Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit

Alfred Denker liefert eine »Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger« als Vorarbeit einer umfassenden, dreibändigen Biografie, deren Erscheinen er bereits auf der ersten Seite der einleitenden Bemerkungen androht. Ob wir darauf sehr gespannt warten sollten, ist angesichts von biographischen Plattitüden wie etwa der folgenden eher fraglich:

Freilich übte er [Martin Heidegger] auf Frauen eine fast magische Anziehungskraft aus. Der Eros war in vielfacher Hinsicht bestimmend für sein Leben und Werk und funkelte aus seinen Augen!

»Und ach! sein Kuß!«

Zum Glück verschont uns das vorliegende Buch über weite Strecken mit solch enthusiastischen Einsichten in das Leben Martin Heideggers und konzentriert sich auf seine Philosophie. Das macht die Sache aber nur bedingt besser. Denn während rein sachlich die Darstellung der Denkentwicklung Heideggers (zumindest mich) zu überzeugen vermag, weist das Buch insgesamt doch schwere Mängel auf, die ich im folgenden etwas ausführlicher ansprechen werde. Hinzukommt die Frage, ob die Darstellung als Einführung geeignet ist. Nun besteht ein grundsätzliches Problem philosophischer Einführungen darin abzuschätzen, welche Voraussetzungen sie beim Leser machen können. Dies wird im Fall Heideggers zusätzlich dadurch erschwert, dass seine Philosophie extrem hohe Zugangshürden setzt: Nicht nur hat sie umfangreiche inhaltliche Voraussetzungen (der Leser Heideggers sollte idealerweise nicht nur gute Kenntnisse der antiken Philosophie von den Vorsokratikern bis Aristoteles mitbringen, sondern sollte sich auch grundlegend in der Scholastik auskennen, umfänglich Nietzsche und Kierkegaard gelesen haben und sowohl mit der Phänomenologie Edmund Husserls als auch dem neukantianischen Ansatz Emil Lasks vertraut sein), sondern der Einstieg wird zudem durch die Terminologie Heideggers erschwert, der nicht nur den Gebrauch traditioneller philosophischer Begriffskonzepte bewusst vermeidet, sondern oft auch einzelne philosophische Begriffe inhaltlich neu fasst oder gleich durch Neologismen ersetzt. Wenn es ohnehin häufig so ist, dass der Laie philosophische Texte erst zu verstehen beginnt, wenn er bereits weiß, was sie sagen, so gelingt ihm das im Falle Heideggers oft nicht einmal dann. Für denjenigen, der eine Einführung in das Denken Martin Heideggers liefern will, kommt als Schwierigkeit hinzu, dass sich Heideggers Gedanken zwar im Ungefähren paraphrasieren lassen, eine exakte Darstellung aber in den meisten Fällen von der Verwendung der heideggerschen Wortwahl abhängig bleibt. Und so ist eine Einführung in Heideggers Denken alles andere als eine einfache Aufgabe.

Angesichts dieser Schwierigkeiten zielt Denkers Darstellung offenbar auf ein akademisch vorgebildetes Publikum. Auch Denker gelingt es nicht, sich vom Jargon Heideggers zu lösen und zu einer terminologisch einfacheren und klareren Formulierung der Position zu gelangen, die nicht nur dem Charakter einer Einführung angemessener wäre, sondern auch die dringend notwendige kritische Durchdringung der heideggerschen Metaphysik ermöglichen würde. Stattdessen liefert er eine – soweit ich das beurteilen kann – zwar sachlich einwandfreie, bis auf Details aber unkritisch bleibende Wiedergabe der heideggerschen Denkentwicklung. Dies wird denn auch programmatisch formuliert:

In der Öffentlichkeit hat sich das Bild Heideggers in den letzten Jahrzehnten von einem großen Denker in eine unsympathische und fragwürdige Figur und einen philosophischen Scharlatan gewandelt. […] Es ist meines Erachtens Zeit, endlich Widerspruch einzulegen.

Doch auch wenn der Leser alle diese Voraussetzungen als mehr oder weniger unvermeidlich akzeptiert, bleiben, wie bereits gesagt, schwerwiegende Einwände gegen Denkers Buch: Der grundsätzlichste Einwand dürfte der sein, dass Denker an keiner Stelle versucht, Heideggers Philosophie zur historischen Gesamtentwicklung des 20. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen. Zwar findet sich Heideggers Auseinandersetzung mit Karl Jaspers in einiger Breite, aber alle anderen philosophischen Ansätze, auf die Heidegger nicht selbst unmittelbar reagiert hat, fehlen. Weder wird Heideggers Denken in den Rahmen der allgemeinen Existenzphilosophie des vergangenen Jahrhunderts eingestellt, noch wird sein Denken in Zusammenhang mit oder Gegensatz zu Positivismus, Pragmatismus, Sprachphilosophie oder Wissenschaftstheorie gebracht, von nichtphilosophischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen ganz zu schweigen. An einer einzigen Stelle erscheint einmalig das Wort »Quantenphysik« und dies auch nur, um deren Weltbild als »unvorstellbar« zu qualifizieren. Denkers Einführung bleibt hier ebenso wie ihr Gegenstand in einem wesentlichen Sinne provinziell: Die Welt bleibt außen vor, man bewegt sich nahezu ausschließlich in den selbstgeschaffenen bzw. nachgestellten Beziehungen.

Doch auch in dieser Provinzialität ließe sich von Denker ein deutlich kritischerer Abstand zur heideggerschen Position erwarten: Zwar kann er sich dazu durchringen, Heideggers Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus explizit als »Versagen« zu kennzeichnen, doch sieht er dieses Versagen nicht im vollständig mangelhaften Wirklichkeitsbezug Heideggers oder der Unmenschlichkeit seines Verhaltens, sondern »darin, dass er den eigenen methodischen Ansprüchen nicht gerecht wurde.« Dass dies vielleicht ein schlechtes Licht auf eine Methode werfen könnte, wenn sie in Zeiten der Not und Notwendigkeit zu solchem Verhalten führt, spielt in Denkers Überlegungen keine Rolle. Daher wird Heideggers Antisemitismus zwar nicht verschwiegen, aber er wird auch nicht groß thematisiert. Stattdessen erfahren wir ausführlich von Heidegers »misslungenem Versuch von 1933, das deutsche Volk zu einem metaphysischen Volk zu erziehen«. Weder hier noch an anderen Stellen findet sich ein angemessenes Wort über die Hybris Martin Heideggers.

Absurde Züge nimmt dieser Mangel an Distanz dann bei der Wiedergabe von Heideggers Äußerungen zur Kunst an. Denker scheint jeglicher Sinn dafür zu fehlen, um was für einen hochtrabenden Unfug es sich dabei handelt. Sind Heideggers Interpretationen einzelner Kunstwerke, so willkürlich und sachlich unbedarft sie auch sein mögen, sicherlich diskussionsfähig, so ist die auf diesem ganz schmalen Brett erstellte heideggersche Kunstauffassung von einer Borniertheit und Ignoranz, wie sie selten anderswo zu finden sein wird. Denker scheint Heideggers Gedanken über Kunst ohne jegliche Ironie gelesen zu haben. Dies scheint mir nur möglich zu sein, wenn man vom Phänomen der Kunst, insbesondere der Kunst des 20. Jahrhunderts, ebenso weit entfernt lebt wie der Meßkirchner Meister.

Und selbst bei der Darstellung der Spätphilosophie gelingt es Denker nicht, sich vom Faszinosum Heideggers zu befreien. Statt nach seiner endlich doch noch erreichten Einholung des Denkhorizonts Nietzsches die einzige verbleibende Konsequenz zu ziehen und endlich das Reden dort einzustellen, wo nichts mehr zu sagen ist, berauscht sich Heidegger auch weiterhin am eigenen Wort, um nahtlos zu einer neuen Metaphysik des Seyns überzugehen, die jetzt allerdings den unüberbietbaren Vorteil hat, ihre unausgesprochenen Voraussetzungen nicht mehr rational ausweisen zu müssen, da sich angeblich alle Rationalität im historischen Gang der Metaphysik inzwischen selbst terminiert habe. Die Vollendung der Metaphysik ist zugleich die Befreiung zur Neubegründung des philosophischen Geschwätzes aus dem Geist der Vorsokratik unter der Marke »Besinnung«. Das eine wird von der Erfahrung der Wirklichkeit so wenig berührt wie das andere.

Man muss Denker zugestehen, dass er alles Notwendige bereitstellt, um den Leser zu dieser Einsicht gelangen zu lassen, und sich zugleich glücklich dem Formulieren dieser Einsicht entzieht. Er bleibt in der heideggerschen Provinz und erklärt sie zur Welt des Eigentlichen und damit zur eigentlichen Welt. In diesem Sinne kann Denkers Buch als eine nützliche Hilfestellung zur Erledigung der heideggerschen Philosophie gelesen werden: Es ist gut, dies einmal angeschaut zu haben; kehren wir nun zur Realität zurück.

Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Bedruckter Pappband, 238 Seiten. 22,95 €.

Hans Peter Duerr: Die Fahrt der Argonauten

Duerrs Leser haben lange auf dieses Buch warten müssen: Es ist seit über zwei Jahren angekündigt gewesen, und das Vorwort ist mit »Herbst 2009« datiert, wobei ungeklärt bleibt, warum das Buch erst zur Frankfurter Buchmesse 2011 tatsächlich erschienen ist. Es handelt sich um eine unmittelbare Fortsetzung des Buchs über Rungholt; dort war in den letzten Kapiteln thematisiert worden, dass es sich beim Argonauten-Mythos um einen Reflex kretischer Fernreisen in den Norden Europas handeln könnte. Diese These wird hier nun ausführlich vorgeführt.

Dabei nimmt die Darstellung der oben genannten These nur einen relativ schmalen Raum ein: Es wird wahrscheinlich gemacht, dass kretische Seefahrer der Bronzezeit vom Mittelmeer aus über die Aude bis etwa Carcassonne und von dort über Land bis zur Garonne in der Gegend von Toulouse und anschließend über die Garonne in den Atlantik gelangt seien und sich so die zeitraubende und von widrigen Strömungen behinderte Fahrt durch die Straße von Gibraltar und nördlich entlang der spanischen und portugiesischen Atlantikküste erspart hätten. Der Transport des Schiffes Argo über Land findet sich denn auch in der Argonautensage bei Apollonios widergespiegelt und kann zudem durch schiffsbautechnische Erkenntnisse durchaus gestützt werden.

Ein Großteil des Buches ist aber der Deutung des Argonautenmythos als Fahrt ins Totenreich und der Rückkehr von dort als Variation des Fruchtbarkeitsmythos gewidmet. Dabei erzeugt Duerrs immer schon bestehende Neigung zum Enzyklopädischen diesmal noch mehr als sonst den Eindruck eines umgestülpten Zettelkastens. Wie immer bei Duerr besteht das Buch zu knapp 50 % aus Anhang (276 von 1111 Seiten sind mit Anmerkungen, 227 Seiten mit Literaturnachweisen und 22 Seiten mit einem Register gefüllt), wobei sich allerdings ein bedeutender Teil des Textes von dem in den Anmerkungen aufgeführten zusätzlichen Material kaum anders als durch die gewählte Schriftgröße unterscheidet. Lange Passagen des Buches enthalten einfach umfangreiche Auflistungen von motivisch verwandtem Material aus diversen Kulturen zumeist des Mittelmeerraums, aber oft auch darüber hinaus. So finden sich unzählige Beispiele vom Vorkommen von Widdern in den unterschiedlichsten Fruchtbarkeitsritualen und -mythen, ebenso unzählige Beispielen für die Verbindung von Unterwelts- und Fruchtbarkeitsmythen, ebenso unzählige für die Verwendung des Motiv des Hieros gamos in den diversen Kulturen etc. pp. All dies bezeugt einmal mehr Duerrs Fleiß und seine ungeheuerliche Belesenheit bzw. seine Fähigkeit, große Mengen von Material zu organisieren, die allerdings in Zeiten elektronischer Datenbanken nicht nur an Überzeugungskraft, sondern auch an Bedeutung zu verlieren scheint. Die in weiten Teilen hauptsächlich reihende Präsentation des Materials ergab bei mir jedenfalls eine eher ermüdende Lektüre.

Hans Peter Duerr: Die Fahrt der Argonauten. Berlin: Insel, 2011. Pappband, 1111 Seiten. 34,90 €.

Philipp Blom: Böse Philosophen

[…] an unsere eigene Faulheit, an Gleichgültigkeit und intellektuelle Wirrheit.

978-3-446-23648-6Populär und bewusst parteiisch geschriebener biographischer Essay um einige Figuren der Hauptphase der französischen Aufklärung. Das Hauptgewicht der Darstellung liegt auf Denis Diderot, als eigentliches Zentrum der Darstellung benutzt Blom aber den Salon des Baron Holbach, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einer der wichtigen Orte der intellektuellen Auseinandersetzung in Paris darstellte. Leider erfährt der Leser zu wenig über die allgemeine Pariser Salonkultur dieser Zeit, so dass er sich kein Bild davon machen kann, wie typisch bzw. außergewöhnlich der Salon der Holbachs war. Aber das ist noch das geringste Manko des Buches.

Für ein Buch, das über Philosophen und ihre Ideen berichtet, ist es immer schon ein schlechtes Zeichen, wenn sein Autor die Bedeutung grundlegender philosophischer Termini offenbar nicht kennt: So bedeuten transzendent und transzendental sehr unterschiedliches und können nur in ganz seltenen Fällen synonym verwendet werden. Auch sonst bleibt Bloms Darstellung der philosophischen Inhalte meist völlig unkritisch, entweder getragen von einem begeisterten Pathos oder von scharfer Ablehnung, je nachdem wie es dem Geschmack des Autor gerade entspricht. So ist Bloms Kritik der Positionen Rosseaus, so richtig sie in der Sache auch sein mag, stets durchsetzt mit mokanten und polemischen Bemerkungen, die auf die psychische Verfassung oder die persönliche Lebensführung Rousseaus zielen:

Rousseau war fasziniert von der kindlichen Entwicklung (solange sie sich nicht in seinem Haus vollzog, möchte man hinzufügen)

Nein, man möchte es nicht nur hinzufügen, man fügt es hinzu, und das einzig und allein in polemischer Absicht. Im Gegensatz dazu ist alles, was Diderot tut, wohlgetan. Während Rousseaus Gesellschaftsutopie wegen ihrer diktatorischen Konsequenzen scharf angeprangert wird, werden vergleichbare Ansichten Holbachs und Diderots verharmlosend kommentiert: Befürwortung der Todesstrafe durch Diderot? Naja, er hatte eben kein echtes Interesse an der Frage, und ansonsten hat er auch bedauert, dass so etwas notwendig sei. Und sowieso seien 300 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich ja auch keine so bedeutende Sache gewesen. Immerhin wird Friedrich Melchior Grimms These, dass »das Recht des Stärkeren […] die einzige Legitimität« schaffe, zitiert, bleibt aber unkommentiert stehen, anstatt als gesellschaftspolitische Konsequenz jener Ethik der Lust begriffen und kritisiert zu werden, die Blom zuvor seitenweise in den höchsten Tönen als Alternative zur christlichen Tugendlehre gepriesen hat.

Das Buch scheitert letztlich an den atheistischen und antichristlichen Affekten des Autors. Anstatt die historische Lage Mitte des 18. Jahrhunderts als die wichtige Stufe in der Entwicklung der modernen ethischen Theorien zu begreifen, die sie darstellt, versucht er eine einzelne, höchst disparate philosophische Position dieser Zeit zu verabsolutieren. Dabei legt er höchsten Wert auf den Atheismus der Vertreter dieser Position; selbst David Hume, dem er einen gewissen Rang im philosophiegeschichtlichen Prozess nicht abstreiten kann, muss leider abgewertet werden, da er nur Agnostiker gewesen ist und den Atheismus aus erkenntnistheoretischen Bedenken heraus ablehnte. Es ist dann kein Wunder, dass das, was Blom über die kantische Ethik schreibt, blanker Unfug ist und er über Kant und Hegel ansonsten nur anzumerken weiß, sie seien »wie Heilige verehrt« worden. Weder findet sich eine Auseinandersetzung mit der Lessingschen Geschichtsauffassung – einer der wichtigsten deutschen Reaktionen auf die Ideen der Aufklärung – noch mit der Kantischen Bestimmung der Pflicht. Stattdessen wird dem Leser nahegelegt, eines der pornographischen Romänchen Diderots für eine emanzipatorische Kampfschrift

gegen die Verschwendung der Leben der hinter Klostermauern sequestrierten Frauen, gegen die unnatürliche und »nutzlose Tugend« des Zölibats, gegen unterdrückte Leidenschaft und kirchliches Dogma

halten zu sollen. Diderot hätte mit der Leidenschaft der von ihm imaginierten Nonnen sicherlich besseres anzufangen gewusst.

Auch geistesgeschichtlich bleibt Bloms Darstellung naiv: So scheint ihm jeglicher Sinn dafür zu fehlen, dass die im 18. Jahrhundert zum paradigmatischen Referenzbegriff werdende Natur nur eine Metapher mehr ist, aus der die sich emanzipierende bürgerliche Kultur ihre Berechtigung, ja, Überlegenheit abzuleiten versucht. Es handelt sich bei der Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eben nicht um einen objektiven Gegenstand empirischer Forschung, sondern um ein inhaltlich höchst flexibles metaphysisches Konzept, das dazu dient, das propagierte neue Menschenbild als unverfälscht und echt auszuzeichnen. In diesem Sinne hätte auch der Terminus Naturwissenschaft bzw. Wissenschaft historisch eingeordnet werden müssen, anstatt stillschweigend so zu tun, als bestehe zwischen unserem Konzept empirischer Forschung und dem des 18. Jahrhunderts eine ungebrochene Kontinuität.

Und nicht zuletzt muss Blom darin widersprochen werden, das Erbe dessen, was er radikale Aufklärung nennt, sei vergessen worden. Das eben ist es nicht, sondern es ist im Prozess der historischen Entwicklung zur Moderne aufgehoben worden. Dass es in seiner kompromisslosen Idealität und Radikalität für die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft unbrauchbar war, erkennt sogar Blom an. Und der Glaube, dass die von Blom angepriesene Ethik der Lust praktisch überhaupt geeignet sei, eine funktionierende Gesellschaft zu begründen, setzt ein so illusionäres Menschenbild voraus, dass selbst Blom an jenen Stellen Bedenken zu hegen scheint, an denen sich seine radikalen Aufklärer in allzumenschliche Affären und Streitigkeiten verwickeln.

So bleibt Bloms Darstellung bei aller Detailkenntnis leider polemisch und geschmäcklerisch und kann außer für jene, die darin bestätigt finden wollen, was sie ohnehin schon immer denken, nicht empfohlen werden.

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Hanser, 2011. Pappband, Lesebändchen, 400 Seiten. 24,90 €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Mitmacher. Ein Komplex

Im Jahr 1972 entstand Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Der Mitmacher, das 1973 in Zürich und noch im selben Jahr auch in Mannheim in direkter Zusammenarbeit mit dem Autor ohne Erfolg inszeniert wurde. Dieser Misserfolg veranlasste Dürrenmatt zu einer umfassenden Reflexion des Stückes in einem umfangreichen Nachwort; dieser ungewöhnliche Vorgang wiederum löste einen weiteren Durchgang der Reflexion in einem Nachwort zum Nachwort aus.

Beim Protagonisten von Der Mitmacher handelt es sich um einen promovierten Biologen, Doc genannt, der während einer Wirtschaftskrise entlassen wurde und sich daher als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt verdiente. Er kommt dabei zufällig in Kontakt mit Boss, einem mächtigen Gangster, dem er sich nützlich macht, indem er ein Verfahren erfindet, Leichen zu verflüssigen und in der Kanalisation verschwinden zu lassen. Doc lebt in einem Untergeschoss eines alten Lagerhauses, wo er auch seiner Arbeit nachgeht und das er nur selten verlässt. Er hat aber dennoch ein Verhältnis mit Ann, der Geliebten von Boss, wobei weder Doc noch Ann ahnen, dass der jeweils andere ebenfalls für Boss arbeitet. Dürrenmatt versucht etwas ähnliches wie eine dramatische Handlung zu entwickeln, in dem er Cop auftreten lässt, einen scheinbar korrupten Polizeichef, der sich in das Geschäft um die verschwindenden Leichen hineindrängt. Außerdem tritt auch noch Bill, der Sohn Docs, auf, der die Chemiewerke geerbt hat, die Doc einst entlassen haben, und der seinen Reichtum dazu nutzen will, jährlich den Staatspräsidenten umbringen zu lassen. Das ganze Stück zeichnet sich durch denkbar knapp gehaltene Dialoge aus, in denen die Figuren versuchen, einander ihre wirklichen Motive zu verheimlichen; all das klingt wie eine schlechte Parodie auf billige amerikanische Gangster-Filme. Durchbrochen werden diese Dialoge durch Monologe der Hauptfiguren, in denen sie dem Publikum ihre wahren Motive oder ihre wirkliche Geschichte offenbaren.

Wahrscheinlich ist schon aus dieser Beschreibung heraus gut zu erkennen, warum das Stück durchgefallen ist. Im Nachwort finden sich Dürrenmatts Gedanken über die Gestaltung der einzelnen Figuren, ihrer Monologe und ihrer Beziehungen zueinander sowie über die dramaturgischen Probleme der Zürcher und Mannheimer Inszenierungen. Dürrenmatt spricht davon, dass er damit versuche, zu seinem Stück die Partitur nachzuliefern. Die Reflexionen des Nachworts sind durchweg einleuchtender und interessanter als die Szenen und Dialoge des Stückes, die sie erläutern. Das Stück leidet nicht unter einem Mangel an Intention und Konzeption, sondern im Gegenteil an einem Übermaß an beidem, das weder dem Zuschauer noch dem Leser ausreichend kommuniziert wird.

Das Nachwort zum Nachwort wiederum liefert im Wesentlichen allgemeine dramaturgische Gedanken insbesondere zu den Bühnenkonzepten Schicksal und Zufall sowie zwei Erzählungen: Eine, die die stoffliche Grundlage des Mitmachers liefert – sie ist wahrscheinlich ein wichtiger Wendepunkt für die Entwicklung der Dürrenmattschen Stoffe –, und das Punkstück des ganzen Mitmacher-Komplexes: Das Sterben der Pythia. Hier finden sich wesentliche Teile von Dürrenmatts Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie, dem Drama Shakespeares und Brechts und seiner eigenen Dramaturgie des Zufalls.

Insgesamt handelt es sich bei Der Mitmacher wohl um einen der ungewöhnlichsten Texte der Nachkriegsliteratur. Man wird wohl keine vergleichbare Auseinandersetzung eines Autors mit einem seiner Misserfolge finden. Außerdem ist einmal mehr festzustellen, dass der die Zeiten überdauernde Teil von Dürrenmatts Werk der essayistische zu sein scheint. In seinen theoretischen Schriften, nicht in seinem Stücken beweist der Autor seine Qualitäten: Originalität des Gedankens, Reflexion der modernen Welt und ihrer Verstrickungen von Naturwissenschaften und Politik und Kritik von Macht und denen, die sie inne haben.

Der Mitmacher-Komplex stellt einen ungewöhnlichen Zugang zum Denken Dürrenmatts zur Verfügung, der sowohl eine Einführung in seine Dramaturgie als auch in  die Stoffe bietet. Eine Empfehlung für alle, die sich ernsthaft mit Dürrenmatt auseinandersetzen wollen.

Friedrich Dürrenmatt: Der Mitmacher. Ein Komplex. detebe 23054. Zürich: Diogenes, 1998. 352 Seiten. 9,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (38)

Von der Aussage: Gibt der Schriftsteller die Berechtigung zu, sich nach dem Grund seines Schreibens fragen zu lassen, muß er auch die Frage nach dem Sinn dessen, was er unternimmt, gestatten, die Frage nach seiner Aussage, mit der heute jeder Kritiker kommt. Eine andere Sache ist es freilich, ob er diese Frage für beantwortbar halte. Er kann sich nämlich für unzuständig erklären und einwenden, daß, falls er diesen Sinn wüßte, er nur den Sinn hinschreiben würde, nur die Aussage, und sich den immerhin doch mühsam genug zu erarbeitenden Rest ersparen könnte.

Friedrich Dürrenmatt
Literatur nicht aus Literatur

Philip K. Dick: The Three Stigmata of Palmer Eldritch

978-1-59853-009-4Science-Fiction-Roman, der 1965 erschienen ist. Im Zentrum steht der Precog – eine Person, die eine beschränkte Einsicht in zukünftige Entwicklungen hat – Barney Mayerson, der für die monopolistische Firma P.P. Layouts tätig ist. P.P. Layouts produziert und vertreibt die illegale Droge Can-D, die in den Kolonien auf den Planeten und Monden im Sonnensystem an die Kolonisten verkauft wird. Die Droge erzeugt eine mehreren Personen gemeinsame Halluzination, die sich um eine Fantasiewelt dreht, deren materielle Vorlage P.P. Layouts ebenfalls herstellt. Dieses Drogen-Monopol gerät nun in Gefahr durch die Rückkehr Palmer Eldritchs von einer interstellaren Reise nach Proxima Centauri. Er scheint von dort eine Konkurrenz-Droge, Chew-Z, mitgebracht zu haben, deren Vertrieb unmittelbar bevorsteht.

Während der Roman als eine Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die in weiten Teilen um Drogenkonsum herum organisiert zu sein  scheint, beginnt, schiebt sich, je weiter er fortschreitet, ein anderes Thema in den Vordergrund: Die Person Palmer Eldritchs wurde auf seiner Rückreise zur Erde von einer interstellaren Lebensform übernommen, die mit Hilfe der Droge Chew-Z die Kontrolle über die menschliche Zivilisation übernehmen will.

Wie oft so arbeitet Dick auch in diesem Roman mit einer Fülle von Themen und Motiven, die er letztendlich nicht ausschöpfen kann. Diese motivische Breite soll darüber hinweg täuschen, dass die zentralen Themen jeweils nur angerissen und auch nicht einmal versuchsweise zu Ende gedacht werden. So sind die offenbar gemeinten Parallelen sowohl zwischen dem Drogenkonsum und der christlichen Religion als auch die zwischen Gott und dem interstellaren Wesen jeweils bloß behauptet bzw. angedeutet, entbehren aber jeglicher gedanklicher Durchdringung. Hier mag sich jeder Leser nach Belieben etwas zusammenreimen oder es eben auch bleiben lassen.

Einmal mehr überzeugt Dick mehr durch fantastische Fülle – insbesondere die Passagen, die die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit unter dem Einfluss von Chew-Z beschreiben, sind faszinierend –, weniger durch Konstruktion oder Gehalt.

Philip K. Dick: The Three Stigmata of Palmer Eldritch. In: Four Novels of the 1960s. New York: Library of America, 2007. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 230 von insgesamt 831 Seiten. Ca. 30,– €.

Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen

978-3-15-021702-3Ein kurze, gut lesbare Einführung in die Geschichte der Entzifferung antiker Schriftsysteme von den ägyptischen Hieroglyphen über verschiedene andere Hieroglyphen und Keilschriften bis hin zu Linear B. Es folgen dann noch kurze Kapitel zu nicht bzw. nur teilweise entzifferten Schriften wie Linear A, das Etruskische, die Indus- und die Osterinselschrift.

Das Buch ist für ein Sachbuch schon etwas betagt. Es wurde erstmals 1957 veröffentlicht und dann 1993 in einer Neubearbeitung erneut aufgelegt; in dieser Fassung wurde es 2008 von Reclam noch einmal gedruckt. Auch der überarbeiteten Fassung merkt man noch deutlich ihre Herkunft aus den 50er Jahren an, als Sachbücher noch versuchten, mit lebhaften Darstellungen zu glänzen. Leider bemerkt man das Alter auch an anderen Stellen:

Sayce war nicht, wie heute außerhalb Großbritanniens gerne behauptet wird, Engländer, sondern Waliser, stammte beiderseits von altadeligen und begüterten walisischen Familien ab und hatte auch das Walisische zur Muttersprache. So findet sich auch in diesem ungewöhnlichen Forscher der keltische Hang zum Grübeln und Sinnieren, die keltische Lust am fabulieren (die ihm in seinen Arbeiten so manchen Streich spielte), aber auch die impulsive Wärme und das überschäumende Temperament, das man seinen Stammesgenossen gerne nachsagt.

Zum Glück sind solche Passagen, in denen der Autor dem germanischen Hang zum Unsinnreden nachgibt, eher selten.

Insgesamt eine gute, informative Darstellung, die den Laien weder unter- noch überfordert.

Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen. Reclam Taschenbuch 21702. Stuttgart: Reclam, 22008. 350 Seiten. 9,90 €.

Philip K. Dick: The Man in the High Castle

978-1-59853-009-4Nicht ganz runder Roman auf der Grenze zwischen Science-Fiction und Alternativer Geschichte. Erzählt wird über eine nur lose miteinander verbundene Handvoll von Menschen, die 1962 im Westen der ehemaligen USA leben. Die Fiktion geht davon aus, dass der Zweite Weltkrieg 1948 vom Deutschen Reich und den Japanern gewonnen wurde. Die Japaner haben im Westen der USA eine Besatzungszone errichtet, die Nazis eine Vichy-ähnliche Regierung im Osten der USA etabliert. Dazwischen liegen als Pufferzone die sogenannten Rocky Mountain States. Hier und in der japanischen Besatzungszone, genauer in San Francisco spielt der Roman hauptsächlich.

Der Roman unterscheidet sich durch seine thematische Vielfalt und seinen Reichtum an Reflexionen wohltuend von üblichen Beispielen der Genre-Literatur. Man muss es Dick wohl zugutehalten, dass er sich für die gut 220 Seiten des Romans zu viel vorgenommen hat. Nicht nur  versucht er, ein authentisches Bild einer Nachkriegswelt zu entwickeln, in der Japan und der Nazi-Staat die führenden und miteinander konkurrierenden politischen Kräfte sind, es wird auch die grundsätzliche Schwierigkeit der US-Amerikaner dargestellt, japanische Kultur und Umgangsformen zu begreifen, ein Diskurs über Historizität und Originalität als ästhetische Kriterien geführt, das I Ging ausführlich benutzt und zitiert, eine Poetik des Buches anhand eines Buches im Buch geliefert, wobei das Buch im Buch eine weitere alternative Fassung der Nachkriegsgeschichte liefert sowie eine Agenten-Geschichte mit Sex and Crime erzählt. Und das sind nicht einmal alle Handlungsfäden, die das Buch verfolgt.

Es ist verständlich, dass Dick nur einen der Handlungsstränge einigermaßen einem Ende zuführen kann und auch das nur auf einer eher allegorischen Ebene, indem er den Autor des Buches im Buch, bei dem es sich um den Titel gebenden Man in the High Castle handelt, auftreten und den ganzen Roman als Fiktion entlarven lässt. Dieser Abschluss ist nicht wirklich überzeugend, ist aber natürlich dem Widerspruch zwischen literarischem Anspruch und begrenzter Seitenzahl geschuldet. Von daher ist der Roman zwar etwas kurzatmig geraten, insgesamt aber durchaus lesenswert.

Philip K. Dick: The Man in the High Castle. In: Four Novels of the 1960s. New York: Library of America, 2007. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 225 von insgesamt 831 Seiten. Ca. 30,– €.

Lutz van Dijk: Geschichte der Juden

978-3-593-38537-2 Eine kurze, für Jugendliche verfasste Geschichte des jüdischen Volkes von den babylonischen Anfängen bis zur Gegenwart. Die Darstellung konzentriert sich in den verschiedenen Epochen immer wieder auf einzelne Figuren, die entweder in erfundenen Monologen oder aber auch mit ihren eigenen Schriften zu Wort kommen. So berichtet einerseits etwa Abrahams Sklavin Hagar davon, wie sie die Mutter Ismaels wurde, oder Aaron erzählt, wie es zum Tanz um das goldene Kalb kam. Andererseits kommen zum Beispiel Anne Frank und Hanna Arendt in Zitaten zu Wort.

Das Buch kann seinen Charakter als Jugendbuch nicht verleugnen, ist aber auch für erwachsene Leser als eine erste, rasche Einführung ins Thema durchaus geeignet.

Lutz van Dijk: Geschichte der Juden. Frankfurt/M.: Campus 32008. Pappband, 213 Seiten. 19,90 €.