Allen Lesern ins Stammbuch (127)

Im allgemeinen verschwinden bei uns, wenn ich mich erkühnen darf, auch meine Meinung zu einem derart heiklen Kapitel zu äußern, all diese Herren Talente mittlerer Güte, die gewöhnlich zu Lebzeiten fast wie Genies gefeiert werden, nicht nur nach ihrem Ableben nahezu spurlos und irgendwie plötzlich aus dem Gedächtnis der Menschen, sondern werden manchmal sogar schon zu Lebzeiten unvorstellbar schnell von allen vergessen und mißachtet, sobald eine neue Generation heranwächst und die vorhergehende, in der sie wirkten, ablöst. Das geht bei uns irgendwie schlagartig vonstatten, wie ein Kulissenwechsel auf der Bühne. Oh, das läuft ganz anders ab, wie mit diesen Puschkins, Molières, Voltaires, mit all diesen Größen, die gekommen sind, um ihr eigenes neues Wort zu sagen! Es stimmt, daß diese Herren Talente mittlerer Güte sich an ihrem ruhmreichen Lebensabend gewöhnlich auf die kläglichste Weise leergeschrieben haben und es nicht einmal merken. Es zeigt sich gar nicht so selten, daß ein Schriftsteller, dem Jahre hindurch außerordentliche Gedankentiefe zugeschrieben und von dem ein außerordentlicher und ernstzunehmender Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft erwartet wurde, am Ende eine solche Dürftigkeit und Winzigkeit seiner sogenannten Grundidee erkennen läßt, daß sogar kein Mensch bedauert, daß er sich leergeschrieben hat. Aber die weißhaarigen alten Herren merken es nicht und ärgern sich. Ihr Ehrgeiz nimmt zuweilen, besonders gegen Ende ihrer Laufbahn, wahrhaft erstaunliche Ausmaße an. Gott allein weiß, für wen sie sich nun halten – mindestens für Götter.

Fjodor M. Dostojewskij
Böse Geister

Jahresrückblick 2019

Das Lesejahr war aufgrund diverser Umstände nicht so ergiebig wie die letzten Jahre, aber dafür war der Anteil an schlechten oder überflüssigen Lektüren diesmal vergleichsweise gering.

Wirklich schlecht, da komplett stammtischgeschwätzig, war nur Rainer Erlingers Warum die Wahrheit sagen? Überflüssige Lektüren waren Martin Amis’ Gierig – was nur bedingt gegen das Buch spricht; es passt einfach nicht in meine Lektüregeschichte, weil es Türen einrennt, die bei mir nie geschlossen waren – und Iwan Bunins Ein unbekannter Freund, das ich wegen der Übersetzerin gelesen habe, das sich aber als gehaltlos erwies.

Auf der positiven Seite stand in diesem Jahr in der Hauptsache die Neu- und Wiederlektüre der Werke Dostojewskijs, die auch im kommenden Jahr fortgesetzt werden wird. Da ist – vor allem Dank der Übersetzerin Swetlana Geier – zur Zeit jedes neue Buch eine Freude. Hier ist auch die musterhafte Biographie Dostojewskijs von Andreas Guski hervorzuheben. Gern weise ich auch noch einmal auf die gesammelte Prosa H. C. Artmanns und auf die gelungenen Neuübersetzungen der Bücher Raymond Queneaus durch Frank Heibert hin.

Allen Lesern ins Stammbuch (126)

So brauchten etliche unserer jungen Damen sich nur den Zopf abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, zugleich mit der Brille auch eigene »Überzeugungen« erworben zu haben. So brauchten einige in ihrem Herzen auch nur den Hauch einer allgemein menschlichen positiven Empfindung zu verspüren, um augenblicklich davon überzeugt zu sein, daß niemand sonst so zu empfinden imstande sei und daß sie die Spitze des allgemeinen Fortschritts bildeten. So brauchte mancher nur einen fremden Gedanken aufs Wort zu übernehmen oder irgendwo mitten heraus eine Seite zu überfliegen, um sofort zu meinen, dies seien seine »eigenen Gedanken«, seinem eigenen Gehirn entsprossen.

Fjodor M. Dostojewskij
Der Idiot

Fjodor Dostojewskij: Der Idiot

Gut, so was steht in Romanen! Das, lieber Fürst, sind alte Märchen, heute ist die Welt viel klüger geworden, und nun ist das alles Unsinn!

Der zweite der letzten fünf großen Romanen Dostojewskijs erschien 1869 nach einem Zeitungsvorabdruck als Buch. Dostojewskij lebte während der gesamten Niederschrift mit seiner Frau Anna im Ausland, hauptsächlich in der Schweiz und in Italien. Der Idiot war eines der Projekte, mit denen Dostojewskij einen Teil seiner Schulden in Russland abzahlen und seine Rückkehr ermöglichen konnte.

Erzählt wird die Geschichte des Fürsten Myschkin, ein etwa 25 Jahre junger Mann, der nach über vier Jahren Behandlung in einem Schweizer Sanatorium nach Russland zurückkehrt. Er ist Epilektiker und war vor seiner Behandlung aufgrund der Krankheit kaum lebens- oder kommunikationsfähig. Im Zug nach Petersburg lernt er Pafjon Rogoschin kennen, dessen Vater gerade gestorben ist und der aus der Provinz nach Sankt Petersburg fährt, um sein Erbe anzutreten und um eine Frau zu werben, in die er verliebt ist. In Sankt Petersburg angekommen, begibt sich Myschkin zur Wohnung des Generals Jepantschin, mit dessen Frau Lisaweta er weitläufig verwand ist. Hier wird er von der Familie überraschend freundlich aufgenommen und lernt auch die drei unverheirateten Töchter des Ehepaars kennen, von denen die jüngste, Aglaja, eine wichtige Rolle im weiteren Roman spielen wird.

Noch am selben Abend lernt er auch die Frau kennen, um die Rogoschin wirbt: Nastassja Filippowna  Baraschkowa stammt aus einfachen Verhältnissen, wurde aber aufgrund ihrer überragenden Schönheit von ihrem Gutsbesitzer ausgewählt und zur Kurtisane erzogen und ausgehalten. Aus diesem Zwangsverhältnis hat sich Nastassja befreit und verdreht nun als selbstständige Frau in Sankt Petersburg den Männern die Köpfe. Auch Myschkin verfällt ihrer Schönheit bereits beim Betrachten eines Porträts, um so mehr als er ihr persönlich begegnet. Bei dieser ersten Begegnung bei Nastassjas Geburtstagsfeier erweist sich Myschkin auch eindeutig als äußerst merkwürdige Natur, denn er macht Nastassja, kaum hat er sie kennengelernt sogleich einen Heiratsantrag, offenbar in der Absicht, sie vor einer Beziehung mit Rogoschin zu retten.

Nach der Zuspitzung gleich dieses ersten Tages verschwinden zuerst Rogoschin und Nastassja nach Moskau; Myschkin folgt ihnen unmittelbar. Der zweite von vier Teilen des Romans beginnt etwa sechs Monate nach diesen Ereignissen als Myschkin nach Sankt Petersburg zurückkehrt und sehr bald  erfährt, dass sich Nastassja in Pawlowsk – der Sommerresidenz des Zaren – aufhält. Er reist ihr nach, mietet sich bei einer der Nebenfiguren des Romans ein und kommt hier auch wieder in Kontakt mit der Familie Jepantschin. In den Kreisen, in denen Myschkin verkehrt, weiß man, dass er in der Zwischenzeit wenigstens eine Weile lang mit Nastassja im selben Haushalt zusammengelebt hat, sie ihm am Ende aber weggelaufen sei. Einerseits erklärt Myschkin sein Interesse an Nastassja als vom Mitleid mit dieser Frau getragen, die er mehrfach als wahnsinnig bezeichnet, andererseits scheint Myschkin sich nun für Aglaja Iwanowna Jepantschin zu interessieren, der er während seines Aufenthalts in Moskau auch einen merkwürdig vertraulichen Brief geschrieben zu haben scheint. Aglaja ist wiederum einerseits offensichtlich von Myschkin und seinem Außenseitertum fasziniert, andererseits scheint er ihr aufgrund seiner gesellschaftlichen Ungeschicklichkeit und seiner großen Naivität als Ehemann vollkommen ungeeignet. Ein bedeutender Teil der Erzählung beschäftigt sich nun mit der langsamen Zubereitung Myschkins als Ehekandidaten für Aglaja, eine Hoffnung, die bei dem ersten großen Empfang, bei dem Myschkin in den Freundes-, Bekannten- und Gönnerkreis der Jepantschins eingeführt werden soll, musterhaft scheitert, als sich Myschkin nicht nur anlässlich einer religiösen Frage in Rage redet, sondern die Feier auch noch dadurch beendet, dass er einen epileptischen Anfall erleidet.

Als sei dies nicht genug, kommt es zu einem weiteren Skandal, als Myschkin Aglaja auf deren Wunsch hin zu Nastassja begleitet, die Aglaja mehrfach geschrieben hat, angeblich um deren Hochzeit mit Myschkin zu befördern. Es kommt zu einer exzessiven Eifersuchtsszene zwischen den beiden Frauen, und anstatt Aglaja bei deren wütendem Abgang zu folgen, bleibt Myschkin bei der nervlich zerrütteten Nastassja. Nun scheint seine Hochzeit mit ihr eine beschlossene Sache zu sein. Aber auch dieser Plan scheitert und der Roman endet in einer größtmöglichen Katastrophe. Myschkin wird durch die letzten Ereignisse des Romans so erschüttert, dass er in den katatonischen Zustand zurückkehrt, in dem er fünf Jahre zuvor in die Schweiz gebracht worden war. Er wird in dasselbe Hospital gebracht, doch diesmal erklärt der Schweizer Doktor ihn für unheilbar.

Der Idiot ist unzweifelhaft ein sehr ungewöhnlicher Roman: Auf der einen Seite arbeitet er als ein Liebes- und Eheanbahnungsroman eines der trivialen Muster der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts ab, auf der anderen führt er aber ein diesem Muster offensichtlich zuwiderlaufendes Gedankenexperiment durch, das in dem Versuch besteht, einen weitgehend unsozialisierten Menschen – Myschkin wird mehrfach als Kind bezeichnet und hat seine einzigen sozialen Kontakte in der Schweiz mit Kindern gehabt – auf die russische Gesellschaft mit all ihren Ritualen, Rangstufungen und Intrigen loszulassen. Myschkin ist ein weiteres Exemplar des Naturmenschen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in diesem Fall nicht durch seine Herkunft, sondern durch seinen Lebensweg und seine Krankheit von der Sozialisation abgeschnitten. Ihm ist jede Boshaftigkeit fremd, jede Lust daran, anderen zu schaden, jegliche Leidenschaft, jegliche Gier, jegliche Selbstsucht. Seine Liebe erscheint stets uneigennützig und rein, wenn sie auch zu Aglaja und Nastassja sicherlich unterschiedlich motiviert ist. Myschkin ist der von der Gesellschaft  noch nicht verdorbene Mensch. Sein Schicksal ist eine scharfe Kritik des Christen Dostojewskij an der Gesellschaft seiner Zeit, auch wenn Myschkin letztlich nicht an dieser Gesellschaft, sondern an einem Verbrechen scheitert, das offenbar aus Leidenschaft begangen wird. Myschkin zerbricht an der Realität des Menschen, nicht nur an der Konstruktion seines Zusammenlebens.

Auch diesmal hat sich für mich wieder die Übersetzung Swetlana Geiers bewährt: Der Idiot ist der einzige Roman Dostojewskijs, den ich in der Übersetzung Hermann Röhls komplett gelesen hatte, aber ohne mich mit ihm anfreunden zu können. Die differenzierte und oft lakonische Sprache Geiers hat auch diesen Roman für mich geöffnet.

Fjodor Dostojewskij: Der Idiot. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995. Pappband, Fadenheftung, 911 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 15,– €.

Fjodor Dostojewskij: Verbrechen und Strafe

Da, da rennen sie alle auf der Straße hin und her, einer wie der andere schon seiner Natur nach ein Lump und Verbrecher; noch schlimmer – ein Idiot!

Der erste der fünf letzten, umfangreichen Romane Dostojewskijs, die im Westen das Zentrum seiner Rezeption bilden. Ich habe den Roman jetzt zum ersten Mal in der Übersetzung Swetlana Geiers gelesen, nachdem ich während des Studiums und auch später noch einmal an der Hermann Röhls gescheitert war. Überhaupt stelle ich fest, dass ich mit vielen Übersetzungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts so meine Schwierigkeiten habe. Mit der Neuübersetzung hat sich mir der Roman auf eine neue und ungeahnte Weise geöffnet.

Wie allgemein bekannt sein dürfte, erzählt das Buch die Geschichte vom Mord des ehemaligen Jurastudenten Rodion Raskolnikow an einer alten Pfandleiherin und ihrer Schwester, die ihn zufällig bei seiner Tat überrascht. Überhaupt ist Raskolnikow jene Art von Amateur, die sich für besonders schlau hält und sich gerade deshalb besonders dumm anstellt. Seine Tat geht in seiner eigenen Einschätzung weit über einen simplen Raubmord hinaus, vielmehr möchte sich der junge Mann für einen kommenden Napoleon halten und sich auf diese Weise das Startkapital für eine überragende, die Menschheit oder doch zumindest Russland beglückende Karriere verschaffen. Ein wesentlicher Teil der Entwicklung des Romans besteht darin, seinem Protagonisten wenigstens im Ansatz deutlich werden zu lassen, dass er eher kein Napoleon ist. Enttäuscht von sich selbst und eingeholt von der Sinnlosigkeit seiner Tat – die Beute hat er nicht angerührt, sondern an einem zufälligen Ort versteckt – stellt sich Raskolnikow der Polizei, als schon niemand mehr außer einzig dem ermittelnden Staatsanwalt an seine Schuld glaubt. Soweit das Muster des Kriminalromans, dem das Buch auf den ersten Blick folgt. Zwar macht ein sogenannter Epilog, der Raskolnikows Zeit und Wandlung in Sibirien schildert, deutlich, dass es Dostojewskij wesentlich um eine Wandlung Raskolnikows vom nihilistischen Saulus zum christlichen Paulus geht, doch kann man diesen Aspekt bei der Lektüre weitgehend ignorieren.

Der Roman zeichnet sich durch eine Fülle hoch differenzierter und interessanter Figuren aus: So etwa dem Lüstling Swidrigajlow, der sich an Raskolnikows Schwester zu vergreifen versucht und am Ende keine bessere Lust mehr weiß, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen. Oder Semjon Marmeladow, ein ehemaliger Beamter, der dem Suff verfallen ist und sich zugleich schwerste Vorwürfe macht, dass seine Familie im Elend lebt, ja seine Tochter aus erster Ehe – Sonja, die der rettende Engel Raskolnikows werden soll – sogar der Prostitution nachgeht, um die Familie über Wasser halten. Oder Pjotr Luschin – hier kein Schachspieler –, ein eingebildeter, egozentrischer, rachsüchtiger Schwachkopf, der sich allein wegen seiner Arroganz für ein überlegenes Wesen hält. Zudem laufen noch ein sozialistischer Ministerialbeamter, eine sentimentale Mutter, eine selbstbestimmte Schwester, ein immer auf das Notwendige verfallender Kommilitone, ein psychologisierender Arzt und was der wundervollen Typen mehr sind durchs Buch. Alle diese Charaktere sind handfester und ernster als die entsprechenden Chargen etwa bei Dickens, aber der Reichtum der Texte an Menschen und Menschlichkeit ist durchaus vergleichbar. Natürlich fehlt es Dostojewskijs Roman über weite Strecken an Humor – einige Stellen beweisen allerdings, dass er durchaus über diesen Ton verfügt –, doch zum Ausgleich dafür zeigt sein Figurenensemble eine durchaus sehenswerte Palette weltanschaulicher Positionen der Mitte des 19. Jahrhunderts.

In der Übersetzung Swetlana Geiers erscheint das Buch tatsächlich als der moderne Roman, als der er zu Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde.

Fjodor Dostojewskij: Verbrechen und Strafe. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,21994. Pappband, Fadenheftung, 767 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 13,– €.

Andreas Guski: Dostojewskij

Ein einfacher Romancier, der nichts Seriöses geschrieben hat.

Isidor, Metropolit von Petersburg

Ich bin als Leser von Biographien nicht leicht zufriedenzustellen, aber von Zeit zu Zeit fällt einem dann doch einmal ein Buch in die Hand, das man mit einem bewundernden und zufriedenen Kopfnicken beendet. Andreas Guski ist es gelungen, eine nicht nur gut lesbare, sondern auch umfassende und ausgewogene Biografie des vielleicht komplexesten russischen Klassikers des 19. Jahrhunderts zu verfassen. Seine Deutungen der einzelnen Werke sind durch die Bank solide, frei von Jargon und auch für den interessierten Laien verständlich, ohne dabei auf die Darstellung ihrer inneren Widersprüche und komplexen ideologischen Verwerfungen zu verzichten. Auch die für den Biographen normalerweise eher heiklen Themen wie etwa Dostojewskijs Antisemitismus oder die ihm von seinen Gegnern unterstellte Neigung zur Pädophilie werden unaufgeregt und ohne apologetischen Aufwand besprochen. Natürlich hat man als quasi professioneller Leser der Literatur des 19. Jahrhunderts immer an der einen und anderen Stelle Einwände, aber sie betreffen in diesem Fall immer nur Nuancen und Halbtöne.

Dostojewskij, der in Deutschland in der Hauptsache mit seinen fünf bzw. sechs letzten Romanen zur Kenntnis genommen wird, ist einer der schwierigsten Fälle unter den bedeutenden Autoren des 19. Jahrhunderts: Einerseits ein in der Wolle gefärbter russischer Nationalist, fanatischer orthodoxer Christ, Gegner der Reformation, der Moderne, des Individualismus, des Materialismus und Kapitalismus, eng verbunden mit und zugleich abgestoßen von der Romantik Westeuropas, liefert er andererseits in seinen späten Romanen eine komplexe Aus­ein­an­der­set­zung ohne ideologische Scheuklappen mit gerade diesen Themen immer am Fall konkreter Personen unter ganz konkreten Umständen. Immer widmet er auch den Figuren, die nach seiner Auffassung das Böse, das Übel, das Verbrechen oder die Gefährdung der Moderne repräsentieren, die gleiche Sorgfalt, denselben oder gar mehr Raum und Gedanken als jenen Heiligen, die für den christlichen Heilsweg stehen, der wenigstens die Russen aus dem Chaos der Moderne führen soll. Und all das geschieht im Rahmen von Verbrechens- und Kriminal-Erzählungen, wie sie populistischer und massenwirksamer kaum je erdacht worden sind. Er war ein übler literarischer Verführer mit den besten und zugleich dümmsten denkbaren Ab- und Ansichten.

Hinzukommt sein zerrissenes, nomadisches, von Armut, Krankheit, Überschuldung und Ungerechtigkeit geprägtes Leben, seine Verfallenheit an das Roulette, von dem er immer wieder und gegen jede bessere Einsicht seine Rettung erhofft hat, sein Kampf mit dem Schreiben – Dostojewskij ist ein gutes Beispiel für die Behauptung Thomas Manns, ein Schriftsteller sei ein Mensch, dem das Schreiben besonders schwer falle –, die zum Teil herkulische Arbeitsleistung als Redakteur usw. usf. Erst sehr spät hat sich in seinem Leben ein förderliches Equilibrium ein­ge­stellt, noch später erfolgte seine Anerkennung als dritter Großer im Bunde zusammen mit Tolstoi und Turgenew. Als er dann im 20. Jahr­hun­dert in Russland ideologisch in Ungnade fiel, wurde er in Westeuropa erst richtig entdeckt, auch wenn er hier bis heute als schwierige Lektüre gilt.

Andreas Guski eröffnet mit seiner Biographie einen exzellenten Zugang zu Autor und Werk, den alle Interessierten und Neugierigen nutzen sollten.

Andreas Guski: Dostojewskij. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2018. Pappband, Lesebändchen, 460 Seiten. 28,– €.

Fjodor Dostojewskij: Der Spieler

Morgen, morgen wird alles ein Ende haben!

Der Spieler ist der kürzeste und zugänglichste der letzten sechs Romane Dostojewskijs. Er entstand 1866 unter erheblichem Zeitdruck, da Dostojewskij sich seinem Verleger gegenüber verpflichtet hatte, bis zum 1. November des Jahres einen Roman im Umfang von mindestens zwölf Druckbögen zu liefern. Weil er aber zur selben Zeit noch an Verbrechen und Strafe arbeitete, engagierte Dostojewskij eine Stenografin (seine spätere Ehefrau Anna Grigorjewna) und diktierte ihr den kurzen Roman in nur 26 Tagen. Die Art seiner Entstehung und die von Außen vorgegebene Beschränkung des Umfangs tragen wohl erheblich zu dem Erfolg dieses späten Romans Dostojewskijs bei, da sie den Autor gezwungen haben, sich ganz auf sein erzählerisches Talent zu verlassen und Fabel und Ausführung vergleichsweise einfach zu halten.

Erzählt wird der Roman von dem jungen Adeligen Alexej Iwanowitsch (seinen Familiennamen erfahren wir nicht), der im Hause des pensionierten Generals Zagorjanskij als Hauslehrer angestellt ist. Die Erzählung beginnt, als Alexej mit der Familie des Generals im fiktiven Kurbad Roulettenburg wieder zusammentrifft, nachdem er im Auftrag der Familie eine längere Reise durch Westeuropa hinter sich gebracht hat. Zur unmittelbaren Familie gehören die Schwester des Generals Marja Filippowna, die im Roman aber nur eine verschwindende Rolle spielt, sowie drei seiner Kinder: Seine bereits erwachsene Stieftochter Praskowja, genannt Polina, in die der Erzähler leidenschaftlich aber unglücklich verliebt ist, und die beiden noch sehr jungen Kinder Mischa und Nadja, die im Wesentlichen Alexejs Rolle als Hauslehrer rechtfertigen, die er im Roman aber nie auch nur eine Minute lang unterrichtet. Zum näheren Umfeld dieser Gruppe gehören auch der Marquis des Grieux, bei dem der General hoch verschuldet ist und dem er seine Güter verpfändet hat, sowie Mademoiselle Blanche, eine professionelle Kokotte, in die der alternde General offenbar verliebt ist und die auf eine Eheschließung mit dem leider nur potenziell reichen Russen spekuliert. Das finanzielle Schicksal der gesamten Gruppe hängt von einer Erbschaft ab und mithin vom Tod der vermögenden Antonida W. Tarasewitschewa, die in der Fantasie der Familie in Moskau ihrem Ende entgegen sicht. Zudem umkreist die Familie der reiche Engländer Mister Astley, offenbar ein Bewunderer Polinas, die aber in eine Affäre mit des Grieux verwickelt zu sein scheint.

In dieses in der Hauptsache um sich selbst kreisende Figurenensemble bricht nun mit einem Mal die im Sterben vermutete Moskauer Erbtante ein, die nicht nur mit klarer Auffassung und deutlicher Sprache die vorhandenen Verhältnisse auf den Punkt bringt, sondern auch sofort und rettungslos dem Roulette verfällt, indem sie, wie literarisch üblich, zuerst mit unwahrscheinlichem Glück Gewinne einstreicht, um anschließend in kurzer Zeit einen bedeutenden Teil ihres Vermögens zu verspielen. Als sie ganz und gar mittellos dasteht, löst sie Mister Astley in ihrem Hotel aus und bezahlt ihr die Rückreise nach Moskau. Mit der Abreise der Tante bricht auch die Gruppe um den General auseinander: des Grieux, der nun weiß, dass eine Erbschaft des Generals nicht mehr zu erwarten ist, reist ab und gibt die Versteigerung der verpfändeten Güter in Auftrag, Mademoiselle Blanche wendet sich im Augenblick anderen potenziellen Ehemännern zu, und Polina bleibt, von des Grieux verlassen, verzweifelt zurück und wendet sich in einem Moment der Schwäche für eine Nacht dem Erzähler zu. Mit dieser Nacht beginnt das rauschhafte und temporeiche letzte Drittel des Romans, das hier nicht nacherzählt werden muss. Nur soviel sei gesagt, dass sich aus ihm der Titel des Romans ergibt, denn es schildert im Wesentlichen die Entwicklung Alexejs zum pathologischen Spieler.

Erzählerisch ist der Roman klar in drei Teile gegliedert, in denen der Ich-Erzähler aus immer größerem zeitlichen Abstand die Geschehnisse von ungefähr zwei Jahren berichtet. Während das Buch als eine Art Tagebuch beginnt, überwältigen die Ereignisse ab der Abreise der Erbtante den Erzähler derart, dass er erst in der Rückschau in der Lage ist, sie niederzuschreiben. Ein weiterer zeitlicher Sprung geht mit dem Beginn seiner Karriere als Spieler einher. Stilistisch ist der Roman temporeich und in weiten Teilen vom Humor Dostojewskijs bestimmt, den man im Westen gern ignoriert und der in der Übersetzung Swetlana Geiers besonders zur Geltung kommt. Das alles hat diesen für Dostojewskijs Spätwerk vergleichsweise kleinen Roman zu Recht zu einem seiner beliebtesten gemacht. Eine ausgezeichnete Einstiegslektüre für alle, die Dostojewskij kennenlernen wollen.

Fjodor Dostojewskij: Der Spieler. (Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes). Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Amman, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 231 Seiten. Nicht mehr lieferbar. Lieferbar sind seitenidentische Taschenbuchausgaben im Fischer Verlag.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Wir sind Totgeborene, werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern gezeugt, und das gefällt uns immer besser und besser. Wir bekommen Geschmack daran. Bald werden wir so weit sein, daß wir von einer Idee gezeugt werden.

Die vergleichsweise kurzen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) entstanden unmittelbar vor der Serie der letzten sechs Romane Do­sto­jews­kijs, die wir als seine Hauptwerke betrachten. Viele seiner späteren Themen und Motive tauchen hier bereits auf oder werden wenigstens angespielt. In der Hauptsache aber dürfte wichtig sein, dass hier eine ideologische Lebenshaltung der Zeit auf ihre Konsequenzen hin durchgespielt wird; mit diesem Buch wird quasi das psychologische Labor Dostojewskijs eröffnet.

Erzähler ist ein namenloser, 40-jähriger Mann, der seit einiger Zeit keiner Arbeit mehr nachgeht, da er von einer kleinen Erbschaft leben kann. Er bewohnt schon lange das im Titel besagte Kellerloch und wendet sich mit seiner Niederschrift an ein fiktives Publikum, angeblich um seine Erzählung zu konzentrieren. Allerdings muss die gesamte Schrift im Verdacht stehen, eine rhetorische Verteidigung seiner Existenz vor einer inneren moralischen Jury zu sein.

Der Text zerfällt in zwei Teile: Der erste ist eine essayistische Reflexion des Erzählers seiner eigenen Existenz, der zweite Teil erzählt einige nur scheinbar anekdotische Erlebnisse, die bereits 16 Jahre zurückliegen. Der erste Teil beginnt mit folgender Selbstbeschreibung:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z.B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit.

Ein solcher Auftakt steht aller romantischen Romantradition diametral entgegen. Auch in weiteren Verlauf dieses essayistischen Teils kokettiert der Ich-Erzähler mit seiner Verworfenheit, wobei die meisten seiner Eigenschaften, die er als besonders schlecht anführt, von den meisten Menschen, die sich für normal halten würden, wohl geteilt werden: Ehrgeiz, Argwohn, Empfindlichkeit und so weiter. Was ihn allerdings aus der Masse tatsächlich heraushebt, ist seine Feier der Verzweiflung und Aus­sichts­lo­sig­keit, die ihm ein Leiden bereiten, das er tief zu genießen vorgibt. Dieser essayistische Teil ist von tiefer Widersprüchlichkeit geprägt: Einerseits betrachtet sich der Erzähler als klüger, gebildeter, reflektierter als seine normalen Mitmenschen, andererseits verwandelt er die Verachtung, die ihm seine Mitmenschen offensichtlich entgegengebracht haben, in den Genuss von Rachsucht und Bosheit, die aber merkwürdig abstrakt bleiben.

Im Rahmen dieser psychologischen Selbststilisierung des Erzählers werden auch philosophische Probleme erörtert: Willensfreiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Rationalität werden in lockerer und weitgehend un­sys­te­ma­ti­scher Weise besprochen. Das Menschenbild, das dabei zutage tritt, kann man wohl als eine Art von Ad-hoc-Nihilismus verstehen, die sich aber nicht bis zur endgültigen und ausdrücklichen Verneinung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Werte durcharbeitet; es ist daher kein Wunder, dass dieses Buch auf Friedrich Nietzsche einen so großen Eindruck gemacht hat.

Schon gut, schon gut, ich mag ein Schwätzer sein, ein harmloser, lästiger Schwätzer, wie wir es ja alle sind. Aber was soll man denn tun, wenn die einzige und direkte Bestimmung eines jeglichen klugen Menschen in Schwatzen besteht: das heißt darin, mit Vorsatz leeres Stroh zu dreschen.

Der umfangreichere zweite Teil schildert, wie schon gesagt, einige Anekdoten aus dem Leben des 24-Jährigen, die sein berufliches, gesellschaftliches und emotionales Versagen konkret vorführen. Er soll zum einen so etwas wie eine praktische Demonstration der zuvor theoretisch erörterten Lage des Erzählers sein, zum anderen liefert er in aller Kürze einen negativen Entwicklungsroman, der die Entstehung der Isolation des Erzählers von der ihn umgebenden Gesellschaft musterhaft vorführt.

Nur im allerletzten Absatz des Buches taucht so etwas wie eine neutrale Instanz auf, die einen distanzierteren Blick auf das Erzählte andeutet:

Übrigens sind hier die Aufzeichnungen dieses paradoxen Menschen noch nicht zu Ende. Er konnte es nicht lassen und setzte sie fort. Aber auch uns will scheinen, daß man hier ohne weiteres aufhören kann.

Dieses „uns will scheinen“ ist die einzige Stelle, in der sich der Autor vom Inhalt des Buches distanziert. Dass es Dostojewskij später verstanden hat, auch diese letzte, neutrale Herausgeber-Fiktion noch fortzulassen, macht nicht wenig von der Bedeutung seiner späten Romane aus.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Fischer Klassik 90102. Frankfurt/M.: Fischer, 2011. Broschur, 162 Seiten. 11,– €.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus einem Totenhause

Unter solchen Erzählungen also oder, richtiger gesagt, unter solchem Geschwätz verging manchmal die Zeit, die uns so langweilig war. Hergott, was war das für eine Langeweile! Die langen, schwülen Tage waren einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Wenn man doch wenigstens ein Buch gehabt hätte!

Der junge Autor Fjodor Dostojewskij war im April 1849 verhaftet worden, da er an Treffen des Kreises um Michail Petraschewski teilgenommen hatte und damit in den Verdacht geraten war, ein Staatsfeind zu sein. Die Verhaftung stellte eine hysterische Reaktion des russischen Staates auf die europäischen Revolutionen von 1848/1849 dar, von denen man fürchtete, sie würden auch in Russland eine entsprechende Fortsetzung finden. Dostojewskij wurde zusammen mit anderen sogenannten Verschwörern zum Tode verurteilt und erst nach der Inszenierung einer Scheinhinrichtung zu vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien und anschließendem Militärdienst begnadigt.

Die Aufzeichnungen aus einem Totenhause sind nicht nur eine Verarbeitung der sibirischen Haftzeit, sie sind auch ein wichtiger Schritt für den Autor zurück in das literarische Leben Russlands. Dostojewskij war sich sicher, dass das Buch ein Erfolg werden würde, da bis dahin in der russischen Literatur keine Beschreibung des Gefangenenlebens in Sibirien existierte und das Buch deshalb allein stofflich auf großes Interesse stoßen werde.  Ab Herbst 1861 erschien der Text in Fortsetzungen in der Monatszeitschrift Wremja, die von Dostojewskijs Bruder Michail herausgegeben wurde. Dass der Text hier erscheinen konnte, zeigt die inzwischen eingetretene Liberalisierung der russischen Verhältnisse unter Zar Alexander II.

Die Aufzeichnungen bedienen sich äußerlich der damals beliebten Form der Reiseerzählung: In einer Mischung aus objektivierender Erzählung und tagebuchartig präsentierten subjektiven Erlebnissen wird dem Leser ein Blick in eine ihm unbekannte Welt geboten. Normalerweise galt das Interesse exotischen Orten – der Südsee, der Wildnis ferner Kontinente etc. –, aber Dostojewskij begriff, dass diese Form zu weit mehr geeignet war. Um den autobiographischen Bezug abzuschwächen, benutzte er die im 19. Jahrhundert beliebte Herausgeber-Fiktion: Der Erzähler gerät zufällig an den schriftlichen Nachlass des ehemaligen Sträflings Alexander Petrowitsch Gorjantschikow, der wegen der Ermordung seiner Frau zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden war und nach der Haft dort als Ansiedler sein Leben fristete. Wie wenig diese Herausgeber-Fiktion allerdings wahrgenommen wurde, zeigt sich darin, dass Dostojewskij sich für den Rest seines Lebens mit dem Verdacht herumschlagen musste, er selbst sei wegen Ermordung seiner Gattin nach Sibirien geschickt worden.

Dass die äußere Form nur als Hilfsmittel dient, wird besonders im zweiten Teil des Buches deutlich, dass in einzelnen Kapiteln zum Teil deutlich von diesem Muster abweicht. Am bekanntesten und berühmtesten dürfte die Binnenerzählung Akulinas Mann sein, die von der Karriere eines Trinkers erzählt, der aus finanziellen Motiven heraus eine unehrenhafte Frau heiratet, nach der Hochzeit ihre Unschuld erkennen muss und sie schließlich in einer Mischung aus Trunksucht, Wut und Selbstverachtung in einem Akt ungehemmter Gewalt ermordet. Dostojewskij nutzt hier nicht nur das allgemeine Interesse seiner Zeitgenossen an der vergleichsweise neuen Form der Kriminalerzählung, sondern dringt auch in Bereiche der Wirklichkeit vor, die literarisch zuvor nie geschildert worden waren. Das Buch besticht hier in jedem Detail durch Authentizität und Schonungslosigkeit der Darstellung. Es stellt eine wichtige Zwischenstufe zu Dostojewskijs späterer Auseinandersetzung mit Fragen der Moral und des Verbrechens dar.

Ein faszinierendes Buch, von dem ich bereue, es nicht schon früher gelesen zu haben, doch hatte ich immer Schwierigkeiten mit den älteren Übersetzungen Dostojewskijs ins Deutsche. Die bei Reclam vorliegende Übersetzung von Hermann Röhl stammt von 1921 und sollte besser durch eine aktuelle ersetzt werden.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus einem Totenhause. Aus dem Russischen von Hermann Röhl. RUB 2647. Stuttgart: Reclam, 1999/2017. Broschur, 511 Seiten. 9,– €.

Moskau–Baden-Baden–Petersburg

Zypkin_Baden-BadenSchon im letzten Jahr in den Bestseller- und Besten-Listen gewesen, aber sicherlich zu Recht: Leonid Zypkin »Ein Sommer in Baden-Baden«. Der Roman spielt im Wesentlichen auf zwei Ebenen: Auf der ersten fährt ein Ich-Erzähler mit dem Zug von Moskau nach Petersburg, um dort eine alte Bekannte zu besuchen und das Haus zu photographieren, in dem Dostojewskij seine letzten Lebensjahre verbracht hat, auf der zweiten entwirft der Erzähler auf der Grundlage des Tagebuchs von Dostojewskijs zweiter Ehefrau Anna Grigorjewna eine Vision von der Flucht des jungvermählten Ehepaars Dostojewskij nach Deutschland und der Reise nach Baden-Baden, wo der Schriftsteller hofft, durch einen Gewinn im Kasino der Schuldenfalle entkommen zu können, in die ihn der Tod seines Bruders und der nachfolgende Bankrott des gemeinsamen Zeitschriftenprojekts gebracht haben.

Der Roman brilliert in den Passagen, die Dostojewskijs Spielsucht thematisieren und das kontinuierliche Abrutschen des Ehepaars in immer drängendere finanzielle Not, weil »Fedja«, wie alle obsessiven Spieler, natürlich nicht aufhören kann, wenn er gewinnt, sondern solange am Roulette bleibt, bis auch der letzte Kreuzer wieder einmal der Bank gehört. Diese Passagen bilden den Kern des Buches und werden im letzten Teil durch eine intensive Beschreibung der letzten Lebenstage Dostojewskijs ergänzt. Ansonsten stehen die Ehe Dostojewskijs und sein »schwieriger Charakter«, um es einmal vorsichtig auszudrücken, im Zentrum der Darstellung.

Stilistisch ist das Buch etwas gewöhnungsbedürftig, da es in sehr langen, durch Gedankenstriche gegliederten Sätzen geschrieben ist, die den Gedanken- und Assoziationsstrom des Erzählers sicherlich gut wiedergeben – nur einlesen muss man sich eben eine Weile lang. Man bemerkt dann aber rasch, dass die Bild- und Gedankenfolgen durchaus präzise sind, und nach einigen zwanzig Seiten stören einen die endlosen Haupt- und Nebensatzfolgen nicht mehr länger.

Das Buch erfüllt sicherlich zwei Zwecke: Es macht neugierig auf den Menschen Dostojewskij, und es reizt dazu, seine Romane zu lesen. Immer wieder streut der Erzähler Andeutungen und Fragmente aus den Werken ein, stellt eine Romanfigur vor, lässt Zusammenhänge aufblitzen. Das ist sehr geschickt gemacht und erinnerte mich in der Wirkung an Julian Barnes’ »Flaubert’s Parrot«.

Alles in allem ein rundum empfehlenswertes Buch, sowohl für gestandene Dostojewskij-Leser als auch für die, die neugierig auf diesen so unklassichen russischen Klassiker sind. Nur zwei Dinge haben mich geärgert: Zum einen, dass man meinte, dem Buch eine Einführung durch Susan Sontag vorweg stellen zu müssen; gegen ein Nachwort dieser weithin überschätzten Essayistin wäre nichts zu sagen, aber warum muss man Frau Sontag vorlaut an den Anfang stellen, als habe der Roman dies nötig? Und die Verarbeitung der mir vorliegenden Ausgabe der Büchergilde Gutenberg ist einfach schlecht: Nicht nur ist der Buchblock miserabel gelumbeckt, sondern zudem läuft das Vorsatzpapier falsch herum, so dass sich der Buchdeckel, nachdem man die heute unvermeidlichen Plastikhülle entfernt hat, widerstrebend aufbäumt. Solche »Qualität« hat es früher bei der Büchergilde nicht gegeben.

Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg, 2006. Berlin Verlag, 2006. Leinen, 238 Seiten. 16,90 €, im Originalverlag: 19,90 €.