares gesellschaftliches Ideal abhanden gekommen ist, setzt er auf einen relativ vagen Begriff wie Demokratie und identifiziert ihn mit all dem, was er gesellschaftspolitisch für erstrebenswert hält: starke Macht der Gewerkschaften, eine von der globalen Wirtschaft unabhängige politische Ebene, den aufgeklärten, mündigen Bürger, der sich in Parteien und gesellschaftlich engagiert. Ohne nachzuweisen, dass solche Verhältnisse jemals tatsächlich irgendwo existiert haben, wird aus ihrem Nichtvorhandensein eine gesellschaftliche und politische Entwicklung konstruiert, aus der sich ein dringender Handlungsbedarf ableiten lässt. Denn natürlich hat Crouch wenn schon keine Lösung, doch zumindest einen Ausweg aus dem Desaster der Gegenwart (was allerdings sein Modell vom parabelförmigen Lebenszyklus der Demokratie etwas konterkariert): Aktive Bürgerbeteiligung auf zahlreichen politischen Ebenen (so etwa der – Entschuldigung! – schwachsinnige Vorschlag, eine Kommission zufällig ausgewählter Bürger solle einen Monat lang Gesetzentwürfe diskutieren und anschließend rechtskräftig verabschieden) und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den jetzigen demokratischen Parteien und Institutionen und den rezenten Protestbewegungen. Natürlich verrät uns Crouch nicht, wie dies angesichts des von ihm diagnostizierten postdemokratischen Desinteresses der Bürger an der Politik und der grundlegenden Verflechtung von Wirtschaft und Politik realisiert werden soll.

Als Analyse der derzeitigen politischen Verhältnisse etwas grobschlächtig, aber durchaus anregend. In seinem kritischen Potenzial letztlich naiv und nicht ernst zu nehmen.

Colin Crouch: Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. edition suhrkamp 2540. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Broschiert, 160 Seiten. 10,– €.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa

3-250-10282-2 Crespos Buch ist die umfangreichste Biografie des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa, die auf Deutsch vorliegt. Sie ist erstmals 1988 in Barcelona erschienen und wurde 1996 auf Deutsch vorgelegt, wohl schon mit Blick auf die Frankfurter Buchmesse 1997, bei der Portugal Gastland war. Die von mir gelesene deutsche Erstausgabe ist sprachlich an einigen Stellen sehr mangelhaft; ob und wie weit das in der »korrigierten« Taschenbuchausgabe bei Fischer 1998 behoben wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

Das Buch ist für einen deutschen Leser, der sich nicht schon zuvor mit der portugiesischen Literatur auseinandergesetzt hat, keine leichte Kost, da Crespo einige literarhistorische Kenntnisse schlicht voraussetzt. So werden Begriffe wie z. B. Saudosismus oder Paulismus weitgehend als bekannt vorausgesetzt. Dem gemeinen deutschen Leser empfehle ich daher, sich durch die Lektüre einer portugiesischen Literaturgeschichte (etwa der von Helmut Siepmann) etwas vorzubereiten. An anderen Stellen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass auch Crespo nicht so genau weiß, worüber Pessoa gerade redet, was ihn  allerdings nicht hindert, sich seitenweise darüber auszulassen.

Auch was die Darstellung des Werks Pessoas angeht, wünschte man sich an vielen Stellen weniger abgehobenes Palaver und mehr konkrete Information. So findet sich an keiner Stelle eine systematische Darstellung aller von Pessoa verwendeten Heteronyme. Der Leser würde gerne erfahren, welche Heteronyme Pessoa überhaupt verwendet hat, in welcher Reihenfolge sie wahrscheinlich entstanden sind, welche biografischen Daten über sie vorliegen und welche Charakteristika ihre Werke voneinander unterscheidet. Ich will nicht sagen, dass sich nicht ein bedeutender Teil dieser Informationen im Buch finden lässt, nur eben hier und da, so wie es dem Autor gerade in den Sinn gekommen ist.

Wie schon angedeutet, verbessert sich diese Lage auch dadurch nicht, dass zumindest die deutsche Erstausgabe sehr flüchtig übersetzt und produziert worden ist. Es finden sich zahlreiche schlicht ungrammatikalische Sätze, die weder dem Übersetzer noch dem Lektorat hätten entgehen dürfen.

Insgesamt ein recht schlechtes Buch, das aber leider im deutschen Sprachraum konkurrenzlos geblieben zu sein scheint. Beide Ausgaben sind inzwischen lange vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.

Ángel Crespo: Fernando Pessoa. Das vervielfältigte Leben. Aus dem Spanischen und Portugiesischen von Frank Henseleit-Lucke. Zürich: Ammann, 1996. Pappband, 496 Seiten, davon 16 mit Abbildungen.

Daniil Charms: Werke

978-3-86971-025-9Normalerweise werden hier nur Bücher vorgestellt, die bereits gelesen wurden, aber in diesem Fall soll und muss eine Ausnahme gemacht werden, da dieser Werkausgabe soviele Käufer und Leser wie möglich zu wünschen sind. Im Verlag Galiani, Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch, erscheint in vier Bänden die erste deutsche Werkausgabe der Schriften von Daniil Charms. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen, die beiden fehlenden sollen im kommenden Jahr folgen. Die Bände sind wie folgt aufgeteilt:

  1. Prosa
  2. Gedichte
  3. Theaterstücke
  4. Autobiografisches, Briefe, Essays

978-3-86971-029-7Bei Charms handelt es sich um einen der erstaunlichsten und humorvollsten absurden Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat zu Lebzeiten beinahe ausschließlich seine Geschichten und Gedichte für Kinder veröffentlichen können. Der Großteil seines Werkes lag nur in handschriftlichen Notizbüchern vor, die wie durch ein Wunder von staatlicher Beschlagnahme und Vernichtung im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Charms hat seine Werke unter größten Schwierigkeiten produziert und einen bedeutenden Teil seines kurzen Lebens unter politischer Verfolgung gelitten. Er ist in der Gefängnispsychiatrie während der Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht verhungert.

978-3-86971-023-5Trotz der staatlichen Versuche, Charms Werke zu unterdrücken, erschienen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutsche und englische Übersetzungen. In der Sowjetunion konnten Charms Schriften aber auch weiterhin nur in einzelnen Abschriften kursieren, und es kam erst ab 1997 zu einer Werkausgabe, die eine solide Textgrundlage lieferte.

Wie bereits gesagt, erscheint nun erstmals eine deutsche Werkausgabe, herausgegeben von Vladimir Glozer, einem Charms-Kenner, der leider bereits 2009 verstarb, und Alexander Nitzberg. Alle Texte werden in Neuübersetzungen vorgelegt. Begleitet wird die Werkausgabe mit einer Biografie, die Glozer aus Gesprächen mit Charms Lebensgefährtin Marina Durnowo zusammengestellt hat.

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an!

Daniil Charms: Trinken Sie Essig, meine Herren! Werke 1: Prosa. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Hg. v. Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung. 271 Seiten. 24,95 €.

Ders.: Sieben Zehntel eines Kopfs. Werke 2: Gedichte. Übersetzt und hg. von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen. 313 Seiten. 24,95 €.

Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Galiani, 2010. Pappband. 151 Seiten. 16,95 €.

Michael Chabon: Schurken der Landstraße

978-3-462-04189-7Witzger, kleiner Abenteuerroman, in dessen Zentrum zwei jüdische Abenteurer stehen, die sich im 10. nachchristlichen Jahrhundert im Reich der Chasaren zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer herumtreiben. Zelikman, offenbar ein Regensburger Arzt, und Amram, der aus Afrika stammt, geraten durch Zufall in die Folgen eines Staatsumsturzes. Ihnen fällt der einzige Überlebende des alten Herrscherhauses in die Hände, den sie zu einem Verwandten in Sicherheit bringen sollen. Aber natürlich geraten sie zwischen alle Fronten, so wie sich das für zwei echte Abenteurer gehört. Die Fiktion ist kenntnisreich und detailliert, die Fabel genretypisch, allerdings durch einige Übertreibungen und besonders auch den tief pessimistischen Zelikman – einen Don Quijote ganz eigenen Gepräges – weitgehend ironisiert.

Angenehme, leichte Lektüre für nebenbei, dafür aber deutlich zu teuer.

Michael Chabon: Schurken der Landstraße. Eine Abenteuergeschichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010. Pappband, Karte auf dem vorderen Vorsatz, 184 Seiten. 17,95 €.

Albert Camus: Die Pest

978-3-499-22500-0Der zweite Roman Camus’, der seit 1947 seinen Ruhm zuerst in Frankreich und dann auch rasch europaweit begründete. Erzählt wird von einer fiktiven Pestepidemie in Oran während der 1940er-Jahre. Die Mischung aus der weitgehend realistischen Handlung und den mitgelieferten philosophischen Deutungsangeboten macht sicherlich auch heute noch die Attraktivität des Buches aus. Camus versucht seine philosophische Auffassung nicht zu beweisen, sondern durch Illustration zu verdeutlichen.

Im Gegensatz zu Der Fremde steht diesmal ein sozialer Charakter im Zentrum des Romans: Dr. Rieux, der zugleich als Figur und als Erzähler agiert. Umgeben hat Camus seinen Protagonisten mit einem Ensemble unterschiedlicher Typen, die weniger Personen als vielmehr ethische bzw. soziale Positionen repräsentieren: Der Individualist Rambert, der Christ Paneloux, der politisch Engagierte Tarrou, der Schriftsteller Grand etc. Camus konfrontiert diesmal nicht den Vereinzelten mit seinem gewissen Tod, sondern eine differenzierte Gruppe mit einer Lotterie des Todes, die für die meisten einen negativen Ausgang bereit hält.

Diese existenzielle Grundstruktur des Romans wird offensichtlich von Beginn an unterwandert durch eine Allegorisierung der französischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung; nicht nur der zeitliche Rahmen, sondern auch das Defoe entnommene Motto weisen deutlich darauf hin. Nun nützt Ambiguität Romanen oft mehr als sie schadet, und so auch in diesem Fall. Während im Fremden die ideologische Konstruktion den Roman bis auf einige wenige Passagen beherrscht und letztlich alles von der Auflösung der letzten Seiten abhängt, atmet in Die Pest eine deutlich größere Freiheit. Wie entspannend sind etwa die Entwicklung der Freundschaft zwischen Rieux und Tarrou oder die Suche Grands nach dem perfekten ersten Satz für seinen Roman. Insgesamt zeigt das Buch ein deutlich größeres Vertrauen des Autors in das Erzählen selbst als sein Vorgänger.

Albert Camus: Die Pest. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22500. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 752008. 350 Seiten. 8,95 €.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten

Nur auf den allerersten Blick handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminalroman. Meyer Landsman, ein heruntergekommener Inspektor der Mordkommission, wird in dem nicht weniger heruntergekommenen Hotel Zamenhof, in dem er seit seiner Scheidung wohnt, vom Portier gebeten, sich einen Toten anzuschauen: Der Gast, der anscheinend von einem professionellen Killer erschossen wurde, nannte sich Emanuel Lasker. Er war drogenabhängig und offenbar tatsächlich, wie schon sein Deckname vermuten lässt, Schachspieler, denn unter seinen wenigen Habseligkeiten findet sich auch ein Schachbrett, auf dem Meyer Landsman eine komplizierte Stellung aufgebaut findet, die später noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Während Landsman mit seiner Untersuchung beginnt, entfaltet sich zugleich vor dem Leser eine eigentümliche Alternativwelt, die die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg neu erfindet. Noch im Zweiten Weltkrieg beginnen die USA europäischen Juden Asyl zu gewähren. Sie werden in einem eigenen District an der Südküste Alaskas, in Sitka, untergebracht. Umschlossen von den indianischen Tlingit bildet die Enklave Sitka das einzige zusammenhängende jüdische Siedlungsgebiet der Welt. Der Staat Israel ist in Michael Chabons Fassung der Weltgeschichte nur wenige Monate nach seiner Gründung im Krieg gegen die Araber wieder untergegangen. Aber auch der jüdische District Sitka steht unmittelbar vor seiner Auflösung: Seine Existenz wurde nur für 60 Jahre garantiert, und die US-Behörden bereiten die Rückgabe des Gebietes an die einheimischen Tlingit vor.

Auch die Mordkommission wird – unter Leitung von Meyer Landmans Ex-Frau Bina Gelbfish – abgewickelt. Noch gibt es einige ungelöste Fälle, und Bina möchte so viele wie möglich abschließen, bevor die Amerikaner übernehmen. Und obwohl Bina den neuen Fall des Toten im Zamenhof umgehend als abgeschlossen kennzeichnet, ermittelt Landsman mit seinem Partner Berko Shemets in der Sache weiter. Die Spur führt ihn  über den lokalen Schachtreff Sitkas zu den Verbover Juden. Emanuel Lasker erweist sich als Sohn des mächtigsten Verbover Rabbis Shpilman. Aufgewachsen als ein echtes Wunderkind, besonders auch fürs Schachspiel begabt, wurde Mendel Shpilman von vielen für den Messias seiner Generation gehalten. Und während Landsman zu verstehen versucht, wie es dazu gekommen ist, dass Mendel Shpilman tot in einer Absteige geendet ist, kommt er zugleich Schritt für Schritt einer weitreichenden politischen Verschwörung auf die Spur …

Chabons Kriminalroman ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite handelt es sich um ein offensichtliches und souverän geführtes Spiel mit den überlieferten Formen und Klischees des klassischen Detektivromans. Auf der anderen Seite erschafft Chabon überzeugend eine alternative Weltgeschichte, um seine jüdische Enklave mit ihrer eigenen Kultur und Sprache real erscheinen zu lassen. Dieser Reichtum an erfundener Welt hat zu einem ungewöhnlichen Umfang für einen Detektivroman geführt. Der Leser muss aber nicht befürchten, von Chabon eine Geschichtslektion übergestülpt zu bekommen, sondern die Details dieser Welt fließen peu à peu in den Erzähltext ein. Nur einem sorgfältigen Leser wird sich der ganze Reichtum dieses Buchs erschließen.

Die Schachspieler schließlich wird freuen, hier einmal einen Roman zu finden, in dem das Schachspiel nicht von einem weitgehend ahnungslosen Autor als dekorativer Zierrat missbraucht wird, sondern seine Darstellung aus genauen Kenntnissen des Autors entspringt. Die Darstellung sowohl der Patzer im Hotel Einstein als auch des Wunderkinds Mendel Shpilman, ja des Schachspiels insgesamt als integralem Bestandteil jüdischer Kultur überzeugt aufgrund der offensichtlich engen Vertrautheit Chabons mit dem Spiel und seiner Geschichte. Und nicht zuletzt steht ein Schachproblem im Zentrum des Buches, das von einem der bedeutendsten Romanciers des 20. Jahrhunderts stammt:

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Matt in 2

Dieses Problem wurde von Vladimir Nabokov im Jahr 1940 in Paris komponiert, kurz bevor er Frankreich in Richtung USA verließ (vgl. Nabokovs Memoiren »Speak, Memory«, Ende des 14. Kapitels). Die Lösung wird hier natürlich nicht verraten.

Wer im Übrigen zu faul ist, den fast 500-seitigen Roman zu lesen, darf sich auf seine Verfilmung durch die Coen-Brothers freuen. Man kann sich für dieses Buch wohl keine besseren Drehbuch-Autoren und Regisseure wünschen.

Und da wir gerade beim Kino sind: Ab dem 7. Januar 2010 soll die Verfilmung der Schachschmonzette »Die Schachspielerin« (Joueuse) in die deutschen Kinos kommen. Das Buch von Bertina Henrichs hatte es 2006 auf die Bestsellerlisten geschafft und erzählt von der wundersamen Selbstfindung eines in die Jahre gekommenen griechischen Zimmermädchens, das durch das Erlernen des Schachspiels zu einer gänzlich neuen Weltsicht findet. Wollen wir hoffen, dass sich Regisseurin Caroline Bottaro einen ordentlichen Berater in Sachen Schach besorgt hat, denn die Buchvorlage zeugte ausschließlich von der schachlichen Ahnungslosigkeit ihrer Autorin.

Michael Chabon: Die Vereinigung jiddischer Polizisten. Aus dem Englischen von Andrea Fischer. dtv 13793. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009. 496 Seiten. 9,90 €.

(geschrieben für den Schachkalender 2010)

Albert Camus: Der Fremde

978-3-499-22189-7Eine weitere Lektüre, die nach beinahe 30 Jahren wiederholt wurde. Die äußerliche Geschichte Meursaults dürfte so bekannt sein, dass ich sie hier nicht noch einmal nacherzählen brauche. Mir sind diesmal besonders zwei Dinge aufgefallen: Die Positionen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung während des Prozesses und die allgemeine Belanglosigkeit, mit der der ermordete Araber behandelt wird. Weder treten im Prozess Zeugen von Seiten des Ermordeten auf, noch verschwendet Meursault, der in seiner Zelle mit großer Sorgfalt und Geduld immer wieder die Ausstattung seiner Wohnung in Gedanken rekapituliert, viel Zeit mit Grübeln über seine Tat, geschweige denn über sein Opfer. Von da aus ergibt sich mir die Frage, welche der Figuren dieses Buch überhaupt Menschen repräsentieren.

Wenn der Fall Meursault mehr sein soll als eine Obskurität, wenn er denn tatsächlich etwas besagen soll, was über die Behauptung zufälliger Ereignisse hinaus geht – und so wird das Buch doch gemeinhin gelesen –, so habe ich den Verdacht, dass es sich am Ende um Banalitäten handelt. Die Justiz sucht weder dem Angeklagten noch dem Fall gerecht zu werden, sondern bestätigt im Akt der Verurteilung die öffentliche Moral. Deshalb stempelt sie Meursault zum »moralischen Ungeheuer«. Selbst die Verteidigung spielt nur eine Rolle in diesem Spiel, um den Anschein der Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten.

Andererseits kann Camus nichts weniger gebrauchen als Gerechtigkeit für seinen Protagonisten: Ein wegen Totschlags zu Zuchthaus verurteilter Meursault ist gänzlich unnütz für die existentialistische Zuspitzung des Textes. Nur der zum Tode Verurteilte kann sich heroisch vom transzendenten Trost des Anstaltgeistlichen abwenden, nur er kann seine Erfüllung im Hass der Menge gegen ihn finden, nur er kann die Gewissheit des Todes als Befreiung empfinden usw. usf.

Meursault bleibt bis zum Ende des Buchs ein Einzelner, kein »Mensch mit Menschen«. Selbst die Freundschaft Célestes oder die Liebe Maries berühren ihn nur für einen Moment, bevor er wieder in seine Egozentrik versinkt. Meursault ist letztlich nicht viel mehr als ein Soziopath, der nach der Intention des Autors als Exemplum des Menschen schlechthin dienen soll. Tut er aber nicht.

Albert Camus: Der Fremde. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22189. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 612008. 159 Seiten. 6,95 €.