Wieder einmal mehr ein Beleg dafür, dass es einem Autor gar nichts nützt, Recht zu haben. Dawkins, seit vielen Jahren einer der lautstarken Vertreter der Evolution als naturwissenschaftlicher Übertheorie – im Grunde lässt sich alles durch die Evolution erklären und sollte sich tatsächlich etwas nicht durch die Evolution erklären lassen, so lässt sich wenigstens diese Unmöglichkeit aus der Evolution erklären –, hat hier zu einer breiten Polemik gegen »die Religion« angesetzt, behandelt aber hauptsächlich die Auswüchse des Christentums und des Islams. Das ist besonders im zweiten Teil ganz witzig, wenn Dawkins seitenweise christlich-fundamentalistischen Unfug zitiert. Natürlich ist das alles pro domo geschrieben, wenn auch immer wieder behauptet wird, es gehe um »die Wahrheit«. Es geht im Gegenteil um Forschungsgelder und Projektmittel, die durch kreationistischen Blödsinn gefährdet sind, wenn christliche Fundamentalisten sich mit Politikern in wichtigen Schaltstellen verbünden.
Die Schwäche von Dawkins’ Standpunkt zeigt sich an einer Frage, die er selbst so formuliert:
Damit will ich nicht sagen, dass wir die Ansichten dieser Leute [der Religionsvertreter] um jeden Preis zensieren sollten, aber warum rollt die Gesellschaft ihnen den roten Teppich aus, als hätten sie eine ähnliche Fachkenntnis wie beispielsweise ein Moralphilosoph, ein Familienanwalt oder ein Arzt? [S. 36]
Ja, warum tut die Gesellschaft das? Diese Frage bleibt im Buch letztlich unbeantwortet, was Dawkins aber nicht groß zu stören scheint. Unverkennbar haben Religionen eine unverzichtbare Funktion in ihren Gesellschaften, da sie die Angriffe der Aufklärung in den letzten 300 Jahre ansonsten kaum so gut überstanden hätten, wie sie es getan haben. Sicherlich haben sie in der weitgehend säkularen Realität der westlichen Welt nicht mehr die Macht und den Einfluss, der sie einst ausgezeichnet hat, aber sie sind offenbar immer noch recht aktive Teilnehmer an den Diskursen um Moral, Menschen- und Weltbild. Zum Verständnis dieses Phänomens ist es wenig hilfreich, den entsprechenden Standpunkt gebetsmühlenartig immer erneut als »irrational« zu bezeichnen. Damit rennt man nur offene Türen ein: Selbstverständlich ist der Glaube an Gott als Schöpfer der Welt und an seine Vertreter auf Erden als moralische Instanzen irrational, aber was schadet das? Angesichts der Tatsache, dass es der Rationalität weder gelungen ist, eine rationale Letztbegründung der Moral zu leisten, noch sie in der Lage ist, dem Laien die Frage nach der Herkunft des Universums verständlich zu beantworten, ist es nur wenig verwunderlich, dass irrationale Konzepte der Religionen weiterhin weltweit erfolgreich sind.
Selbstverständlich ist Dawkins darin zuzustimmen, dass es am Ende nur den Wissenschaften gelingen wird, ein Weltbild zu erzeugen, das wenigstens in irgendeiner Weise eine Annäherung an die Wirklichkeit darstellt. Aber wozu soll das gut sein, wenn dieses Weltbild mehr als 99 Prozent aller Menschen – und darunter eben auch politische Entscheidungsträger – von einem Verständnis eben dieses Weltbildes ausschließt? Für den »normalen Menschen« heißt es schon heute, sich zu entscheiden zwischen zwei Glaubensrichtungen: Der der Religionen oder der der Naturwissenschaft – die eine ist ihm so rational oder irrational wie die andere. Und die Naturwissenschaften werden noch unverständlicher werden, sich immer noch weiter von einem alltäglichen Verstehen der Welt entfernen. Was geht uns der Urknall an? Was soll daran vorteilhaft sein, dass die Urknall-Theorie angeblich besser mit irgendwelchen »Tatsachen« und »Belegen« übereinstimmt als die Schöpfungsgeschichte? Sicherlich: Für diejenigen, die der Bruder- oder meinetwegen Schwesternschaft der Wissenschaft einmal beigetreten sind, liegt alles glasklar auf der Hand. Aber was ist mit denen, die außen vor stehen und immer außen vor stehen werden? Für sie ist es wenig hilfreich, wenn sie von Herrn Dawkins über vielen Seiten hinweg als Idioten beschimpft werden.
Insgesamt scheitert das Buch an seinem Thema, da es Dawkins nicht gelingt, ein ausreichendes Verständnis für die Funktion der Religion in der Gesellschaft zu entwickeln. Seine Polemik bleibt selbstverliebt und oberflächlich. Dawkins entwickelt keinen Sinn dafür, dass die Wissenschaften den meisten Menschen kryptischer und irrationaler erscheinen als die Religionen und dass eine andere große Gruppe heute an die Wissenschaft genau so glaubt, wie sie früher an eine Religion geglaubt hätte. Dawkins entwickelt keinen Sinn für die Grenzen und Mängel des wissenschaftlichen Weltbildes und für dessen nur mangelhafte Leistungen, wenn es darum geht, dem Leben des Einzelnen einen Sinn zu vermitteln. Natürlich gelingt das auch einer Religion nicht »wirklich«, aber es scheint vielen Menschen doch besser zu sein als nichts.
Dass aber auch das Denken so gar nichts helfen will!
Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Berlin: Ullstein, 2007. Pappband, 575 Seiten. 22,90 €.