Alfred Döblin: November 1918 (4)

978-3-10-015557-3 Der abschließende vierte Band des Romanzyklus mit dem Titel Karl und Rosa ist der umfangreichste Einzelband. Erzählerisch spiegelt sein Beginn das Ende des dritten Bandes (respektive zweiten; dazu unten noch einige Sätze) wieder: Wurde dort das bis dahin weitgehend vorherrschende musivische Erzählen durch eine eher kontinuierliche Erzählung des weiteren Lebensweges des US-amerikanischen Präsidenten Wilson abgelöst und so eine erste Abrundung der Erzählung geschaffen, konzentriert sich der vierte Band zu Anfang auf den Lebensweg Rosa Luxemburgs ab dem Februar 1915 mit dem Schwerpunkt ihrer Haftzeit in Breslau. Erst im zweiten Buch setzt die detaillierte Erzählung der deutschen Revolution dort wieder ein, wo Döblin sie im Band zuvor abgebrochen hatte. Dieser letzte Band kehrt aber nicht mehr vollständig zu dem reichen Wechsel der Perspektiven zurück, sondern konzentriert sich auf deutlich weniger Erzählstränge.

Der Verlauf der deutschen Revolution wird weiterverfolgt bis zur Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919, in der Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet werden; vom Prozess gegen die Täter sowie den milden Urteile wird nur summarisch berichtet. Neben der ausführlichen Schilderung dieser Taten liegt das Hauptgewicht der Darstellung auf der versäumten Gelegenheit vom 6. Januar, als sich eine revolutionäre und bewaffnete Masse in Berlin versammelt, aber aufgrund mangelnder Führung nach einige Stunden wieder auseinanderläuft. Die Regierung Eberts – dessen Porträt in diesem letzten Band noch einmal deutlich negativer gerät –  sitzt die Krise eine Woche lang aus, um dann das Wiedereinkehren der bürgerlichen Ruhe zu verkünden und sich auf die Nationalversammlung vorzubereiten. Unter den revolutionären Kräften im engeren Sinne will nur Karl Liebknecht die Niederlage vom 6. Januar nicht akzeptieren und ist bestrebt, die diversen Besetzungen von öffentlichen Plätzen und Gebäuden sowie Pressehäusern aufrecht zu erhalten. Deren gewaltsame Räumung schildert Döblin zum Teil im Detail.

Als außergewöhnlich treten hier besonders zwei längere Passagen hervor, in denen der Text überraschend ins Satirisch-Phantastische umschlägt: Da ist zum einen eine Szene, in der im Finanzministerium eine Abordnung von Matrosen wegen ihrer Löhnung vorstellig wird und mit einem einzigen Satz wie mit einer Zauberformel ein Chaos auslöst, das aber am Ende nur zwölf Sekunden gedauert haben soll. Zum anderen findet sich die Beschreibung einer Geisterstunde auf der Siegesalle, in der die marmornen Denkmäler von ihren Sockeln herabsteigen und einer Prozession der Berliner Gefallenen des Ersten Weltkriegs beiwohnen. Beide Passagen sind überzeugend gestaltet und von kräftiger Wirkung, ragen aber aus dem übrigen Text wie unverbundene Blöcke heraus. Sie bleiben stilistisch und inhaltlich Episode.

Wie schon der Titel andeutet, tritt in diesem Band Rosa Luxemburg, die bislang nur einen Nebenrolle gespielt hatte, als gleichgewichtige, neue Figur zum bisherigen Ensemble hinzu. Auch Rosa leidet an Visionen, bei ihr ausgelöst durch Schuldgefühle und die Isolation ihrer Haft in Breslau. In ihren Visionen tritt vorerst nur Hannes auf, ein früherer Geliebter, der an der Ostfront gefallen ist; später wird auch Rosa vom Teufel besucht. Es ist aus dem Roman allein nicht verständlich, wieso Döblin seine Figur der Rosa mit einem solchen psychischen Ballast belastet, für den sich in der Biografie Luxemburgs wohl keinerlei Anhaltspunkte finden lassen. Was die Visionen selbst angeht, so gehen Rosas nicht wesentlich über die früheren Friedrich Beckers hinaus, sondern sie scheinen nur von anderem Inhalt zu sein. Diese Stilisierung Rosas ist mir weitgehend unverständlich geblieben; dementsprechend mühsam fand ich besonders die späteren Passagen zu diesem Motiv zu lesen.

Von den bereits bekannten Figuren werden die Schicksale Stauffers und Beckers weiter verfolgt: Stauffer, der im vorangegangenen Band bis zum Ende einer bürgerlichen Komödie begleitet wurde, wird noch weiter zur Normalität geläutert. Seine geliebte Lucie erweist sich als Alkoholikerin und Stauffer selbst als unverbesserlicher Casanova – da sich das Paar aber mit sich selbst, ihren und des Partners Schwächen befreundet, geht es in eine sonst nicht weiter erwähnenswerte Bürgerlichkeit ein. Stauffers Karriere als Dramatiker findet darin ihr Ende.

Spannender ist die weitere Geschichte Friedrich Beckers: Er scheint seine Visionen weitgehend überwunden zu haben und versucht sich wieder im Schuldienst. Er wird dabei aber nahezu augenblicklich in die Affäre um den Rektor seiner ehemaligen Schule verwickelt, der in den vorangegangenen beiden Bänden als Nebenfigur eingeführt worden war. Doch Beckers Versuche, sowohl den Rektor als auch einen beteiligten Schüler vor dem Schlimmsten zu bewahren, scheitern: Der Rektor wird vom alkoholisierten Vater des Schülers, der eine homoerotische Beziehung zwischen beiden vermutet, so verprügelt, dass er an den Folgen stirbt; der Schüler flieht aus dem an dieser Tat zerfallenden Elternhaus und schließt sich den Revolutionären an, die das Polizeipräsidium besetzt halten. Becker folgt dem Jungen bis dorthin und wird mit ihm Zusammen bei der Erstürmung des Gebäudes verletzt. Obwohl sich Becker mehrfach die Möglichkeit bietet, sich dem nachfolgenden Prozess zu entziehen, besteht er darauf, wie die anderen Revolutionäre angeklagt und abgeurteilt zu werden. Nach drei Jahren Haft versucht er es noch mehrfach mit einer bürgerlichen Existenz, wird aber schließlich Narr in Christo, der als Obdachloser das Land durchstreift und mehrfach im Namen eines radikalen Christentums die öffentliche Ordnung stört. Auch er wird bis zu seinem Tod von Visionen, insbesondere des Teufels, verfolgt. Mit Beckers Tod und der Verklappung seiner Leiche endet der Zyklus.

Abschließend noch einige Sätze zu dem Problem der erzählerischen Großstruktur des Zyklus: Wie bereits in der Einführung erwähnt, war der Zyklus ursprünglich als Trilogie geplant, wurde dann aber faktisch als Tetralogie veröffentlicht, da der zweite Teil weit über das geplante Maß hinausgewachsen war. So liegen derzeit zwei Ausgaben vor, von denen die eine (dtv) den Roman als Tetralogie präsentiert, während die hier besprochene Ausgabe von S. Fischer den zweiten und dritten Band als Teilbände 2.1 und 2.2 behandelt. Es ist nun fraglos so, dass der dritte Band (= 2.2) einen ersten, vorläufigen Abschluss des Zyklus liefert, der so weder im ersten noch im zweiten Band (= 2.1) zu finden ist. Da der erste Band bereits vorab veröffentlich war, ließe sich argumentieren, dass Döblin das vorläufige Ende geschrieben hat, um die beiden Teilbände des zweiten Teils einem Verleger unabhängig vom abschließenden dritten Teil anbieten zu können. Dies spräche dafür, dass es sich strukturell eher um eine »Trilogie in vier Bänden« als um eine Tetralogie handelt. Am Ende ist diese Frage aber wohl so unerheblich, dass hier schon zu viel über sie gesagt worden ist.

Mit insgesamt über 2.200 Seiten muss dieser Zyklus als einer der bedeutendsten zeitgeschichtlichen deutschen Romane gewertet werden. Er ist sicherlich aufgrund der starken spirituellen Anteile, die sich letztendlich wohl nicht auf die Darstellung psychischer Phänomene werden reduzieren lassen, keine einfache, geschweige denn eingängige Lektüre. Dennoch ist es mir letztlich unverständlich, dass er im Bewusstsein der Leser so wenig verankert zu sein scheint. Doch teilt er dieses Schicksal schließlich mit dem übrigen Werk Döblins, von Berlin Alexanderplatz einmal abgesehen.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Karl und Rosa. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 783 Seiten. 19,90 €.

Alfred Döblin: November 1918 (3)

978-3-10-015556-6 Der dritte Band Heimkehr der Fronttruppen bringt den Erzählbogen, den Döblin in Bürger und Soldaten 1918 eröffnet hatte, zu einem Abschluss. Die Erzählung aus Verratenes Volk wird unmittelbar fortgesetzt: Die vom militärischen Hauptquartier aus organisierten Truppen aus dem Westen kehren in ihre Berliner Kasernen zurück. Sie werden von staatlichen Vertreter der neuen Republik als ungeschlagene Helden empfangen, während die politisch organisierte Linke die Befürchtung hegt, dass der Einzug der Truppen nur das Vorspiel zu einem Militärputsch darstellt. Doch ganz im Gegenteil lösen sich die Truppen in kurzer Zeit bis auf Reste auf, da die Soldaten einfach massenweise davonlaufen. Die militärische Führung sieht sich plötzlich einem Chaos gegenüber, während Ebert und seine Volksbeauftragten fürchten, dass die Soldaten den Spartakisten zulaufen und die Gefahr eines revolutionären Aufstandes verschärfen werden.

Das Militär reagiert auf die chaotisch verlaufende Auflösung der Truppen durch die Bildung von Freichors nach Lützowschem Vorbild, aus Freiwilligen gebildet, die sich einer scharfen Disziplin unterwerfen und sich unter den Befehl der Regierung stellen. Auch Liebknecht fürchtet, dass ihm die Situation aus der Hand geraten und sich die revolutionäre Bewegung verselbstständigen könnte. Die historisch-politische Ebene des Buches läuft auf die Eröffnung des 1. Rätekongress in Berlin am 16. November zu.

Interessanterweise bricht Döblin die kontinuierliche Erzählung der deutschen Ereignisse aber bereits um den 14. November herum ab und konzentriert sich auf den letzten knapp 60 Seiten des Romans auf den US-amerikanischen Präsidenten Wilson und sein Engagement für den Friedensvertrag und die Gründung des Völkerbundes sowohl in Europa bei den Verhandlungen der Sieger als auch in den USA, wo sowohl Senat als auch die Mehrheit der Bevölkerung diesen Bemühungen reserviert gegenüberstehen. Das Leben Wilsons wird bis zu seinem Tod weiter verfolgt, um anschließend auf nur zwei Seiten die weitere geschichtliche Entwicklung zu umreißen und mit einem Schrei die drohende Katastrophe des Zweiten Weltkriegs anzukündigen.

Auch im dritten Band werden die Geschichten Friedrich Beckers und Erwin Stauffers fortgeführt: Beckers Träume drängen sich mehr und mehr in seine Tageswahrnehmung herein. Er leidet unter Visionen von Personen, mit denen er spirituelle Streitgespräche führt – darunter wahrscheinlich auch mit dem Teufel persönlich, der in verschiedenen Gestalten erscheint. Ausgelöst ist diese Erkrankung nicht nur durch die Erlebnisse des Krieges und die erlittene Verletzung, sondern auch durch ein tiefes persönliches Schuldgefühl, dass er sich bei Ausbruch des Krieges nicht gegen den Krieg gestellt habe. Über diesen Visionen und ihrem Einfluss auf Becker zerbricht nicht nur die junge Beziehung zu Hilde, sondern auch die Freundschaft mit Johannes Maus, der sich ganz der revolutionären Idee verschrieben hat, geht darüber zu Bruch. Becker flieht schließlich in den christlichen Glauben, dem er bislang immer skeptisch gegenübergestanden hatte, und findet auf diesem Weg wenigstens ein wenig inneren Frieden.

Erwin Stauffer dagegen findet seine alte Geliebte Lucie wieder und in ihr das späte Glück seines Lebens. Lucie ist inzwischen seit langem verheiratet, will sich aber für Stauffer scheiden lassen und zu diesem Zweck mit ihm zusammen nach Amerika reisen. Unterwegs kommt es auch zur einer dramatischen Versöhnung mit Tochter und Ex-Frau, als Stauffer beinahe Opfer eines Unfalls mit einen Gasofen wird. Die hier ausgespielte bürgerliche Komödie überzeugt zwar in ihrer Ironie und als privater Gegensatz zum politischen Geschehen auf der nationalen und Weltbühne, ist aber inhaltlich sicherlich der schwächste Teil der Erzählung.

Bemerkenswert scheint mir, dass sowohl Becker als auch Stauffer als Variationen des Faust gestaltet zu sein scheinen: Becker ist der tragische Gelehrte, der mit dem Teufel um seine Seele ringt, Stauffer ist der weltliche Lebemann, der »Helenen in jedem Weibe« sieht und »durch das wilde Leben« geschleift wird. Die zahlreichen Faust-Zitate der Romane weisen auf diesen Hintergrund der beiden Spiegelfiguren Becker und Stauffer hin.

Alles in allem muss Döblin das Kompliment gemacht werden, dass es ihm gelungen ist, ein umfassendes und solides Bild der Ereignisse vom Ende des Ersten Weltkrieges und der nachfolgenden Wochen zu zeichnen. Einzig die Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Industrie fehlen in seiner Darstellung. Nach Umfang und zeitgeschichtlicher Genauigkeit steht der Romanzyklus zumindest gleichranging neben Werken wie Johnsons Jahrestage oder Strittmatters Der Laden. Hier gibt es einen echten Klassiker des 20. Jahrhunderts wiederzuentdecken.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Heimkehr der Fronttruppen. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 573 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …

Alfred Döblin: November 1918 (2)

978-3-10-015555-9 Der zweite Band Verratenes Volk schließt zeitlich unmittelbar an den ersten an und umfasst die Tage vom 22. November bis zum 7. Dezember 1918. Schwerpunkt des Schauplatzes ist Berlin, ohne dass die Ereignisse in Straßburg komplett ausgeblendet würden. Einzelne Episoden spielen auch in Hamburg, München, Kassel oder Paris. Das Personal wird noch einmal erweitert: Sowohl das Berliner Proletariat als auch eine alte Kasseler Adelige kommen ausführlich zu Wort.

Auf der privaten Ebene verfolgt der Roman die beiden ehemaligen Offiziere Friedrich Becker und Johannes Maus weiter, die beide auf getrennten Wegen inzwischen in Berlin angekommen sind. Während Maus sich von den revolutionären Ereignissen mitreißen lässt, gerät Becker zunehmend in eine Isolation, aus der ihn weder Maus noch sein ehemaliger Kollege – Becker ist Altphilologe und war vor dem Krieg Gymnasiallehrer – Krug noch die ihm von Straßburg aus nachgereiste Krankenschwester Hilde befreien können. Parallel zu der mehr und mehr Platz einehmenden Geschichte Beckers wird die des Dramatikers Erwin Stauffer erzählt: Stauffer, den die revolutionären Entwicklungen weitgehend gleichgültig lassen, findet anlässlich eines Umzugs einen Stapel ungeöffneter Briefe, die seine Ex-Frau ihm unterschlagen hatte. Es handelt sich um Briefe einer Schauspielerin, mit der Stauffer vor über 20 Jahren eine kurze Affäre hatte. Wutentbrannt über die Unterschlagung reist Stauffer nach Hamburg, um seine Frau, mit der er seit 19 Jahren keinen Kontakt mehr hatte, zur Rede zu stellen. Diese fertigt ihn allerdings kurz und knapp ab. Doch hat die Reise wenigstens den Effekt, dass Stauffer seine nun erwachsene Tochter kennenlernt. Er reist nach Berlin zurück und macht sich von dort aus auf die Suche nach seiner ehemaligen Geliebten.

Weniger umfangreiche Episoden schildern den Alltag Berliner Arbeiter, heimgekehrter Soldaten, kleinerer und größerer Schieber usw. Auch einige der Straßburger Figuren werden, wie schon angedeutet, weiter verfolgt.

Auf der historischen Ebene schildert Döblin drei der um die Macht in der jungen Republik ringenden Parteien: Den Volksbeauftragten Ebert und sein Kabinett aus Mitgliedern der SPD und USPD, die versuchen, einen Putsch zu verhindern und die Wahl zur Nationalversammlung auf den Weg zu bringen, das Hauptquartier des Heeres in Kassel, das sich – wohl in der Hauptsache aufgrund des Widerstandes Hindenburgs – nicht zu einem Militärputsch entschließen kann und deshalb in Teilen mangels einer Alternative eine illusionistische monarchistische Linie vertritt, und die Spartakisten um Karl Liebknecht – Rosa Luxemburg spielt in diesem Band eine Nebenrolle –, der vor einer Radikalisierung der Revolution zurückscheut, da er den sich daraus zwangsläufig entwickelnden Bürgerkrieg fürchtet. Ihm zur Seite steht der russische Berater Radek, der auf eine Verschärfung der revolutionären Umtriebe drängt und in Deutschland ein Rätesystem etabliert sehen möchte.

Höhe- und Endpunkt des zweiten Bandes bilden die bewaffneten Zusammenstöße in Berlin am 6. November, unmittelbar vor dem Einzug der rückkehrenden Fronttruppen nach Berlin. Deutschland scheint am Rande des Bürgerkriegs zu stehen; sowohl die militärische Führung als auch die Arbeiterschaft erwartet, dass die jeweils andere Seite zum bewaffneten Kampf um die Staatsmacht übergehen wird.

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Verratenes Volk. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 489 Seiten. 18,90 €.

Wird fortgesetzt …

Alfred Döblin: November 1918 (1)

Döblin großes, drei- bzw. vierbändiges Romanwerk über das Ende des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der deutschen Revolution des Jahres 1918. Geschrieben wurden die Romane zwischen 1937 und 1943 im französischen und amerikanischen Exil, wobei vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur der erste Band 1939 noch erscheinen konnte. Geplant war ursprünglich eine Trilogie, doch hatte sich der zweite Band während der Niederschrift zu einem solchen Umfang entwickelt, dass er geteilt werden musste. Döblin entschloss sich daher bereits 1943 für eine Aufteilung auf vier Bände.

Nachdem er als Offizier der französischen Militärverwaltung nach Deutschland zurückkehrt war, versuchte Döblin den Romanzyklus geschlossen erscheinen zu lassen. Er legte daher den ersten Band den französischen und amerikanischen Zensurinstanzen vor, um einen Wiederabdruck genehmigt zu bekommen. Die Franzosen lehnten dies ab, da ihnen die Elsass-Lothringen-Thematik des Buches politisch zu heikel schien; die Amerikaner begründeten ihre Ablehnung mit dem herrschenden  Papiermangel. So sah sich Döblin gezwungen, nur die drei bislang nicht veröffentlichten Bände als Trilogie unter dem Sammeltitel November 1918 erscheinen zu lassen. Um das Fehlen des ersten Bandes zu kompensieren, dessen Kenntnis beim deutschen Nachkriegsleser kaum vorausgesetzt werden konnte, stellte er aus ihm ein gut 40-seitiges »Vorspiel« zusammen, das dem ersten Band der neuen Trilogie, sprich dem zweiten Band des Gesamtwerks vorangestellt wurde.

Walter Muschg, der Herausgeber der  Ausgewählten Werke (1960–1972) verzichtete auf die Aufnahme des Zyklus, den er für misslungen hielt. So blieben die Erstausgaben (1939, 1948–1950) die einzigen Drucke bis im Jahre 1978 bei dtv erstmals eine geschlossene Ausgabe aller vier Bände erschien, die bis heute lieferbar ist. Der Verlag bemühte sich dabei um eine Vereinheitlichung, Angleichung und behutsame orthographische Glättung der Erstausgaben; außerdem wurde das »Vorspiel« aus dem Jahr 1948 wieder herausgenommen, da der erste Band den Lesern ja nun direkt zugänglich war. Im letzten Jahr legte S. Fischer alle vier Romane in einer gebundenen, einheitlich gestalteten Ausgabe wieder vor. Diese Ausgabe stellt den Zyklus als eine Trilogie vor, indem sie die Bände 2 und 3 als 2-I und 2-II untertitelt und dementsprechend den letzten Band als Band 3. Da dieser Rezension die Neuausgabe zugrunde liegt, folge ich dieser Konvention, ohne mich zugleich der Auffassung anzuschließen, es handele sich bei dem Zyklus um eine Trilogie. Die Frage, ob Tri- oder Tetralogie, kann offensichtlich nur daran entscheiden werden, ob sich zwischen dem 2. und dem 3. Band ein dichterer Zusammenhalt findet als zwischen dem 1. und 2., respektive 3. und 4. Band. Ob dies der Fall ist, wird später noch thematisiert werden.

Als Kuriosum ist anzumerken, dass man sich bei S. Fischer entschlossen hat, allen vier Bänden der Neuausgabe denselben Anhang mitzugeben, und zwar einen Ausschnitt aus der kommenden 3. Auflage des Kindlerschen Literaturlexikons. Warum man meint, es sei für Leser interessant, vier Mal denselben Anhang zu erwerben, wissen wahrscheinlich nur die Auguren des Vertriebs.

978-3-10-015554-2 Teil 1: Bürger und Soldaten 1918.

Der erste Teil handelt im Elsass und später auch in Berlin, also an den beiden Orten, an denen Döblin selbst die Tage der Revolution erlebt hat. Im Elsass stehen im Zentrum ein Militärlazarett in der Nähe von Straßburg, eine Militärtruppe, die dort stationiert ist und die Tage der Revolution in Straßburg selbst vor der Ankunft der französischen Truppen. Der Roman umfasst – von Rückblenden einmal abgesehen – die Zeit vom 10. November bis zum 24. November, als die letzten deutschen Truppen das Elsass verlassen und die Franzosen in Straßburg einziehen.

Vermittelt wird zwischen beiden Orten durch einen Lazarettzug, der Verwundete aus dem Elsass nach Osten transportiert und in dem sich auch zwei befreundete Soldaten befinden: Oberleutnant Friedrich Becker – hier durchaus noch nicht als die Hauptfigur zu erkennen, die er für den Zyklus werden wird – und Leutnant Johannes Maus, die beide schließlich nach Berlin kommen werden. Beide sind nur Teil eines umfangreichen und sozial breit angelegten Figurenensembles, das Döblin über die erzählten 14 Tage hinweg verfolgt. Erzählt werden in unregelmäßigem Wechsel die Schicksale der einzelnen Figuren und sowohl aus französischer als auch aus deutscher Sicht historische Ereignisse der letzten Kriegs- und der ersten Revolutionstage. Viele der Figuren bekommen keinen eigenen Namen, sondern sind nur über ihren militärischen Rang (der Major) oder ihre gesellschaftliche oder berufliche Stellung gekennzeichnet (der Pfarrer).

Während dabei zu Beginn des Romans der private Bereich überwiegt, gewinnt die historische Ebene Seite um Seite mehr an Gewicht; das schließlich im ersten Band erreichte Gleichgewicht wird auch in den weiteren Teilen des Zyklus vorherrschen. Der erste Band versucht nicht einmal halbherzig, irgendeine Form von Abschluss zu erzeugen, sondern ist klar auf eine Fortsetzung hin konzipiert. Zwar werden einzelne Erzählstränge offensichtlich zum Ende geführt (so etwa das Schicksal des Oberstabsarztes), bei anderen lässt sich aber durchaus nicht zu erkennen, ob sie vereinzelte Episode bleiben oder im Nachfolgeband weitergeführt werden sollen (zum Beispiel der Strang um die beiden Kleinkriminellen Motz und Brose-Zenk).

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. Bürger und Soldaten 1918. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2008. Leinen, Lesebändchen, 415 Seiten. 17,90 €.

Wird fortgesetzt …

Kleine Umfrage

Liebe Leserinnen und Leser,

da ich mich gerade mit Alfred Döblins umfangreichem Romanzyklus November 1918 beschäftige, bin ich neugierig, wie bekannt er unter engagierten Leserinnen und Lesern ist. Wenn Sie mögen, nehmen Sie bitte an der gänzlich anonymen Umfrage unten teil.

Vielen Dank im Voraus!

Kommentare zur Umfrage sind durchaus erwünscht.

P.S.: Die Abstimmung lief vom 16. Juni bis zum 16. Juli. Ich danke allen Leserinnen und Lesern, die an ihr teilgenommen haben.

Friedrich Dürrenmatt: Das Sterben der Pythia

978-3-257-23064-2 Dürrenmatts Auseinandersetzung mit dem Ödipus-Stoff. Der Text entstand zwischen 1974 und 1976 innerhalb des sogenannten Mitmacher-Komplexes, der aus dem Stück Der Mitmacher, einem umfangreichen Nachwort zum Stück und einem Nachwort und einem Nachwort zum Nachwort besteht. Die selbstgestellte Aufgabe der Erzählung besteht darin, den Ödipus aus dem Schicksalhaften ins Zufällige zu übersetzen. Ödipus wird daher nicht Opfer des Ratschlusses der Götter, sondern der delphischen Orakelpriesterin, der Pythia, die, um Ödipus von seinem Aberglauben an die Orakelsprüche zu heilen, ihm eine gänzlich unwahrscheinliche Zukunft voraussagt.

Natürlich erweist sich der Orakelspruch als ein Volltreffer, wenn auch nicht in dem Sinne, wie uns der Ödipus-Mythos durch die Sophokleische Tragödie bekannt ist. Dürrenmatt behandelt im Gegenteil diese klassische Deutung des Mythos als oberflächlichste Variante, der er eine psychologische, eine politische und eine individualistische zur Seite stellt. Das ganze ist sehr überzeugend gemacht und darf wohl als eine der originellsten und intelligentesten Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts mit dem Ödipus-Stoff gelten.

Friedrich Dürrenmatt: Das Sterben der Pythia. In: Der Sturz, Abu Chanifa und Anan ben David, Smithy, Das Sterben der Pythia. detebe 23064. Zürich: Diogenes, 1998. 162 Seiten. 7,90 €.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel

978-3-257-06174-1 Ein mit 36 Briefen dünner Briefwechsel dieser beiden prominentesten Schweizer Autoren des vergangenen Jahrhunderts, den ich aus didaktischem Anlass wieder einmal aus dem Schrank geholt habe. Natürlich erklärt sich der geringe Umfang hauptsächlich daraus, dass Frisch und Dürrenmatt sehr vieles mündlich verhandelt haben bzw. sich später nur noch wenig zu sagen hatten. Man merkt beiden am Ende die gute Absicht an, mit der der jeweils andere nichts mehr anzufangen weiß. Dennoch waren sie wohl bis zum Schluss mit dem Gegenüber innerlich mehr beschäftigt, als es die äußerlich bleibenden Briefe ahnen lassen.

Daher ist das beinahe Wichtigste an dem Buch der umfangreiche Essay Fast eine Freundschaft des Herausgebers Peter Rüedi, der die Bekanntschaft der beiden Autoren sorgfältig aufarbeitet und darstellt. Rüedi hat zudem die einzelnen Briefe sorgfältig kommentiert, so dass das Bändchen eine Fülle von biografischen Materialien zu beiden Autoren liefert. Die Texte sind ergänzt um einige Brief-Faksimiles und Bilder sowie eine parallele Chronik zu beiden Autoren. Ein Personen- und Werkregister erschließt das Buch.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel. Hg. v. Peter Rüedi. Zürich: Diogenes, 1998. Leinen, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,90 €.

Richard Dawkins: Der Gotteswahn

dawkins_gotteswahnWieder einmal mehr ein Beleg dafür, dass es einem Autor gar nichts nützt, Recht zu haben. Dawkins, seit vielen Jahren einer der lautstarken Vertreter der Evolution als naturwissenschaftlicher Übertheorie – im Grunde lässt sich alles durch die Evolution erklären und sollte sich tatsächlich etwas nicht durch die Evolution erklären lassen, so lässt sich wenigstens diese Unmöglichkeit aus der Evolution erklären –, hat hier zu einer breiten Polemik gegen »die Religion« angesetzt, behandelt aber hauptsächlich die Auswüchse des Christentums und des Islams. Das ist besonders im zweiten Teil ganz witzig, wenn Dawkins seitenweise christlich-fundamentalistischen Unfug zitiert. Natürlich ist das alles pro domo geschrieben, wenn auch immer wieder behauptet wird, es gehe um »die Wahrheit«. Es geht im Gegenteil um Forschungsgelder und Projektmittel, die durch kreationistischen Blödsinn gefährdet sind, wenn christliche Fundamentalisten sich mit Politikern in wichtigen Schaltstellen verbünden.

Die Schwäche von Dawkins’ Standpunkt zeigt sich an einer Frage, die er selbst so formuliert:

Damit will ich nicht sagen, dass wir die Ansichten dieser Leute [der Religionsvertreter] um jeden Preis zensieren sollten, aber warum rollt die Gesellschaft ihnen den roten Teppich aus, als hätten sie eine ähnliche Fachkenntnis wie beispielsweise ein Moralphilosoph, ein Familienanwalt oder ein Arzt? [S. 36]

Ja, warum tut die Gesellschaft das? Diese Frage bleibt im Buch letztlich unbeantwortet, was Dawkins aber nicht groß zu stören scheint. Unverkennbar haben Religionen eine unverzichtbare Funktion in ihren Gesellschaften, da sie die Angriffe der Aufklärung in den letzten 300 Jahre ansonsten kaum so gut überstanden hätten, wie sie es getan haben. Sicherlich haben sie in der weitgehend säkularen Realität der westlichen Welt nicht mehr die Macht und den Einfluss, der sie einst ausgezeichnet hat, aber sie sind offenbar immer noch recht aktive Teilnehmer an den Diskursen um Moral, Menschen- und Weltbild. Zum Verständnis dieses Phänomens ist es wenig hilfreich, den entsprechenden Standpunkt gebetsmühlenartig immer erneut als »irrational« zu bezeichnen. Damit rennt man nur offene Türen ein: Selbstverständlich ist der Glaube an Gott als Schöpfer der Welt und an seine Vertreter auf Erden als moralische Instanzen irrational, aber was schadet das? Angesichts der Tatsache, dass es der Rationalität weder gelungen ist, eine rationale Letztbegründung der Moral zu leisten, noch sie in der Lage ist, dem Laien die Frage nach der Herkunft des Universums verständlich zu beantworten, ist es nur wenig verwunderlich, dass irrationale Konzepte der Religionen weiterhin weltweit erfolgreich sind.

Selbstverständlich ist Dawkins darin zuzustimmen, dass es am Ende nur den Wissenschaften gelingen wird, ein Weltbild zu erzeugen, das wenigstens in irgendeiner Weise eine Annäherung an die Wirklichkeit darstellt. Aber wozu soll das gut sein, wenn dieses Weltbild mehr als 99 Prozent aller Menschen – und darunter eben auch politische Entscheidungsträger – von einem Verständnis eben dieses Weltbildes ausschließt? Für den »normalen Menschen« heißt es schon heute, sich zu entscheiden zwischen zwei Glaubensrichtungen: Der der Religionen oder der der Naturwissenschaft – die eine ist ihm so rational oder irrational wie die andere. Und die Naturwissenschaften werden noch unverständlicher werden, sich immer noch weiter von einem alltäglichen Verstehen der Welt entfernen. Was geht uns der Urknall an? Was soll daran vorteilhaft sein, dass die Urknall-Theorie angeblich besser mit irgendwelchen »Tatsachen« und »Belegen« übereinstimmt als die Schöpfungsgeschichte? Sicherlich: Für diejenigen, die der Bruder- oder meinetwegen Schwesternschaft der Wissenschaft einmal beigetreten sind, liegt alles glasklar auf der Hand. Aber was ist mit denen, die außen vor stehen und immer außen vor stehen werden? Für sie ist es wenig hilfreich, wenn sie von Herrn Dawkins über vielen Seiten hinweg als Idioten beschimpft werden.

Insgesamt scheitert das Buch an seinem Thema, da es Dawkins nicht gelingt, ein ausreichendes Verständnis für die Funktion der Religion in der Gesellschaft zu entwickeln. Seine Polemik bleibt selbstverliebt und oberflächlich. Dawkins entwickelt keinen Sinn dafür, dass die Wissenschaften den meisten Menschen kryptischer und irrationaler erscheinen als die Religionen und dass eine andere große Gruppe heute an die Wissenschaft genau so glaubt, wie sie früher an eine Religion geglaubt hätte. Dawkins entwickelt keinen Sinn für die Grenzen und Mängel des wissenschaftlichen Weltbildes und für dessen nur mangelhafte Leistungen, wenn es darum geht, dem Leben des Einzelnen einen Sinn zu vermitteln. Natürlich gelingt das auch einer Religion nicht »wirklich«, aber es scheint vielen Menschen doch besser zu sein als nichts.

Dass aber auch das Denken so gar nichts helfen will!

Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Berlin: Ullstein, 2007. Pappband, 575 Seiten. 22,90 €.

Karen Duve: Taxi

duve_taxi Nach ihrem Regenroman erst mein zweites Buch von Karen Duve und wieder ist der vorherrschende Eindruck: Diese Frau kann einfach erzählen. Auch dieses Mal haut mich der Inhalt nicht besonders vom Hocker, aber ich muss eingestehen, dass ich die über 300 Seiten gern und zügig gelesen habe. Duve verarbeitet offensichtlich ihre eigenen Erfahrungen als Taxifahrerin, aber das Buch bleibt weder im Autobiografischen noch im Anekdotischen stecken. Besonders letzteres ist eine erzählerische Klippe, an der zu scheitern der Stoff anbietet. Duve hat das so gelöst, dass sie den Stoff auf zwei Ebenen verteilt: Die eine bleibt klar anekdotisch, während auf der anderen eine Art statischer Entwicklungsroman erzählt wird.

Ich-Erzählerin ist Alex Herwig, die nach einer abgebrochenen Ausbildung zur Versicherungskauffrau nichts mit sich anzufangen weiß und deshalb beginnt, Taxi zu fahren. Es braucht einige Zeit, bis sie feststellt, dass dies ihr Grundproblem nicht beseitigt, sondern nur verschiebt. Sie lässt sich aus lauter Trägheit auf eine Beziehung mit ihrem Kollegen Dietrich ein – einem Taxi fahrenden Künstler – und pflegt darüber hinaus noch einige andere Herrenbekanntschaften, da sie sich eigentlich nicht binden will. Die Handlung umfasst mehr als fünf Jahre, wobei nur die erste und die letzte Phase dieses Zeitraums erzählt werden. Die Protagonistin, die schon zu Anfang kein sehr positives Menschenbild pflegt, entwickelt mit den Jahren eine ernsthafte Depression begleitet von solider Misanthropie. Das alles bleibt erträglich, weil der Text einerseits nirgends ins Wehleidige gerät, anderseits die innere Unbeweglichkeit der Heldin immer von ihrem anekdotisch-bewegten Leben als Taxifahrerin gekontert wird. Erzählerisch ist das gut gemacht, und selbst seine Poetik liefert das Buch en passant mit:

»Die Unterhaltungsfunktion von Büchern ist ja auch längst überholt«, sagte Rüdiger. »Wer sich unterhalten lassen will, k-kann das viel besser tun, indem er den Fernseher anstellt. Die Funktion von Büchern kann heute nur noch in der geistigen Erfrischung bestehen. […]«

Einzelne sprachliche Schwächen – so wird etwa »gegenüber« im Deutschen immer noch mit Dativ konstruiert – muss man heutigen Autoren wohl insgesamt nachsehen. Auch die etwas merkwürdige Typographie des Bandes – die Sätze aus dem Taxifunk werden in einer im Vergleich zu Grundschrift deutlich kleineren, zudem serifenlosen Schrift, die auch noch halbfett gesetzt ist, wiedergegeben – lässt sich tolerieren.

Intelligente, gut erzählte und humorvolle Unterhaltung.

Karen Duve: Taxi. Frankfurt/M.: Eichborn, 2008. Pappband, 313 Seiten. 19,95 €.

Charles Dickens: Harte Zeiten

dickens_harte_zeiten Harte Zeiten ist 1854 im Anschluss an Bleakhaus entstanden. Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte des Geschwisterpaares Louisa und Tom Gradgrind, die von ihrem Vater nach einem streng rationalen Programm erzogen werden: Fantasie, Märchen, überhaupt Gefühle aller Art sind verpönt, stattdessen werden die Wissenschaften, insbesondere aber Mathematik – genauer: die Statistik – und Logik hoch gehalten. Die Kinder geraten dementsprechend: Louisa heiratet den Bankier und Webereidirektor Josiah Bounderby, der ihr gänzlich gleichgültig ist, weil sie hofft, damit ihrem Bruder Tom das Leben erleichtern zu können, der in Bounderbys Bank als Angestellter beschäftigt ist. Tom verfällt aber, sobald er dem väterlichen Regime entflohen ist, nahezu sofort der Spielleidenschaft und häuft rasch drückende Schulden an.

In dieser Situation kommt der weltgewandte, aber tief gelangweilte Dandy James Harthouse nach Coketown, einer kleinen, fiktiven Industriestadt, in der der Roman spielt, um sich um einen Parlamentssitz in der Gegend zu bewerben. Er wird als Parteifreund auch im Hause Bounderbys empfangen und entschließt sich gleich bei ihrer ersten Begegnung, Louisa zu verführen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, kümmert er sich um den haltlosen Tom, der gerade zu dieser Zeit einen Einbruch in die Bank vortäuscht, um seine eigene Veruntreuung zu vertuschen. Harthouse nimmt sich Toms als vorgeblicher Freund an, um sich das Vertrauen Louisas zu erwerben, die sich schließlich vor seinen Verführungskünsten, denen sie ebenso wenig entgegenzusetzen hat wie ihren eigenen Gefühlen für diesen Mann, verzweifelt ins elterliche Heim flüchtet. Am Ende scheitern beide Geschwister: Tom muss ins Ausland fliehen, wo er im Elend stirbt, und Louisa wird von ihrem scheinheiligen und angeberischen Ehemann verstoßen und geschieden.

Als Nebenstrang dient die Geschichte Stephen Blackpools, eines Coketowner Arbeiters, der vom Schicksal arg gebeutelt wird: Seine Frau ist Alkoholikerin, die Frau, die er liebt, Rachael, ist genau wie er selbst zu moralisch, um eine außereheliche Beziehung zu beginnen, er ist ein Außenseiter unter den Arbeitern, da er nicht bereit ist, sich ihrem Arbeitskampf anzuschließen und schließlich wird er von seinem Chef Bounderby auch noch entlassen, weil der Blackpools Einstellung nicht versteht. So verlässt Blackpool die Stadt, nicht ohne dass Tom zuvor durch einen kleinen Trick den Verdacht auf ihn lenkt, für den Bankraub verantwortlich zu sein. In dieser Nebenhandlung kommen nicht nur die nicht nur für Dickens typischen aufrechten, hoch moralischen und bitter armen Idealtypen vor, sondern sie wird von ihm auch dazu benutzt, ein erschreckendes Bild von der Industriearbeit seiner Zeit zu zeichnen. Ergänzt wird dieses Bild durch die Figur Slackbridge, der als gewerkschaftlicher Redner und Arbeiterführer an zwei Stellen zu Wort kommt. Dickens ist für die Figur Slackbridges zu Recht scharf kritisiert worden, da er mit seinen letztlich naiven Gutmenschen Blackpool und Rachael die soziale und gesellschaftliche Problematik seiner Zeit eindeutig unterläuft.

Besonders der erste Teil des Romans lebt von Dickens scharfer und witziger Satire gegen den Glauben an eine reine Rationalität, wie sie im Utilitarismus Jeremy Benthams oder John Stuart Mills zum Ausdruck kommt. Sicherlich spitzt Dickens Musterfamilie Gradgrind die Thesen der Utilitaristen polemisch zu, aber der Kritik, die aus den von Dickens aufgezeigten Konsequenzen einer seelen- und mitleidslosen Rationalität folgt, kann sich der Utilitarismus nur schlecht entziehen. Es ist schlicht falsch, zwischenmenschliche Beziehungen auf ein statistisches Rechenexempel reduzieren zu wollen, und wer dergleichen versucht, missversteht wesentlich, worum es im menschlichen Miteinander geht.

Insgesamt sicherlich nicht der gelungenste Roman von Dickens, aber gerade aufgrund seines polemischen Gehalts unterhaltsam und lesenswert. Die Übersetzung von Christiane Hoeppener ist recht korrekt – wenn es auch einzelne Unsicherheiten bei den verwendeten Anreden gibt –, macht aber insgesamt einen eher steifen Eindruck.

Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Christiane Hoeppener. Rowohlt Jahrhundert, Bd. 10. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1987. 382 Seiten. – Diese Übersetzung ist derzeit nur antiquarisch lieferbar.

Lieferbare Alternativ-Ausgabe: Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Paul Heichen. Insel Taschenbuch 955. Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1986 ff. 433 Seiten mit Illustrationen v. F. Walker u. Maurice Greiffenhagen. 11,50 €.