Fjodor Dostojewskij: Der Spieler

Morgen, morgen wird alles ein Ende haben!

Der Spieler ist der kürzeste und zugänglichste der letzten sechs Romane Dostojewskijs. Er entstand 1866 unter erheblichem Zeitdruck, da Dostojewskij sich seinem Verleger gegenüber verpflichtet hatte, bis zum 1. November des Jahres einen Roman im Umfang von mindestens zwölf Druckbögen zu liefern. Weil er aber zur selben Zeit noch an Verbrechen und Strafe arbeitete, engagierte Dostojewskij eine Stenografin (seine spätere Ehefrau Anna Grigorjewna) und diktierte ihr den kurzen Roman in nur 26 Tagen. Die Art seiner Entstehung und die von Außen vorgegebene Beschränkung des Umfangs tragen wohl erheblich zu dem Erfolg dieses späten Romans Dostojewskijs bei, da sie den Autor gezwungen haben, sich ganz auf sein erzählerisches Talent zu verlassen und Fabel und Ausführung vergleichsweise einfach zu halten.

Erzählt wird der Roman von dem jungen Adeligen Alexej Iwanowitsch (seinen Familiennamen erfahren wir nicht), der im Hause des pensionierten Generals Zagorjanskij als Hauslehrer angestellt ist. Die Erzählung beginnt, als Alexej mit der Familie des Generals im fiktiven Kurbad Roulettenburg wieder zusammentrifft, nachdem er im Auftrag der Familie eine längere Reise durch Westeuropa hinter sich gebracht hat. Zur unmittelbaren Familie gehören die Schwester des Generals Marja Filippowna, die im Roman aber nur eine verschwindende Rolle spielt, sowie drei seiner Kinder: Seine bereits erwachsene Stieftochter Praskowja, genannt Polina, in die der Erzähler leidenschaftlich aber unglücklich verliebt ist, und die beiden noch sehr jungen Kinder Mischa und Nadja, die im Wesentlichen Alexejs Rolle als Hauslehrer rechtfertigen, die er im Roman aber nie auch nur eine Minute lang unterrichtet. Zum näheren Umfeld dieser Gruppe gehören auch der Marquis des Grieux, bei dem der General hoch verschuldet ist und dem er seine Güter verpfändet hat, sowie Mademoiselle Blanche, eine professionelle Kokotte, in die der alternde General offenbar verliebt ist und die auf eine Eheschließung mit dem leider nur potenziell reichen Russen spekuliert. Das finanzielle Schicksal der gesamten Gruppe hängt von einer Erbschaft ab und mithin vom Tod der vermögenden Antonida W. Tarasewitschewa, die in der Fantasie der Familie in Moskau ihrem Ende entgegen sicht. Zudem umkreist die Familie der reiche Engländer Mister Astley, offenbar ein Bewunderer Polinas, die aber in eine Affäre mit des Grieux verwickelt zu sein scheint.

In dieses in der Hauptsache um sich selbst kreisende Figurenensemble bricht nun mit einem Mal die im Sterben vermutete Moskauer Erbtante ein, die nicht nur mit klarer Auffassung und deutlicher Sprache die vorhandenen Verhältnisse auf den Punkt bringt, sondern auch sofort und rettungslos dem Roulette verfällt, indem sie, wie literarisch üblich, zuerst mit unwahrscheinlichem Glück Gewinne einstreicht, um anschließend in kurzer Zeit einen bedeutenden Teil ihres Vermögens zu verspielen. Als sie ganz und gar mittellos dasteht, löst sie Mister Astley in ihrem Hotel aus und bezahlt ihr die Rückreise nach Moskau. Mit der Abreise der Tante bricht auch die Gruppe um den General auseinander: des Grieux, der nun weiß, dass eine Erbschaft des Generals nicht mehr zu erwarten ist, reist ab und gibt die Versteigerung der verpfändeten Güter in Auftrag, Mademoiselle Blanche wendet sich im Augenblick anderen potenziellen Ehemännern zu, und Polina bleibt, von des Grieux verlassen, verzweifelt zurück und wendet sich in einem Moment der Schwäche für eine Nacht dem Erzähler zu. Mit dieser Nacht beginnt das rauschhafte und temporeiche letzte Drittel des Romans, das hier nicht nacherzählt werden muss. Nur soviel sei gesagt, dass sich aus ihm der Titel des Romans ergibt, denn es schildert im Wesentlichen die Entwicklung Alexejs zum pathologischen Spieler.

Erzählerisch ist der Roman klar in drei Teile gegliedert, in denen der Ich-Erzähler aus immer größerem zeitlichen Abstand die Geschehnisse von ungefähr zwei Jahren berichtet. Während das Buch als eine Art Tagebuch beginnt, überwältigen die Ereignisse ab der Abreise der Erbtante den Erzähler derart, dass er erst in der Rückschau in der Lage ist, sie niederzuschreiben. Ein weiterer zeitlicher Sprung geht mit dem Beginn seiner Karriere als Spieler einher. Stilistisch ist der Roman temporeich und in weiten Teilen vom Humor Dostojewskijs bestimmt, den man im Westen gern ignoriert und der in der Übersetzung Swetlana Geiers besonders zur Geltung kommt. Das alles hat diesen für Dostojewskijs Spätwerk vergleichsweise kleinen Roman zu Recht zu einem seiner beliebtesten gemacht. Eine ausgezeichnete Einstiegslektüre für alle, die Dostojewskij kennenlernen wollen.

Fjodor Dostojewskij: Der Spieler. (Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes). Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Amman, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 231 Seiten. Nicht mehr lieferbar. Lieferbar sind seitenidentische Taschenbuchausgaben im Fischer Verlag.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch

Wir sind Totgeborene, werden wir doch schon lange nicht mehr von lebendigen Vätern gezeugt, und das gefällt uns immer besser und besser. Wir bekommen Geschmack daran. Bald werden wir so weit sein, daß wir von einer Idee gezeugt werden.

Die vergleichsweise kurzen Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) entstanden unmittelbar vor der Serie der letzten sechs Romane Do­sto­jews­kijs, die wir als seine Hauptwerke betrachten. Viele seiner späteren Themen und Motive tauchen hier bereits auf oder werden wenigstens angespielt. In der Hauptsache aber dürfte wichtig sein, dass hier eine ideologische Lebenshaltung der Zeit auf ihre Konsequenzen hin durchgespielt wird; mit diesem Buch wird quasi das psychologische Labor Dostojewskijs eröffnet.

Erzähler ist ein namenloser, 40-jähriger Mann, der seit einiger Zeit keiner Arbeit mehr nachgeht, da er von einer kleinen Erbschaft leben kann. Er bewohnt schon lange das im Titel besagte Kellerloch und wendet sich mit seiner Niederschrift an ein fiktives Publikum, angeblich um seine Erzählung zu konzentrieren. Allerdings muss die gesamte Schrift im Verdacht stehen, eine rhetorische Verteidigung seiner Existenz vor einer inneren moralischen Jury zu sein.

Der Text zerfällt in zwei Teile: Der erste ist eine essayistische Reflexion des Erzählers seiner eigenen Existenz, der zweite Teil erzählt einige nur scheinbar anekdotische Erlebnisse, die bereits 16 Jahre zurückliegen. Der erste Teil beginnt mit folgender Selbstbeschreibung:

Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstoßender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist. Für meine Gesundheit tue ich nichts und habe auch nie etwas dafür getan, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten alle Achtung habe. Zudem bin ich noch äußerst abergläubisch, so weit z.B., daß ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin abergläubisch.) Nein, meine Herrschaften, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht das nur aus Bosheit.

Ein solcher Auftakt steht aller romantischen Romantradition diametral entgegen. Auch in weiteren Verlauf dieses essayistischen Teils kokettiert der Ich-Erzähler mit seiner Verworfenheit, wobei die meisten seiner Eigenschaften, die er als besonders schlecht anführt, von den meisten Menschen, die sich für normal halten würden, wohl geteilt werden: Ehrgeiz, Argwohn, Empfindlichkeit und so weiter. Was ihn allerdings aus der Masse tatsächlich heraushebt, ist seine Feier der Verzweiflung und Aus­sichts­lo­sig­keit, die ihm ein Leiden bereiten, das er tief zu genießen vorgibt. Dieser essayistische Teil ist von tiefer Widersprüchlichkeit geprägt: Einerseits betrachtet sich der Erzähler als klüger, gebildeter, reflektierter als seine normalen Mitmenschen, andererseits verwandelt er die Verachtung, die ihm seine Mitmenschen offensichtlich entgegengebracht haben, in den Genuss von Rachsucht und Bosheit, die aber merkwürdig abstrakt bleiben.

Im Rahmen dieser psychologischen Selbststilisierung des Erzählers werden auch philosophische Probleme erörtert: Willensfreiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Rationalität werden in lockerer und weitgehend un­sys­te­ma­ti­scher Weise besprochen. Das Menschenbild, das dabei zutage tritt, kann man wohl als eine Art von Ad-hoc-Nihilismus verstehen, die sich aber nicht bis zur endgültigen und ausdrücklichen Verneinung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Werte durcharbeitet; es ist daher kein Wunder, dass dieses Buch auf Friedrich Nietzsche einen so großen Eindruck gemacht hat.

Schon gut, schon gut, ich mag ein Schwätzer sein, ein harmloser, lästiger Schwätzer, wie wir es ja alle sind. Aber was soll man denn tun, wenn die einzige und direkte Bestimmung eines jeglichen klugen Menschen in Schwatzen besteht: das heißt darin, mit Vorsatz leeres Stroh zu dreschen.

Der umfangreichere zweite Teil schildert, wie schon gesagt, einige Anekdoten aus dem Leben des 24-Jährigen, die sein berufliches, gesellschaftliches und emotionales Versagen konkret vorführen. Er soll zum einen so etwas wie eine praktische Demonstration der zuvor theoretisch erörterten Lage des Erzählers sein, zum anderen liefert er in aller Kürze einen negativen Entwicklungsroman, der die Entstehung der Isolation des Erzählers von der ihn umgebenden Gesellschaft musterhaft vorführt.

Nur im allerletzten Absatz des Buches taucht so etwas wie eine neutrale Instanz auf, die einen distanzierteren Blick auf das Erzählte andeutet:

Übrigens sind hier die Aufzeichnungen dieses paradoxen Menschen noch nicht zu Ende. Er konnte es nicht lassen und setzte sie fort. Aber auch uns will scheinen, daß man hier ohne weiteres aufhören kann.

Dieses „uns will scheinen“ ist die einzige Stelle, in der sich der Autor vom Inhalt des Buches distanziert. Dass es Dostojewskij später verstanden hat, auch diese letzte, neutrale Herausgeber-Fiktion noch fortzulassen, macht nicht wenig von der Bedeutung seiner späten Romane aus.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Fischer Klassik 90102. Frankfurt/M.: Fischer, 2011. Broschur, 162 Seiten. 11,– €.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus einem Totenhause

Unter solchen Erzählungen also oder, richtiger gesagt, unter solchem Geschwätz verging manchmal die Zeit, die uns so langweilig war. Hergott, was war das für eine Langeweile! Die langen, schwülen Tage waren einander so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Wenn man doch wenigstens ein Buch gehabt hätte!

Der junge Autor Fjodor Dostojewskij war im April 1849 verhaftet worden, da er an Treffen des Kreises um Michail Petraschewski teilgenommen hatte und damit in den Verdacht geraten war, ein Staatsfeind zu sein. Die Verhaftung stellte eine hysterische Reaktion des russischen Staates auf die europäischen Revolutionen von 1848/1849 dar, von denen man fürchtete, sie würden auch in Russland eine entsprechende Fortsetzung finden. Dostojewskij wurde zusammen mit anderen sogenannten Verschwörern zum Tode verurteilt und erst nach der Inszenierung einer Scheinhinrichtung zu vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien und anschließendem Militärdienst begnadigt.

Die Aufzeichnungen aus einem Totenhause sind nicht nur eine Verarbeitung der sibirischen Haftzeit, sie sind auch ein wichtiger Schritt für den Autor zurück in das literarische Leben Russlands. Dostojewskij war sich sicher, dass das Buch ein Erfolg werden würde, da bis dahin in der russischen Literatur keine Beschreibung des Gefangenenlebens in Sibirien existierte und das Buch deshalb allein stofflich auf großes Interesse stoßen werde.  Ab Herbst 1861 erschien der Text in Fortsetzungen in der Monatszeitschrift Wremja, die von Dostojewskijs Bruder Michail herausgegeben wurde. Dass der Text hier erscheinen konnte, zeigt die inzwischen eingetretene Liberalisierung der russischen Verhältnisse unter Zar Alexander II.

Die Aufzeichnungen bedienen sich äußerlich der damals beliebten Form der Reiseerzählung: In einer Mischung aus objektivierender Erzählung und tagebuchartig präsentierten subjektiven Erlebnissen wird dem Leser ein Blick in eine ihm unbekannte Welt geboten. Normalerweise galt das Interesse exotischen Orten – der Südsee, der Wildnis ferner Kontinente etc. –, aber Dostojewskij begriff, dass diese Form zu weit mehr geeignet war. Um den autobiographischen Bezug abzuschwächen, benutzte er die im 19. Jahrhundert beliebte Herausgeber-Fiktion: Der Erzähler gerät zufällig an den schriftlichen Nachlass des ehemaligen Sträflings Alexander Petrowitsch Gorjantschikow, der wegen der Ermordung seiner Frau zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden war und nach der Haft dort als Ansiedler sein Leben fristete. Wie wenig diese Herausgeber-Fiktion allerdings wahrgenommen wurde, zeigt sich darin, dass Dostojewskij sich für den Rest seines Lebens mit dem Verdacht herumschlagen musste, er selbst sei wegen Ermordung seiner Gattin nach Sibirien geschickt worden.

Dass die äußere Form nur als Hilfsmittel dient, wird besonders im zweiten Teil des Buches deutlich, dass in einzelnen Kapiteln zum Teil deutlich von diesem Muster abweicht. Am bekanntesten und berühmtesten dürfte die Binnenerzählung Akulinas Mann sein, die von der Karriere eines Trinkers erzählt, der aus finanziellen Motiven heraus eine unehrenhafte Frau heiratet, nach der Hochzeit ihre Unschuld erkennen muss und sie schließlich in einer Mischung aus Trunksucht, Wut und Selbstverachtung in einem Akt ungehemmter Gewalt ermordet. Dostojewskij nutzt hier nicht nur das allgemeine Interesse seiner Zeitgenossen an der vergleichsweise neuen Form der Kriminalerzählung, sondern dringt auch in Bereiche der Wirklichkeit vor, die literarisch zuvor nie geschildert worden waren. Das Buch besticht hier in jedem Detail durch Authentizität und Schonungslosigkeit der Darstellung. Es stellt eine wichtige Zwischenstufe zu Dostojewskijs späterer Auseinandersetzung mit Fragen der Moral und des Verbrechens dar.

Ein faszinierendes Buch, von dem ich bereue, es nicht schon früher gelesen zu haben, doch hatte ich immer Schwierigkeiten mit den älteren Übersetzungen Dostojewskijs ins Deutsche. Die bei Reclam vorliegende Übersetzung von Hermann Röhl stammt von 1921 und sollte besser durch eine aktuelle ersetzt werden.

Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus einem Totenhause. Aus dem Russischen von Hermann Röhl. RUB 2647. Stuttgart: Reclam, 1999/2017. Broschur, 511 Seiten. 9,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (107)

Das gleiche trifft auf Handkes berühmte Reizwörter zu. Sie bringen jenen Teil des Publikums in Rage, der sich von ihnen in Rage bringen läßt. Dieses Publikum wird nicht über das Reizwort an sich, sondern mit Recht dadurch zornig, weil es das Reizwort von einem Schauspieler auf der Bühne hört. Indem der Schauspieler das Reizwort auf der Bühne spricht, ahmt er einen Provokateur nach, der das Publikum zornig machen will, was ihm erfreulicherweise bei jenem Publikum gelingt, das noch naiv mitgeht – dieses Publikum ist immer noch das dankbarste –, während jenes Publikum, das sich durch die Reizwörter nicht in Rage bringen läßt, sich auch mit Recht nicht in Rage bringen läßt, weil es nicht so naiv ist, zu glauben, die Schauspieler, die es in Rage bringen wollen, seien wirkliche Provokateure. Dieses Publikum müßte, um in Rage zu kommen, jenes Publikum nachahmen, das in Rage kommt, das heißt, die Zuschauer, die nicht in Rage kommen, müssen die Rolle spielen, die ihnen Handke zuschreibt, um in Rage zu kommen; sie müssen die Spießer nachahmen, die sie nicht sind, weil sie nicht in Rage kommen, eine Rolle, die ihnen jedoch nicht liegt, weil sie keine Spießer sein wollen, weshalb sie denn auch klatschen: bei Handke klatschen alle, die nicht Spießer sind oder nicht Spießer sein wollen. Hat sich das einmal herumgesprochen, klatscht alles.

Friedrich Dürrenmatt
Sätze über das Theater

Allen Lesern ins Stammbuch (101)

Im Bücherschrank standen die Klassiker. Schiller, Göthe, Wieland, Shakespeare. Die kannte ich ja längst, und sie hatten mir doch nicht geholfen. Ach Gott, ich hatte die Klassiker gelesen, wie früher die Räuberromane, eilfertig, eilfertig, nur das Stoffliche verschlingend.

Im Bücherschrank, in alten, ehrwürdigen Einbänden, standen auch Herder und Lessing. Mit Herder war nichts anzufangen. Schon nach den ersten Seiten schweiften meine Gedanken abseits; für den war ich wohl noch nicht reif. Also Lessing, aber nicht etwa Emilia Galotti oder Minna Barnhelm, nein, etwas Lehrreiches. Der Laokoon, der sollte ja sehr tief und sehr bildend sein. Ich las ihn mit concentrirter Aufmerksamkeit, Satz für Satz, ich machte mir Auszüge. Meine Mutter kam einmal dazu. Ich hätte mich nicht sonderlich gegrämt, wenn sie, wie vor Jahren die Veronika, diesmal den Laokoon conficirt hätte. Ich wagte nicht mir zu gestehen, daß ich ihn langweilig fand. Von Kunst hatte ich nicht den leisesten Schimmer. Ich war noch nicht einmal im Museum gewesen.

Hedwig Dohm:
Schicksale einer Seele

Arthur Conan Doyle: The Complete Sherlock Holmes

Wer was versteckt, der findets auch wieder.

James Joyce

Ich habe für die zweite vollständige Lektüre der Doyleschen Sherlock-Holmes-Romane und -Erzählungen wohl gute sechs Jahre gebraucht. Es war eines der ersten Bücher, die ich mir für den Kindle gekauft habe, und es war in dieser Zeit mein Vademecum, das immer herhalten musste, wenn unterwegs gerade kein anderes Buch zur Hand war oder ich keine Lust auf anstrengendere Lektüre hatte. Den ersten Durchgang habe ich zu Studienzeiten mit der damals aktuellen Neuausgabe des seligen Haffmans Verlages erledigt, den zweiten nun im englischen Original. Dabei soll betont werden, dass dieser Complete Sherlock Holmes so wie die meisten anderen sogenannten Gesamtausgaben natürlich nicht komplett ist, sondern nur jene Texte enthält, denen die Ehre zuteil wurde, von Doyle selbst in Buchform veröffentlicht zu werden. Für mich und mein Interesse genügte das immer.

Nun ist Sherlock Holmes im Verlauf des 20. Jahrhunderts deutlich über den Status einer literarischen Figur hinausgewachsen und zu so etwas wie einer kulturellen Ikone geworden. Natürlich ist dieser Prozess nicht ohne Verwerfungen abgelaufen, aber die unzähligen Verwandlungen, Ironisierungen und Neuerfindungen der Figur im Laufe ihrer mehr als hundertjährigen Existenz sind so vielgestaltig, dass sich zwangsläufig die Frage aufdrängt, warum gerade mit ihr eine solche Erfolgsgeschichte geschrieben wurde. An der literarischen Qualität der Texte kann es kaum liegen, denn das immer in ihnen wieder variierte Grundmuster ist sehr eng, die Texte sind sehr offensichtlich von ihrer Auflösung her konstruiert und Holmes’ Scharfsinn daher immer eine Täuschung, auf die nur die naivsten Leser dankbar hereinfallen dürften.

Holmes verkörpert zuerst einmal einen reizvollen und komplexen gesellschaftlichen Außenseiter: Seine unhöfliche Direktheit, seine Arroganz, sein Drogenkonsum bilden die (tolerable) dunkle Seite seines vorgeblichen Genies. Zu seiner intellektuellen Überlegenheit, die sich nicht nur aus seinem ungewöhnlichen Vermögen zum deduktiven Denken, sondern auch aus seiner extrem verfeinerten Beobachtungsgabe besteht,  treten seine emotionale Selbstbeherrschung, seine sportliche Fitness, seine Verachtung gesellschaftlicher Konventionen und sein aus all dem resultierendes Einzelgängertum hinzu. Alle diese Aspekte machen die Figur zu einem menschlichen Superhelden, ebenso souverän und überlegen wie verletzlich und leidend – immer eine gute Mischung.

Entscheidend für die Faszination der Figur und ihren Erfolg scheint mir aber noch etwas anderes zu sein: Holmes verkörpert wie kein Zweiter die Illusion, dass sich eine für den alltäglichen Blick undurchschaubar chaotische Welt rational durchdringen und erklären lässt. Holmes weist immer aufs Neue nach, dass sich das irrational oder gar unmöglich erscheinende Material der Welt am Ende doch einer rationalen Ordnung fügt. Insofern ist Holmes der Herakles des aufklärerischen Mythos von der prinzipiellen rationalen Erklärbarkeit der Welt. Und vielleicht ist es gerade die Tatsache, dass dieser Mythos von den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts so erfolgreich durch sich selbst dekonstruiert worden ist, die Holmes zu einer Sehnsuchtsfigur nach den guten alten Zeiten des Rationalismus gemacht hat.

Arthur Conan Doyle: The Complete Sherlock Holmes. O.O.: Middleton Classics, 2010. Kindle-Edition, ca. 1560 Seiten. 1,02 €.

Jahresrückblick 2016

Auch für das vergangene Jahr die Höhen und Tiefen der Lektüre in einem kurzen Überblick, wobei ich vorausschicken möchte, dass ich in diesem Jahr keine wirklich durch und durch schlechten Bücher in die Hand bekommen habe. Viel Lesezeit des Jahres war Shakespeare und Jane Austen gewidmet, wobei ich es albern fände, „König Richard III.“ oder „Stolz und Vorurteil“ unter den besten Lektüren aufzulisten. Die beiden laufen daher außer Konkurrenz.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2016:

  1. Giorgio Agamben: Homo sacer – wahrscheinlich die anregendste philosophisch-politische Lektüre seit vielen Jahren! Unbedingt lesenswert.
  2. John Dos Passos: Manhattan Transfer – eine seit langem fehlende Neuübersetzung, die das Buch zum ersten Mal auf Deutsch erkennbar macht.
  3. Virginia Woolf: Orlando – auch in diesem Fall erschließt eine Neu­über­set­zung den Text in seiner sehr feinen formalen und sprachlichen Ge­ar­bei­tet­heit.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2016:

  1. William Shakespeare: Die Fremden – eine vollständig überflüssige Veröffentlichung, die versucht, aus der Solidarität der Deutschen mit den Flüchtlingen des Jahres 2016 Kapital zu schlagen.
  2. Michael Krüger: Das Irrenhaus – ein Buch wie aus dem Labor eines Creativ-Writing-Seminars: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.
  3. Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun – ein Roman, der sich mir überhaupt nicht erschlossen hat. Als historisches Phänomen verständlich, als Romanprojekt zumindest mit komplett unzugänglich.

Alfred Döblin: Die drei Spünge des Wang-lun

doeblin-drei-spruengeEs passiert einem doch vergleichsweise hartnäckigen und trainierten Leser wie mir selten, dass ich an einem Roman eines Autors, der mich interessiert, vollständig scheitere. Bei „Die drei Sprünge des Wang-lun“ habe ich nach einem Viertel des Romans aufgegeben, noch ein wenig im dritten und vierten Teil gestöbert und das Buch dann zur Seite gelegt mit dem deutlichen Eindruck, dass, was immer nun noch erzählt werden wird, mich einfach nicht interessiert.

Dass Unverständnis beginnt schon damit, dass mir in Sekundärtexten gesagt wird, der Roman spiele im China des 18. Jahrhunderts. Das tut er nicht. Der Roman spielt nirgendwo und nirgendwann, in irgendwelchen Städten und Dörfern, Bergen und Tälern, Höhlen und Hütten, die alle vollkommen gesichtslos und einander gleich sind. Seine Charaktere sind flach wie die Hermann Hesses, ihre vorgeblichen Gedanken wuschig wie die Peter Sloterdijks und die Episoden der Handlung so zufällig aufgereiht wie die Lottozahlen. Es mag schon sein, dass das alles zusammen irgendetwas bedeutet, dass die Zahnräder des Romans an irgendeiner Stelle in irgendeine irgendwann existiert habende Wirklichkeit eingegriffen und etwas angetrieben haben, aber falls dem so sein sollte, ist es mir vollständig verschlossen geblieben.

So weit ich es beurteilen kann, wird im Roman die Geschichte Wang-luns erzählt: Sohn eines Fischers, ein wilder und unerzogener Knabe eines eingebildeten Vaters, der zu einem Kerl heranwächst, der stiehlt und sich über andere lustig macht. Dann wird ihm von der Polizei ein Freund erschlagen, er wiederum erwürgt den Polizisten, flieht in die Berge und wird ein frommer Mann. Viele Dummköpfe strömen ihm zu. Er ermordet einen Teil der Dummköpfe. Er geht fort, angeln. Der Kaiser ermordet einen anderen Teil der Dummköpfe. Da wendet sich Wang-lun an der Spitze der verbliebenen Dummköpfe gegen den Kaiser. Und dann lässt er es wieder bleiben. Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer chinesisch dekorierten Märchenwelt. Hermann Hesses „Siddharta“ ist ähnlich undeutlich, aber viel, viel kürzer.

Das Buch gehört in die Reihe der China-Bücher vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts (Karl May, Elisabeth von Heyking, Klabund, Hans Bethge, Albert Ehrenstein, Bert Brecht), steht aber mit seiner Entstehungszeit 1912/13 relativ früh in dieser Reihe. Es ist für seinen abgehobenen Inhalt erstaunlich gut verkauft und noch vor 1933 ins Dänische und Französische übersetzt worden. Es muss also wohl was dran sein. Nur was, habe ich nicht herausfinden können.

Gelesen habe ich: Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman. Olten/Freiburg i.Br.: Walter, 1977. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten.

Lieferbar ist: Dass. Fischer-Tb. 90460. Frankfurt/M.: Fischer, 2013. Broschur, 528 Seiten. 10,99 €.

John Dos Passos: Manhattan Transfer

Gebt mir Freiheit, sprach Patrick Henry und setze am 1. Mai seinen Strohhut auf, oder gebt mir den Tod. Den hat er dann ja gekriegt.

dos-passos-manhattanBei „Manhattan Transfer“ (1925) handelt es sich um einen der frühen, großen Romane, die unter dem unmittelbaren Einfluss des Joyceschen „Ulysses“ (1922) entstanden sind. Daraus ergibt sich sein Status als einer der Gründungstexte der US-amerikanischen Moderne. „Manhattan Transfer“ hat sich für einen anspruchsvollen Avantgarde-Roman außergewöhnlich gut verkauft, was auch erklärt, dass er bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen auf Deutsch vorlag – auch Georg Goyerts Übersetzung des „Ulysses“ erschien übrigens im Jahr 1927.

Nun haben solche raschen Übersetzungen einerseits den Vorteil, dass sie die deutsche Leserschaft darüber auf dem Laufenden halten, was jenseits der Grenzzäune so getrieben wird, andererseits stellen sie an den Übersetzer hohe Ansprüche, denn nicht nur muss er gerade erst im Entstehen begriffene formale Entwicklungen in seiner Sprache nachbilden, sondern er sieht sich auch oft mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er sprachliche Slang-, Alltags- oder Mode-Wendungen nirgends nachschlagen kann und sich aufs Raten oder – wie Baudisch – aufs Weglassen verlegen muss. Andere Produktionshemmnisse mögen hinzugetreten sein.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, es kann nur festgestellt werden, dass die Übersetzung von Paul Baudisch, die bislang „Manhattan Transfer“ im Deutschen vertreten musste, ihren Lesern nur ansatzweise einen Eindruck von der Qualität des Originals vermitteln konnte – und das ist noch freundlich formuliert. Schon Kurt Tucholsky fasste 1931 seinen Eindruck von Paul Baudischs Übersetzungen in dem Satz zusammen: „Merkwürdig, aus welchen Händen unsre Übersetzungen kommen!“

Es ist daher nicht nur sehr löblich, sondern es war auch dringend nötig, dass Rowohlt diesen Text hat neu übersetzen lassen. Von Dirk van Gunsteren, der seine Kunst als Übersetzer auch schon an Thomas Pynchon, Philip Roth und T. C. Boyle unter Beweis gestellt hat, liegt nun eine sehr gut lesbare Neuübersetzung  vor, von der ich insgesamt den Eindruck habe, dass sie sich auf der Höhe des Originals bewegt. Auch van Gunsteren trifft einige befremdliche Entscheidungen  – so lässt er zum Beispiel in den meisten Fällen eine dialektale, soziale oder umgangssprachliche Einfärbung der Dialoge einfach weg und verflacht auf diese Weise den Text –, aber der Gesamteindruck seiner Übersetzung ist der Baudischs so weit überlegen, dass sich ein ernsthafter Vergleich verbietet.

Erzählt wird die Geschichte von ungefähr drei oder vier Hauptfiguren, die in der Hauptsache von 1904 bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt werden: Ellen, später Elaine und noch später Helena Thatcher, Tochter eines Buchhalters, die früh ihre Mutter verloren hat, wird Schauspielerin, heiratet einen ungeliebten Kollegen, verliebt sich in einen jugendlichen Säufer, dann in einen Journalisten, den sie im Ersten Weltkrieg lieben lernt, und endet als unglückliche Ehefrau eines Staatsanwalts. Jimmy Herf stammt aus besseren Verhältnissen, wird aber früh Waise und schlägt sich als Reporter durch. Er lernt Ellen durch eine ihrer Kolleginnen kennen, verliebt sich in sie, kommt ihr aber erst während des Krieges in Europa näher und kehrt 1918 mit ihr als Ehefrau und mit einem kleinen Sohn nach New York zurück. Jimmy ist der einzige, dem es am Ende des Romans gelingt, aus dem Dunstkreis New Yorks und damit vielleicht auch seinem Unglück zu entkommen. George Baldwin ist ein aufstrebender, junger Anwalt mit einer Schwäche fürs schöne Geschlecht. Er macht berufliche Karriere, endet als Bezirksstaatsanwalt und potenzieller Kandidat für das Amt des Bürgermeisters. Auch er verliebt sich leidenschaftlich in Ellen, verliert zwischenzeitlich sogar einmal die Kontrolle über seine Gefühle so weit, dass er versucht sie zu erschießen, und endet, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit aber mit Notwendigkeit als ihr letzter, unglücklicher Ehemann. Stanwood Emery ist ein junger, reicher Taugenichts und Ellens große und wahrscheinlich einzige Liebe. Stan ist ein notorischer Säufer, heiratet im Suff versehentlich die falsche Frau und kommt bei einem von ihm selbst verursachten Brand ums Leben.

Um diese Hauptfabel herum entwickelt Dos Passos ein reiches Panorama von Figuren und Geschichten: Bud Korpenning flieht als Mörder vom Land in die Stadt, fristet dort sein Dasein als Tagelöhner und Bettler und springt von einer der Brücken New Yorks in den Tod. Joe Harland war einst der König der Wall Street, hat sich verspekuliert und versäuft sein restliches Leben. James Merivale, ein Cousin Jimmy Herfs, ist ein opportunistischer Schwachkopf, kommt als Kriegsheld aus dem Ersten Weltkrieg und wird ein erfolgreicher Banker, der seine Schwester an einen Hochstapler verheiratet. Congo Jake ist ein französischer Matrose und Barkeeper, der als Alkoholschmuggler reich wird. John Oglethorpe (Ellens erster Ehemann), Ruth Prynne, Nevada Jones und Tony Hunter sind Schauspieler, die nie so recht den Durchbruch schaffen. Gus McNiel und seine Frau Nellie haben Glück im Unglück und machen aus einem Beinbruch eine Karriere. Joey O’Keefe ist ein Spitzel, der sich später für die Veteranen des Krieges engagiert. Dutch Robertson ist einer dieser Veteranen und macht Karriere als Räuber. Anna Cohen ist eine lebenslustige Jüdin, die gern tanzt und sich als Näherin durchschlägt; auch ihr Leben ist letztlich schicksalhaft mit dem Ellens verbandelt. Rosie und Jake Silverman sind ein Betrügerpärchen, dem kein Erfolg beschieden ist. Man könnte diese Aufzählung problemlos weiter treiben.

Alle diese Geschichten, Kleinsterzählungen und Anekdoten werden in kurzen Abschnitten – von einer halben Seite bis zu einigen Seiten Länge – vorangetrieben, die einander nach einem nur scheinbar zufälligen Muster ablösen. Dazwischen finden sich immer wieder rein impressionistische Abschnitte, aber auch kurze Blitzlichter der sozialen und politischen Verhältnisse New Yorks im frühen 20. Jahrhundert. Das korrupte Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird thematisiert, das Elend der Arbeitslosen, die Not der ungewollt Schwangeren, die Abschiebung politisch Unerwünschter, all dies und vieles mehr kommt oft nur wie nebenbei, aber dennoch unübersehbar in dem Gesamtbild vor, das der Roman zeichnet.

Der Roman ist mit seinem inhaltlichen und motivischen Reichtum sowie seiner musivischen Form eines der wichtigen Vorbilder für die Entwicklung des Romans im 20. Jahrhundert. Es ist sehr erfreulich, dass dieses wichtige, historische Musterbuch für deutsche Leser endlich in einer angemessenen Übersetzung vorliegt. Jeder und jedem, die an der Entwicklung der literarischen Moderne interessiert sind, sei die Lektüre dieser Neuübersetzung dringend empfohlen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2016. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,95 €.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele

Der Optimist glaubt, daß die Menschheit eines Tages den Tod besiegen wird. Und der Pessimist befürchtet, daß ihr dies tatsächlich gelingen könnte.

Duerr Dunkle NachtNach seinem Ausflug in die griechische Antike wendet sich Hans Peter Duerr wieder einem eher ethnologischen Thema zu: Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen, wobei er an keiner Stelle einen Zweifel daran lässt, dass er beides für innerpsychische Phänomene hält, denen keine wie auch immer geartete transzendente oder metaphysische Bedeutung oder gar Wirklichkeit entspricht. Daher taucht der Terminus Nahtod-Erfahrung – außer im Untertitel des Buches – auch stets in Anführungsstrichen bei ihm auf. Anlass der Beschäftigung mit diesem Thema sind zwei „Nahtod-Erfahrungen“ Duerrs (die erste davon hatte er bereits 1982), die sich so stark von den von Duerr zuvor gemachten Erlebnissen mit Drogen und Halluzinationen unterschieden, dass sein Interesse an dem Phänomen geweckt wurde.

Wie schon bei seinen früheren Büchern überwiegt bei Duerr die Dokumentation der überlieferten Erfahrungen bei weitem jeden Versuch, eine wie auch immer geartete theoretische Erklärung für die geschilderten Erlebnisse zu liefern. Duerr analysiert zuerst mit unzähligen Belegen die zentralen, „Nahtod-Erfahrungen“ weitgehend gemeinsamen Elemente, wobei sich bei einigen zeigt, dass ihre jeweilige Ausprägung stark durch die Kultur- und Glaubenszugehörigkeit der „Jenseitsreisenden“ geprägt ist. Anschließend nimmt er eine ebenso umfangreich belegte Abgrenzung der „Nahtod-Erfahrungen“ von anderen sogenannten psychischen Grenzerfahrungen vor: Schamanen-Reisen, Ekstasen, Halluzinationen, Träumen, Drogenerfahrungen, Entführungsphantasien, Teufels-Bessenheiten und zuletzt auch den Zuständen bei Herzstillstand. Eine kleine, nicht ganz vollständige Zusammenfassung der möglichen Bedingungen von „Nahtod-Erfahrungen“ liest sich so:

Ein solcher Zustand kann nicht nur bei Entspannung, extremer sensorischer Deprivation, Unfällen, Todesangst oder bei einer Überdosis gewisser pflanzlicher Drogen wie Iboga oder Stechapfel eintreten, sondern ebenfalls, wenn man vom Blitz getroffen wird oder möglicherweise auch, wenn man von einem hohen Felsen in die Tiefe springt. (S. 335)

Zu Ende des Buches findet sich dann doch noch ein eher theoretisches Kapitel, in dem – im umgangssprachlichen Sinne – esoterische Deutungen der „Nahtod-Erfahrungen“ unter Rekurs auf Wittgenstein und einen handfesten Realitätssinn (um es nicht Realismus zu nennen) abgewiesen werden.

Ich kann es nur abschätzen, aber ich vermute, das Buch stellt die umfangreichste Dokumentation von „Nahtod-Erfahrungen“ dar, die je erstellt wurde. Duerrs Belege reichen von der Antike bis in die Gegenwart und entstammen Berichten von sechs der sieben Kontinente. Duerr unterscheidet nicht systematisch zwischen religiös und profan überschriebenen Erlebnissen; überhaupt ist seine Darstellung von einer erfrischenden, vorurteilslosen Distanz gegenüber den meisten gerade gängigen ideologischen Positionen.

Die eine oder den anderen wird das Buch wegen seines nahezu ausschließlich dokumentarischen Ansatzes enttäuschen; selbst dort, wo Duerr bereit ist, sich auf eine eher abstrakte Diskussion des Themas einzulassen, geschieht dies in rein falsifikatorischer Absicht. So werden manche Leser nach der Lektüre zwar mit einem unvergleichbar reicheren Wissen über das Phänomen, aber – soweit sie sich auf Duerrs Argumente einlassen – mit keiner zufriedenstellenden Erklärung zurückbleiben. Und erfahrungsgemäß ist das etwas, was die wenigstens auszuhalten verstehen.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele. Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen. Berlin: Insel, 2015. Pappband, 688 Seiten. 29,95 €.