Alexandre Dumas: Georges

Der Zufall hatte es glücklich gefügt, …

Mit der Besprechung dieses für ihn vergleichsweise kurzen Romans beende ich vorerst meine kleine Dumas-Reihe. Er ist 1843 veröffentlicht worden und spielt auf Mauritius, einer Insel, die im 18. und 19. Jahrhundert wechselhafte koloniale Herrscher hatte. Der Handlungsknoten wird im Jahr 1810 bei der Eroberung der Insel durch die Engländer geknüpft: Pierre Munier, einer der reichsten Plantagen-Besitzer der Insel, wird von seinen rein europäisch-stämmigen Kollegen als Mitstreiter gegen die anrückenden Engländer abgelehnt, obwohl er sich dann im Kampf natürlich aufs Beste bewährt und überhaupt der tollste Kerl ist. Nach einem Konflikt seiner beiden Söhne mit dem Sohn des Anführers der Europäer, entzieht er die beiden weiteren Drangsalierungen, indem er sie nach Europa zur Erziehung schickt. Vierzehn Jahre später kehren beide nach Mauritius zurück, der eine als vollendeter Gentleman, der andere als Pirat und Sklavenhändler.

Der Titelheld Georges reist gleich zusammen mit dem englischen Gouverneur an und bleibt zuerst unerkannt. Wie schon gesagt, ist er der vollendete Gentleman, der alle Charaktereigenschaften, die es dafür braucht, in sich vereint: Reichtum, Araberhengste und Arroganz. Nach eigener Aussage ist er nach Mauritius zurückgekommen, um ein Vorurteil zu bekämpfen; wie er das machen will, bleibt ihm selbst, dem Autor und den Lesern vollständig unverständlich. Tatsächlich erklärt er Sara, der Cousine und Verlobten seines Kindheits-Feindes, nach nur drei Begegnungen (bei deren einer er ihr immerhin das Leben rettet, als sie vom Autor dazu bestimmt scheint, von einem Hai gefressen zu werden) ihre weibliche Vollkommenheit und seine ewige Liebe. Der folgende Heiratsantrag wird, wie erwartet, von ihrem Onkel abgelehnt. Und nun nimmt das Schicksal erbarmungslos seinen Lauf.

Dazu gehört ein Sklavenaufstand, dessen Ausgang eines der übelsten rassistischen Klischees bedient, die man in der Weltliteratur finden wird. Es ist überhaupt ein Witz, dass diese Abenteuer-Scharteke als der politische Roman Dumas’ beworben wird. Sicherlich möchte Dumas ganz pro domo Menschen mit nicht vollständig europäischer Herkunft wie Europäer behandelt wissen, solange sie reich und gebildet genug sind, um zur feinen Gesellschaft dazuzugehören, aber weder hat er grundsätzliche Probleme mit der Sklaverei und dem Sklavenhandel noch hält er die Masse der Sklaven „von Natur aus“ für derselben Ehre fähig.

Ein üblicher Abenteuer-Roman des 19. Jahrhunderts, eher schlecht als recht konstruiert, mit einem oberflächlich kritischen Anstrich, ohne dass es tatsächlich zur Kritik oder auch nur Darstellung konkreter sozialer Verhältnisse kommt. Alles, was an Elend und Ungerechtigkeit im Roman vorkommt, scheint eine Frage der Ehre, nicht der moralischen, sozialen und monetären Verhältnisse zu sein. Natürlich wohnen die Sklaven in Hütten, die der Sturm einfach wegfegt, aber wenige Tage später können sie schon wieder fröhlich feiern und saufen. Ganz und gar fürchterlich!

Alexandre Dumas: Georges. Aus dem Französischen von Friedrich Ramhorst (1890). Berlin: Comino, 2020. Broschur, 224 Seiten. 12,90 €.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere

»Nun«, sprach Rochefort, »das ist abermals so ein Zufall, der dem anderen die Stange halten kann. […]«

Dieser Fortsetzungsroman entstand 1844 unmittelbar vor „Der Graf von Monte Christo“, und fällt im direkten Vergleich mit diesem deutlich ab. Zwar nimmt das Buch im letzten Viertel deutlich an Fahrt auf, und seine Konstruktion wird subtiler, aber es erreicht nicht die dichte Verflechtung seines Personals in die zentrale Intrige (hier sind es am Ende gleich zwei Intrigen, die über die Strecke helfen müssen), die „Der Graf …“ auszeichnet. Es fehlt ein sich über den gesamten Text erstreckender Plan; der Mittelteil der Erzählung besteht in der Hauptmasse aus rein anekdotischem Füllstoff, der die Leser unter- und hinhalten soll, bis es Zeit ist, das durchaus furiose Ende auszupacken.

Mit „Die drei Musketiere“ liefert Dumas ein französisches Pendant zu dem in England von Walter Scott erfolgreich begründeten Historischen Roman, der eine sogenannte spannende Handlung vor einen historischen Hintergrund setzt, der den Lesern mehr oder weniger vertraut ist. Bei Dumas dient dazu die Regierungszeit Ludwig XIII., den er ganz traditionell als einen schwachen König unter der Fuchtel des intriganten Kardinals Richelieu vorführt. Der Handlungszeitraum sind die Jahre 1625 bis 1628; der zweite Teil der Handlung fällt in die Zeit der Belagerung von La Rochelle.

Im Zentrum der Handlung steht der junge Gascogner d’Artagnan, der sich aufmacht, um in Paris Musketier zu werden, und dessen hauptsächliche Charaktereigenschaft ist, sich bei jeder Gelegenheit zu duellieren. Auf diese Weise macht er auch Bekanntschaft mit dem titelgebenden Trio Athos, Porthos und Aramis, mit denen zusammen er sogleich in eine staatsumstürzende Intrige verwickelt wird. Besonders dieser erste Teil der Erzählung ist zahlreich verfilmt worden; auf eine Verfilmung des zweiten, dunkleren und voraussetzungsreicheren Teils hat man in der Regel klugerweise verzichtet. Allerdings muss man Dumas einräumen, dass seine Einbeziehung der Ermordung des Herzogs von Buckingham in die Handlung, so unwahrscheinlich seine Konstruktion auch immer sein mag, ein kleines schriftstellerisches Meisterstück bildet. Ansonsten ist auch diesem Buch die Geschwindigkeit anzumerken, mit der Dumas arbeiten musste, so dass es Flüchtigkeitsfehler – so wird etwa d’Artagnan gleich zweimal zum Musketier gemacht (S. 360 und 544) – bis in die Buchausgabe geschafft haben.

Dumas hat zu diesem Erfolgsroman gleich zwei Fortsetzungen von jeweils etwa gleicher Länge geliefert – „Zwang Jahre später“ (1845) und „Der Vicomte von Bragelonne“ (1847) –, mit denen er dem Interesse des Publikums des 19. Jahrhunderts an Historischen Romanen entgegenkam. Ob ich diese Teile, die ich nicht bereits gelesen habe, ebenfalls hier besprechen werde, ist derzeit noch nicht entschieden.

Es ist in jedem Fall zu empfehlen, „Die drei Musketiere“ vor oder mit einigem Abstand zu „Der Graf von Monte Christo“ zu lesen; man kann alternativ auch die Kapitel 29 bis 42 getrost querlesen, ohne viel zu versäumen. Auch dieser Ausgabe liegt die Übersetzung von August Zoller (1845) zugrunde, die hier ebenfalls modernisiert, aber nicht gekürzt wurde.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere. Aus dem Französischen von August Zoller. Neu überarbeitet von Michaela Meßner. dtv 14765 (Neuausgabe 2020). München: dtv, 22024. Broschur, 748 Seiten. 15,– €.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo

»Merken Sie sich Herr Intendant«, entgegnete er, »daß alles und immer an denjenigen verkauft wird, der den rechten Preis zu bezahlen vermag.«

Dass dieser Roman hier frech unter der Rubrik Wiedergelesenes angezeigt wird, ist wahrlich eine Übertreibung. In der mütterlichen Bibliothek fand ich eine Ausgabe des Romans, die so um die 400 Seiten gehabt haben dürfte und die von einem Burkhard Busse angeblich „in Sprache u. Orthographie in e. zeitgemäße Form gebracht“ worden war. Die hier vorgestellte „vollständige Ausgabe“ – ob diese Beschreibung tatsächlich zutrifft, ist bei dtv auf Anhieb nicht immer zu entscheiden – verfügt über knapp 1.500 und noch dazu eng bedruckte Seiten. Grundlage ist wohl die Zollersche Übersetzung von 1846, die also unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans im französischen „Journal de Débats“ erfolgte, was noch heute eine Vorstellung davon gibt, was für eine Sensation der Roman bei seinem Erscheinen gemacht haben muss.

Was das Buch erzählt, ist einerseits rasch zusammenzufassen: Der Seemann Edmond Dantès aus Marseilles gerät aufgrund seiner Naivität ungewollt in die Verschwörung um Napoleons Rückkehr von der Insel Elba und wird durch ein Zusammentreffen boshaft herbeigeführter Umstände vom stellvertretenden Staatsanwalt in Marseilles ohne Prozess zu einer zeitlich unbegrenzten Haft auf einer Gefängnisinsel verurteilt. Als er nach 14 Jahren endlich fliehen kann, gerät er durch einen weiteren Zufall in den Besitz eines potenziell unbegrenzten Vermögens, mit dessen Hilfe er seine Rache in Szene zu setzen beginnt. Nach etwa einem Drittel erreicht Dantès als Graf von Monte Christo, einer seiner drei hauptsächlichen Tarnidentitäten, Paris, wo der mehr als erfolgreiche Vollzug seiner Rache an den vier Hauptbeteiligten beinahe den kompletten Rest des Romans füllt. Andererseits müsste man, um den zum Teil haarsträubenden Beziehungen und Verwicklungen der Figuren und Ereignisse zu- und untereinander gerecht zu werden, zahlreiche Seiten füllen. Das Buch strotzt nur so von Unwahrscheinlichkeiten – selbst Dumas macht sich auf den letzten Seiten über diese Zumutung lustig –, die als ein von Dantès’ langer Hand ausgetüftelter Plan verkauft werden. Dantès versteht seine Rache dabei als Mission from God (dies dürfte einer der offensichtlichen Gründe gewesen sein, weshalb Dumas’ Schriften 1863 auf dem Index gelandet sind), woran ihm zwar zwischenzeitlich Zweifel kommen, von denen ihn aber sein Autor glücklich gleich wieder befreien kann.

Der Umfang des Buches ergibt sich nicht nur aus den Verwicklungen der Handlung, sondern auch daraus, dass sich Dumas als ein Meister der Retardation erweist: Immer wieder tauchen neue Figuren im Text auf, denen auf umständlichste Weise erklärt werden muss, was bisher geschah (manche Episoden der Fabel werden gleich vier- oder fünfmal erzählt); alle Gespräche werden auf die umständlichste aller möglichen Weisen geführt (die Spitze stellt wahrscheinlich das Gespräch zwischen Dantès und Maximilien in Kapitel 94 dar, in dem der junge Liebhaber Maximilien von seiner vergifteten Liebe Valentine zu Monte Christo um Hilfe eilt, nur um zuerst seitenweise belangloses Gewäsche zu erzeugen, bis er auf den Punkt kommen kann); Handlungsfäden werden auf komplizierteste Weise in Gang gesetzt, nur um dann kurz vor ihrem Abschluss noch einmal umgebogen und in eine andere Richtung weiterentwickelt zu werden und was der Späße mehr sind. Wenn man als Leser nicht atemlos dem Abenteuer folgt, sondern sich den Spaß macht, die Absicht all dieser Verzögerungen und Windungen zu verstehen – immer noch mehr Seiten und damit Honorar aus der ohnehin schon viel zu langen Handlung zu schlagen! –, ist das Ganze nicht ohne Vergnügen zu lesen, wie trivial und unwahrscheinlich es auch sein mag. In summa: Einerseits eine hanebüchene Handlung, die im Detail immer wieder unter der notwendigen Flüchtigkeit ihres zu viel und viel zu schnell schreibenden Autors leidet, andererseits eine auch entgegen aller Wahrscheinlichkeit faszinierende Konstruktion.

Neben diesem formalen Aspekt dürften der Anschluss an die historischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und Dumas’ karikierende Zeichnung der Pariser besseren Gesellschaft wesentlich zu dem Erfolg des Romans beigetragen zu haben: Dantès wird unmittelbar Opfer einer Gesellschaft, die die Verwerfungen ihrer eigenen Zeitgeschichte so weit wie möglich unter den Teppich kehren möchte, um den Ablauf ihrer Geschäfte und Karrieren nicht zu stören. Und er benutzt für seine Rache die Strukturen eben dieser Gesellschaft, in der es an der Oberfläche um Ehre und Ansehen, im Wesentlichen aber immer nur um Geld geht. Dumas erfüllt mit diesem Zeitportrait die beinahe schon moderne Maxime, Kunst gerade dort zu machen, wo man sie am wenigsten erwartet.

Der Roman verdient, in seiner ganzen Komplexität und Trivialität gelesen zu werden. Ich rate daher dringlich davon ab, eine der gekürzten bzw. bearbeiteten Ausgaben zu lesen oder sich mit einer der wirklich zahlreichen Verfilmungen zufrieden zu geben. Wer ein echtes Meisterstück des Fortsetzungsromans – einer der wichtigsten Romanformen des 19. Jahrhunderts – erleben will, greife zu einer möglichst vollständigen Ausgabe wie dieser.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo. dtv 13955. München: dtv, 72019. Broschur, 1495 Seiten. 20,– €.

Fjodor Dostojewskij: Weiße Nächte

Doch noch ein Nachklapp zu meiner Dostojewskij-Lektüre: Weiße Nächte ist im Schicksalsjahr Dostojewskijs 1848 entstanden und erschienen, in dem er später verhaftet und in der Folge zum Tode verurteilt, begnadigt und nach Sibirien strafverschickt wurde. Das kleine Büchlein trägt die Genre-Bezeichnung „Ein empfindsamer Roman“; seiner Länge entsprechend hat es sein früherer Übersetzer Alexander Eliasberg ganz richtig als Novelle eingeordnet. Erzählt wird von vier Nächten im Hochsommer in Sankt Petersburg, wo es bekanntlich in dieser Zeit nicht mehr richtig dunkel wird. Dort trifft ein romantisch-verträumter Flaneur auf ein junges, eher praktisch veranlagtes Mädchen, das er vor einer unschicklichen Belästigung beschützen kann; so macht er seine Bekanntschaft.

Wie junge Leute so sind, erzählen sie einander ihr Leben: Der junge Mann von seiner Realitätsflucht in die Phantasie, das junge Mädchen von seinem Leben an der Seite ihrer blinden Großmutter und von ihrer Liebe zu einem ehemaligen Untermieter, der nach Moskau gegangen sei, um Geld für eine gemeinsame Zukunft zu verdienen, aber bislang nicht zu ihr zurückgekommen ist. Doch nun wird der namenlose Ich-Erzähler plötzlich selbst sehr praktisch und nötigt die junge Frau, sich in einem Brief an den Vermissten zu wenden; und alles andere kommt dann so, wie es kommen muss.

Die Erzählung ist ganz nett, bewegt sich aber durchaus im Rahmen dessen, was man als romantische Epigonie bezeichnen darf. Die „weißen Nächte“ und die beiderseits vorhandene Armut bleiben nur Staffage, die erzählerischen Motive sind wenig originell und auch die abschließende Zuspitzung der Frau zwischen zwei Männern bringt nichts wirklich Eigenständiges hervor. Dostojewskijs Bücher nach seiner Rückkehr aus Sibirien sind dann wirklich schon sehr anders geraten.

Fjodor Dostojewskij: Weiße Nächte. Ein empfindsamer Roman. Aus den Erinnerungen eines Träumers. Aus dem Russischen von Johannes von Guenther. RUB 14237. Stuttgart: Reclam, 2021. (Neuausgabe des Bandes von 1969). Broschur, 123 Seiten. 4,40 €.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Zum vorläufigen Abschluss meiner Dostojewskij-Lektüre noch einmal eine Rückkehr fast ganz zum Anfang: Im Januar 2019 hatte ich hier die vor der Reihe der letzten sechs Romane entstandenen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch in der damals aktuellsten Übersetzung Swetlana Geiers besprochen. Dieser vergleichsweise kurze Text, der eine Mischung aus essayistischer Reflexion und fiktiver autobiografischer Erinnerung des Erzähler liefert, war bei seinem Erscheinen nur wenig beachtet worden und wurde in seiner Bedeutung als thematische Vorschule zahlreicher Themen, die dann in den „fünf Elefanten“ entfaltet werden sollten, erst viel später begriffen. Ich selbst habe es als die Eröffnung des psychologischen Labors Dostojewskijs bezeichnet.

Im Jubiläumsjahr legt nun Manesse in seiner Bibliothek eine Neu­über­set­zung des Textes durch Ursula Keller vor. Zum Inhalt des Buches sei auf die frühere Besprechung verwiesen; das muss hier nicht wiederholt werden. Was Stil und Wortwahl angeht, unterscheiden sich die beiden Über­­­set­­­zun­­gen allerdings deutlich. Gleich auf den ersten Blick erscheint die Übersetzung Kellers oft konkreter und bildhafter im Ausdruck:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z. B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit. Sie werden sicher nicht geneigt sein, das zu verstehen. Nun, meine Herrschaften, ich verstehe es aber. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wen ich mit meiner Bosheit ärgern will, ich weiß auch ganz genau, daß ich nicht einmal den Ärzten dadurch schaden kann, daß ich mich nicht von ihnen behandeln lasse; ich weiß am allerbesten, daß ich damit einzig und allein mir selbst schade und niemandem sonst.
Und dennoch, wenn ich nichts für meine Gesundheit tue, so geschieht es aus Bosheit, und ist die Leber krank, dann mag sie noch ärger krank werden!

Geier, S. 7 f.

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich. Ich glaube ich bin leberkrank. Eigentlich habe ich nicht die geringste Ahnung, woran ich erkrankt bin, und weiß nicht einmal sicher, worunter ich leide. Ich bin nicht in Behandlung und war auch nie in Behandlung, obwohl ich Medizin und Ärzten Respekt entgegenbringe. Zugleich bin ich über die Maßen abergläubisch; nun, wenigstens so sehr, dass ich der Medizin Respekt entgegenbringen. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, und doch bin ich abergläubisch.) Nein, mit Verlaub – ich will mich aus reinem Trotz nicht in Behandlung begeben. Und genau das werden sie wohl nicht verstehen wollen. Nun, aber ich verstehe es. Ich vermag Ihnen, selbstredend, nicht zu erklären, wem ich mit diesem Trotz das Leben schwer machen; ich weiß sehr genau, dass ich den Ärzten ja damit, dass ich nicht bei ihnen in Behandlung bin, «keinen Haufen vor die Tür» setze; ich weiß selbst am besten, dass sich mit alledem nur mir ganz allein schade und niemandem sonst. Und trotzdem – wenn ich nicht in Behandlung bin, so ist das reiner Trotz. Die Leber ist krank, soll sie doch noch kränker werden!

Keller, S. 9 f.

Von der Frage des zusätzlichen bzw. fehlenden Absatzes abgesehen, erscheint es schon als deutlicher Unterschied, ob der Erzähler sich aus Bosheit oder Trotz der ärztlichen Behandlung verweigert, ob er den Ärzten dadurch nicht schadet oder ihnen keinen Haufen vor die Tür setzt. Solche Unterschiede finden sich kontinuierlich durch den ganzen Text hindurch, begleitet von weiteren seltsamen Phänomenen wie zum Beispiel Klammern, die an unterschiedlichen Stellen des Textes geschlossen werden. Leider hindert mich meine Unkenntnis des Russischen daran, mehr zu tun, als auf diese durchaus eklatanten Unterschiede hinzuweisen. Ein kritisches Urteil muss andernorts gefällt werden. (Für Hinweise auf ein kompetentes Urteil sei gleich hier im Voraus gedankt!)

Wenigstens muss der Neuübersetzung von Ursula Keller attestiert werden, dass sie den Text an zahlreichen Einzelstellen und im Ganzen ver­ständ­li­cher und differenzierter zu übersetzen scheint, dass die durchweg außergewöhnlichen Gedankengänge des Erzählers in ihr weniger obskur und dunkel erscheinen.

Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Aus dem Russischen von Ursula Keller. München: Manesse, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 312 Seiten. 25,– €.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

Meistens sind die Menschen, sogar Bösewichte, wesentlich naiver und einfältiger, als wir annehmen. Wir sind ja auch nicht anders.

Der letzte der „fünf Elefanten“, im Jahr 1880 als letzter und zugleich umfangreichster Roman Dostojewskijs erschienen. Die Handlung lässt sich in zwei klar voneinander zu unterscheidende Abschnitte teilen: Im ersten Abschnitt geht es hauptsächlich um den jüngsten der drei (eventuell auch vier) Brüder Karamasow, Alexej, der zu Anfang des Romans noch in einem Kloster in seiner Heimatstadt in der russischen Provinz lebt. Dort ist er Vertrauter und Faktotum eines Einsiedlers, um dessen letzte Lebenstage und Sterben die Ereignisse angeordnet sind. Dostojewskij schafft sich damit Gelegenheit, in ausführlicher Breite seine Sicht des russischen Christentums auszubreiten, er geht sogar soweit, dass das komplette sechste Buch der Lebensbeschreibung und den Ansichten des Einsiedler gewidmet ist. Aber auch hier lässt Dostojewskij wieder mehr als nur eine Stimme vernehmen: So wird die über den Roman hinaus bekannte Erzählung Der Großinquisitor in den Roman eigeflochten, die der zweitälteste Bruder Iwan Karamasow seinem jüngeren Bruder Alexej erzählt und die eine eher skeptische Sicht auf die Kirche allgemein, die römisch-katholische Kirche im Speziellen präsentiert.

Mit dem achten von zwölf Büchern beginnt dann die Geschichte Dmitrij Karamasows, des ältesten Bruders, der aus der ersten Ehe des Vaters Fjodor Pawlowitsch stammt. Dmitrij hat den unsteten Charakter seines Vaters geerbt, ist Soldat geworden und hat das Erbe seiner Mutter weitgehend durchgebracht. Er befindet sich mit dem Vater in einem Streit darüber, ob ihm aus diesem Erbe noch eine Restzahlung zusteht; außerdem konkurrieren die beiden Männer trotz ihrem unterschiedlichen Alter um dieselbe Frau, Gruschenka, die ihre Unabhängigkeit dadurch unter Beweis stellt, dass sie beide Bewerber auf Distanz hält. Dmitrij ist zudem verschuldet: Er hat Geld, das ihm seine ehemalige Verlobte – in die wiederum Iwan Karamasow unglücklich verliebt ist – anvertraut hat, veruntreut und damit ein rauschendes Fest mit der umworbenen Gruschenka finanziert, ohne dass ihn das seinem Ziel irgendwie näher gebracht hätte. Nun sucht er verzweifelt nach jemandem, der ihm 3.000 Rubel leiht, damit er dieses veruntreute Geld zurückgeben kann.

Es kommt nun zu einer Reihe von Ereignissen, in deren Verlauf der Vater Fjodor Karamasow erschlagen und beraubt wird, wobei eine überwältigende Kette von Indizien auf Dmitrij als den Täter hinweist: Er ist plötzlich wieder zu Geld gelangt, hat das Fest für Gruschenka wiederholt, war in der Nacht zuvor nachweislich zumindest im väterlichen Garten und hat dort flüchtend den alten Diener des Hauses niedergeschlagen. Dmitrij wird verhaftet, ausführlich befragt und schließlich angeklagt. Der Mordprozess bildet den Höhepunkt und Abschluss des Romans. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Erzählerisch variiert Dostojewskij hier noch einmal das Erfolgsmuster aus Böse Geister: Ein Ich-Erzähler, der von Teilen der Handlung unmittelbarer Zeuge war, berichtet das Geschehen, wobei er wechselweise als auktorialer Erzähler oder distanzierter Beobachter auftreten kann. Nach einer langen Phase, die ganz anderen Themen gewidmet zu sein scheint und die nur ganz nebenbei die Kriminal-Handlung des zweiten Teils Stück für Stück vorbereitet, rückt ein Verbrechen und – diesmal – seine polizeiliche und juristische Behandlung in den Mittelpunkt, hier mit dem Schwergewicht auf dem Problem, das wirkliche Geschehen aus einer Reihe von Indizien herleiten zu können. Sowohl das Bild, das der Staatsanwalt von dem Geschehen entwirft als auch die epistemische Kritik des Verteidigers an diesem Bild verfehlen das tatsächliche Geschehen, das dem Leser zwar mitgeteilt wird, in der Welt des Romans aber unbeweisbar bleibt. Besonders diese zweite Hälfte des Romans brilliert mit dem, was man Dostojewskijs „Psychologie“ zu nennen beliebt.

Insgesamt ein zu langer Roman, dem man aber dennoch eine gewisse Balance nicht ganz abstreiten kann. Während das Hauptthema des ersten Teils heute weitgehend obsolet geworden sein dürfte, ist der zweite Teil des Romans durchweg interessant, wenn hier auch einige Elemente deutlich zu dramatisch geraten sind. Allerdings ist der zweite Teil ohne die vorbereitenden Elemente des ersten nicht wirklich zu verstehen, so dass man nur die Wahl „ganz oder gar nicht“ hat.

Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Ammann, 2003. Leinenband, Fadenheftung, 1279 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 18,– €.

Zum 200. Geburtstag von Fjodor M. Dostojewskij

»Mein Freund, die Menschen so zu lieben, wie sie sind, ist unmöglich. Das ist aber geboten. Deshalb tu ihnen Gutes, nimm dich zusammen, halt dir die Nase zu und schließe die Augen (das letzte ist unumgänglich). Ertrage das Böse, was sie dir antun, nach Möglichkeit, ohne es ihnen übelzunehmen, eingedenk dessen, daß auch du Mensch bist. Selbstverständlich behandelst du sie mit der gebotenen Strenge, wenn du auch nur um ein weniges klüger bist als das Mittelmaß. Die Menschen sind ihrer Natur nach niedrig und lieben am liebsten aus Furcht; laß dich zu einer solchen Liebe nicht herab, und gib die Verachtung nicht auf. Irgendwo im Koran befiehlt Allah dem Propheten, die ›Ruchlosen‹ nicht anders als Mäuse anzusehen, ihnen Gutes zu tun und achtlos an ihnen vorüberzugehen – ein wenig überheblich, aber richtig. Übe dich in Verachtung selbst dann, wenn sie gut sind, denn meistens sind sie gerade dann auch schlecht. Oh, mein Lieber, ich sage das, weil ich von mir auf andere schließe! Wer nur nicht hoffnungslos dumm ist, der kann nicht leben, ohne sich selbst zu verachten, ob Ehrenmann oder ehrlos – ganz egal. Seinen Nächsten zu lieben, ohne ihn zu verachten – das ist unmöglich. Meiner Meinung nach ist der Mensch mit der physischen Unmöglichkeit erschaffen, seinen Nächsten zu lieben. Hier steckt von Anfang an ein Fehler in der Wortwahl, und ›Liebe zur Menschheit‹ bezieht sich nur auf jene Menschheit, die du dir selbst in deiner Seele erschaffen hast (mit anderen Worten, auf dich selbst und auch auf die Liebe zu dir selbst) und die deshalb niemals Wirklichkeit werden wird.«

Fjodor M. Dostojewskij
Ein grüner Junge

Zum 700. Todestag von Dante Alighieri

Viel schlimmer aber war es, wenn Dante zur Sprache kam. Ein junger Mann von Stande und Geist und wirklichem Anteil an jenem außerordentlichen Manne, nahm meinen Beifall und Billigung nicht zum besten auf, indem er ganz unbewunden versicherte: jeder Ausländer müsse Verzicht tun auf das Verständnis eines so außerordentlichen Geistes, dem ja selbst die Italiäner nicht in allem folgen könnten. Nach einigen Hin- und Widerreden verdroß es mich denn doch zuletzt und ich sagte: ich müsse bekennen, daß ich geneigt sei, seinen Äußerungen Beifall zu geben; denn ich habe nie begreifen können, wie man sich mit diesen Gedichten beschäftigen möge. Mir komme die Hölle ganz abscheulich vor, das Fegefeuer zweideutig und das Paradies langweilig; womit er sehr zufrieden war, indem er daraus ein Argument für seine Behauptung zog: dies eben beweise, daß ich nicht die Tiefe und Höhe dieser Gedichte zum Verständnis bringen könne. Wir schieden als die besten Freunde; er versprach mir sogar einige schwere Stellen, über die er lange nachgedacht und über deren Sinn er endlich mit sich einig geworden sei, mitzuteilen und zu erklären.

MA XV, 461 f.

Johann Wolfgang von Goethe
Italienische Reise

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt III & IV

Ob es sich um die Abschreckung durch Atombomben, um Atomkraftwerke, um die Lagerung von Atommüll, um die Plünderung unseres Planeten usw. handelt, immer reden diejenigen, welche daran glauben, uns ein, wir sollen glauben, was sie tun, sei absolut sicher.

Die 1990 erschienen Stoffe IV–IX unterscheiden sich deutlich von dem beinahe 10 Jahre älteren Band. Dürrenmatts Verleger Daniel Keel hatte gehofft, der zweiten Band könne bereits kurz nach dem ersten erscheinen, doch Dürrenmatts Arbeitsweise, der Tod seiner Frau Lotti im Jahr 1983, seine neue Beziehung zu Charlotte Kerr, die ihn zurück zum Drama brachte, all dies beeinflusste und unterbrach immer wieder die Arbeit an der Fortsetzung. Zudem bewiesen einige der Stoffe sich als so dynamisch, dass sie sich in eigenständige Projekte verwandelten, so etwa den 1989 herausgegeben letzten Roman Dürrenmatts Durcheinandertal.

Es wundert bei der langen Entstehungszeit nicht, dass der zweite Band deutlich uneinheitlicher geraten ist. Der große biographische Bogen wird nur teilweise fortgesetzt, die biographische Erzählung wird insgesamt bruchstückhafter und anekdotischer. Zugleich nimmt der essayistische Anteil des Textes deutlich zu. Auch bleiben die Stoffe selbst eher skizzenhaft und summarisch, wie es auch schon für Der Rebell im ersten Bad festgestellt wurde. Wie man die ausgewählten Stoffe letztendlich beurteilt, hängt sicherlich von zahlreichen Vorbedingungen ab. So ist etwa das abschließende Kapitel Das Hirn, das so etwas wie ein evolutionäres Gesamtbild der Entstehung des Universum als Fiktion eines freischwebenden Bewusstsein versucht, inhaltlich heute kaum mehr überzeugend, was aber auch daran liegt, dass heute selbst der oberflächlichste Konsument des Fernsehen mit so zahlreichen Dokumentationen über alles mögliche zugeschüttet wird, dass ihm das alles als alte Kamellen erscheinen dürfte. Hier war die Rezeptionssituation in den 1980er Jahren, auf die Dürrenmatt zielte, natürlich eine komplett andere. Alles in allem ist eine angemessene Lektüre dieser Texte nicht einfach.

Eine zumindest für Dürrenmatt-Kenner wichtige Ergänzung dürfte seine Rekonstruktion seines ersten Theaterstücks Der Turmbau zu Babel sein, die sich im Anhang zu Band IV dieser Ausgabe findet. Dürrenmatt hatte zumindest einen Teil der ersten Fassung vernichtet; andere Teile sind wohl eher ungewollt erhalten geblieben. Aus demselben Stoffkreis hat Dürrenmatt dann später Ein Engel kommt nach Babylon (1953) entwickelt, eines seiner zahlreichen religiös grundierten Dramen.

Band III liefert unter anderem ergänzend dazu eine ganze Reihe weiterer Stoffe, die es nicht bis in die publizierte Fassung geschafft haben; wichtig ist hier auf jeden Fall Dürrenmatts breite Auseinandersetzung mit dem Prometheus-Mythos.

Diese Reihe von Besprechungen ist von der Frage ausgegangen, ob der hier betrieben Aufwand von den Texten der beiden veröffentlichten Bände gerechtfertigt werden kann. Für Dürrenmatt-Kenner und die -Liebhaber liegt hier eine reiche Fundgrube vor, die sie lange beschäftigen kann; allen, die dem Propheten von Konolfingen – sicherlich mit gutem Grund – eher mit einigen Distanz gegenüberstehen, werden den hier betriebenen archivalischen Eifer wohl übertrieben finden. Aber ein Archiv muss natürlich tun, wozu es da ist. Und zu entdecken gibt es tatsächlich manches, Wenn es eben auch sehr speziell ist.

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Hg. v. Ulrich Weber u. Rudolf Probst. Zürich: Diogenes, 2021. 5 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 2208 Seiten. 400,– €.

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt I & II

Ich machte eine gut bürgerliche Jugend wie eine Krankheit durch, ohne Kenntnis der Gesellschaft und ihrer Zusammenhänge, behütet, ohne behütet zu sein, immer wieder gegen einen Zustand anrennend, der nicht zu ändern war: Ich selbst war dieser Zustand.

Wie bereits zuvor gesagt, umfassen die Bände I und II die Materialien aus dem Nachlass Friedrich Dürrenmatts zum Stoffe-Projekt bis zu Veröffentlichung des Bands Stoffe I–III im Jahr 1981. Band II enthält den Text dieses Bandes (in der leicht über­ar­bei­te­ten Fassung von 1990, die dem Wunsch des Autors nachkommt, Absätze im Text weitgehend zu vermeiden und so eher einen Textfluss zu erzeugen), Band I chronologisch das seit 1957 bis 1981 aufgelaufene Material des Projektes. Es ist für Einsteiger durchaus zu empfehlen, sich zuerst einmal mit der Lektüre von Band II einen Eindruck von Thematik und Ausrichtung des Gesamtprojektes zu machen und dann erst zum Material in Band I zurückzugehen.

Der 1981 erschienene Band enthält, wie der Titel schon sagt, drei von Dürrenmatts Stoffen, die ihn lange begleitet und dabei durchaus wesentliche Veränderungen erfahren haben. Der erste, Winterkrieg in Tibet, spiegelt Dürrenmatts Auseinandersetzung mit seinen Kriegs- (als Schweizer war er ein eher ferner Beobachter des Geschehens im Zweiten Weltkrieg) und Militärerfahrungen, dem Mythos vom Minotaurus, der auch in anderen Texten und insbesondere auch in Gemälden von ihm eine bedeutende Rolle spielt, und damit unmittelbar zusammenhängend dem Motiv des Labyrinths. Erzählt wird die Geschichte eines Offiziers, der sich in der letzten gigantischen Schlacht des III. Weltkriegs wähnt, der weite Teile der Welt zerstört hat. Er sitzt als General ohne Truppen im Rollstuhl, durchfährt die Höhlengänge unter einem Bergmassiv und schreibt den Text, den der Leser liest, in absoluter Dunkelheit in langen Zeilen an die Höhlenwände. Durchbrochen wird dieser quasi autobiographische Bericht durch eine Art von Herausgeberfiktion, die die Wiedergabe des Textes als Dokumentation eines Fundes der nach dem III. Weltkrieg wieder erstandenen Zivilisation ausweist. Der Text enthält nicht nur die Geschichte und Vorgeschichte des Generals, sondern auch umfangreiche essayistische Passagen, deren Gehalt durch die Figur ihres Erzählers stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Entscheidend für die Lektüre dürfte der Hinweis Dürrenmatts sein, dass die zentrale Figur des Textes nicht Minotaurus repräsentiert, sondern einen Theseus, der seinen Ariadnefaden längst verloren hat und nicht in der Lage ist, einen eigenen zu knüpfen. Die Erzählung dürfte eine der dichtesten sein, die sich in Dürrenmatts erzählerischem Werk findet, und setzt einem einfachen Verständnis massive Widerstände entgegen.

Der zweiten Stoff, Mondfinsternis, ist die Quelle von Dürrenmatts wohl erfolgreichstem Theaterstück Der Besuch der alten Dame. In einem entlegenen Bergdorf der Schweiz, in dem außer Pfarrer, Polizist und Lehrerin nur 14 Familien leben, kommt ein alter, reicher Kanadier an, der nahezu sofort beginnt, alle jungen Frauen des Dorfes intensiv zu begatten. Außerdem verspricht er jedem Haushalt im Dorf eine Million, wenn beim nächsten Vollmond (in zehn Tagen) der Ehemann seiner ehemaligen Geliebten, die der Alte einstmals schwanger zurückgelassen hat, umgebracht wird. Der Betroffene ist angesichts des Reichtums auch für seine Familie durchaus mit dem Plan einverstanden und endet, nach einigem retardierenden Füllstoff, unter einer gefällten Buche. Es erweist sich aber, dass der Verursacher dieser Affäre eigentlich gar nicht an Tod und Rache interessiert ist (ebenso wenig wie an dem Geld, das er zurücklässt), sondern sich in Angst und Not wegen seines Herzens befindet. Als er das Dorf verlässt, erleidet er einen weiteren, diesmal tödlichen Herzanfall.

Der Text ist ohne jegliche Psychologie geschrieben: Eine Entwicklung der Figuren findet nicht statt, die für eine moderne Erzählung eigentlich fatale Wartezeit von zehn Tagen bis zum Vollmond-Termin wird einfach übersprungen, die titelgebende Mondfinsternis findet zwar statt, hat aber trotz der kurzzeitigen abergläubischen Panik der Bauern keinerlei praktische Auswirkung. Interessant ist aber, dass Dürrenmatt weder in der Erzählung selbst, noch in den reflektierenden Texten, die sie umgeben, auf das Motiv des Menschenopfers zu sprechen kommt. Nichts scheint einleuchtender, als den Ankommenden als einen neuen Gott zu lesen, der allgemeine Wohlfahrt verspricht, wenn man nur bereit ist, ihm einen Menschen als Opfer darzubringen. Und nichts ist einleuchtender, als dass ein Gott an nichts weniger interessiert sein kann als daran, ob die Menschen das Opfer tatsächlich vollziehen. Dass Dürrenmatt an diesem Aspekt seines Stoffes weitgehend uninteressiert gewesen zu sein scheint, mag daran liegen, dass in den beiden mythologischen Systemen, die sein Denken geprägt haben (das der griechischen Antike und das des Christentums). Menschenopfer nur eine randständige Rolle spielen.

Der dritte Stoff, Der Rebell, ist der am wenigsten ausgearbeitete; es handelt sich mehr um eine Prosa-Skizze als um eine Erzählung. Erzählt wird in wenigstens zu Anfang spätromantischer Manier vom Sohn eines Philologen, der in den Aufzeichnungen seines verschollenen Vaters eine altertümliche Sprache entdeckt, die er erlernt, um sich dann auf eine ziellose Reise zu machen, die ihn natürlich an die Grenze jenes Landes bringt, deren fremde Sprache er erlernt hat. Dort wird er als eine Art Messias empfangen, als der Retter und Befreier, der die Tyrannis des zuletzt erschienen Befreiers (der möglicherweise sein Vater ist) zerschlagen und wahrscheinlich durch seine eigene ersetzen wird. Warum Dürrenmatt dachte, diese Messias-Allegorie sei geeignet, seine eigene Rebellion gegen die Eltern darzustellen, die eigentlich nur in einem heimlichen und drückebergerischen Ungehorsam bestand, wie ihn jeder zweite junge Mann in der Weltliteratur zustande bringt, ist wenigstens mir unerfindlich geblieben.

Umschlossen sind diese drei Erzählungen von einer Autobiographie, die jeweils passend zu den Erzählungen gewichtet und reflektiert wird. Eine solche offene und zugleich enge Verquickung von autobiographischer und literarischer Erinnerungsarbeit dürfte in der deutschsprachigen Literatur weitgehend singulär sein. Die Materialien in Band I vertiefen diese beiden Aspekte der Stoffe, wobei das Material nicht nur die Stoffe I–III umfasst, sondern natürlich auch auf den späteren Band ausgreift. Hier ist besonders die Wiedergabe der Rekonstruktionen hervorzuheben, eines geschlossenen Textes von 1978, der so bislang unveröffentlicht war und der Dürrenmatt als Steinbruch für spätere Veröffentlichungen diente. Hier ist noch einmal ein Text zu entdecken, der es an Gehalt und Komplexität mit den beiden Nachworten zum Mitmacher-Komplex aufnehmen kann.

Bereits diese beiden Bände enthalten eine kaum auszuschöpfende Quelle für eine Auseinandersetzung mit Dürrenmatt, die mir aber leider, je älter ich werde und je weiter die Texte in der Vergangenheit liegen, um so mehr eine obsolete Angelegenheit zu werden scheint. Es ist zu befürchten, dass Dürrenmatt den Status eines Klassikers, den man ihm offenbar zuzumuten gedenkt, nicht lange innehaben wird. Dafür scheinen einerseits die Voraussetzungen für eine Lektüre zu hoch, andererseits ist der Anschluss zu den Themen der Gegenwart zu dünn. Ich fürchte, er wird trotz seines Reichtums an Reflexion und Erfindung bald nur noch ein Autor für einige wenige Fachleute sein.

Wird fortgesetzt …

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Hg. v. Ulrich Weber u. Rudolf Probst. Zürich: Diogenes, 2021. 5 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 2208 Seiten. 400,– €.