Charles Dickens: Bleakhaus

Dieser in Deutschland eher unbekannte Roman von Dickens gehört in der angelsächsischen Welt zu seinen bekantesten und gelobtesten. Er ist ab 1852 entstanden und gilt als Auftakt des Spätwerks. Die figurenreiche Handlung erzählt im Kern die Geschichte Esther Summersons, einer Waise, die als junge Frau in den Haushalt ihres Vormunds John Jarndyce aufgenommen wird. John Jarndyce hat ebenfalls die Vormundschaft über Ada Clare und Richard Carstone, die, ebenso wie ihr Vormund, in einen langwierigen Erbschaftsprozess verstrickt sind, der in gewisser Weise das Rückgrat der Erzählung bildet. Denn während der Roman die Geschichte Esthers entfaltet, begleitet er zugleich den moralischen und gesellschaftlichen Fall Richards, dem der schier endlose Prozess »Jarndyce kontra Jarndyce« langsam aber sicher zur fixen Idee und einzigen Lebensperspektive wird. Dickens nutzt diesen Erzählstrang zu einer sorgfältigen Satire des englischen Rechtswesens, in dem er selbst für einige Jahre als Rechtsanwalts-Gehilfe tätig gewesen war.

Der Gang der Handlung ist bei weitem zu komplex und vielfältig, um auch nur zu versuchen, hier eine Inhaltsangabe zu liefern. Neben den eindimensionalen und moralisch blitzsauberen Hauptfiguren tummeln sich zahlreiche skurrile und höchst reizvolle Nebenfiguren, so etwa der intrigante und kaltherzige Anwalt Tulkinghorn oder der hochnäsige und elitäre Sir Leicester Dedlock oder der joviale und zugleich unbestechliche Inspektor Bucket, um nur einige wenige als Beispiele zu nennen. Die Fülle der verwendeten Figuren bedingt eine hohe Komplexität der Handlung, die in zahlreichen Handlungssträngen zugleich vorangetrieben wird. Dabei erweist sich keiner der Stränge als rein dekorativ, sondern alle erfüllen eine genau bestimmte erzählerische Funktion. Ich erlaube mir, ein längeres Zitat Arno Schmidts herzusetzen, das den Gesamteindruck des Buches sehr gut wiedergibt:

Es ist, allein was das ‹Gerüst› der Fabel, die Konstruktion im Großen wie im Kleinsten, anbelangt, von mathematischer Perfektion. Der bloße ‹Leser› merkt das, bewußt, zunächst überhaupt nicht; wogegen der Fachmann auf jeder der 1000 Seiten ein paarmal neidisch die Zähne aufeinandersetzen, und bewundernd die Luft einziehen muß. Es gibt in der ganzen Weltliteratur nur noch 3 oder 4 weitere, ähnlich umfangreiche Stücke, die derart ‹berechnet› wären, derart ‹aufgebaut›. / Vom ersten Satz an, wo Nebel und Dämmerung und die übliche unmenschliche Staats=Justiz=Maschinerie mit einander identifiziert werden, steht kein Wort, keine Episode mehr umsonst: nie sind Zufall – oder, wenn Sie so wollen, Notwendigkeit! – als so eisernes Netz über Menschen und Dinge gespannt worden. Scheinbar zufällige Nebensätzlichkeiten, Ausrufe, Einsilbiges aller Art: wirken sich im Lauf der Handlung aus. Scheinbar belanglose – nicht ‹Taten›, sondern Handgriffe! – führen maschinenhaft, 500 Seiten später, Verbrechen & Tod herbei, Glück oder Unglück Unbekannter, Nie=Gesehener, Nie=Bedachter.

Diese Durchkonstruiertheit des Buches, die sicherlich ein artistisches Glanzstück darstellt, ist zugleich sein wesentliches Manko, da es sich besonders gegen Ende hin in Auflösung und Zusammenführung der zahlreichen Stränge abarbeitet, dabei sogar kurz vor Ultimo noch einen Mordfall in die Handlung einbaut, um sie wenigstens noch ein bisschen spannend zu halten, so dass der geübte Leser dem Schmidtschen Wort »maschinenhaft« oft nur seufzend beipflichten kann. Natürlich stellt das Buch eine beeindruckende schriftstellerische Leistung dar, aber zu vieles bleibt letztlich leerlaufendes Räderwerk einer hybriden erzählerischen Konstruktion. Die Geschichte Esther Summersons bleibt flach – nicht umsonst ist das Buch inzwischen mehrfach mit großem Aufwand als Soap opera verfilmt worden – und vorhersehbar (wenn der Leser nicht immer wieder vergäße, um was es eigentlich geht), und der satirische Gehalt des Buches, der den Zeitgenossen Dickens wohl weit mehr Freude bereitet hat als uns, blitzt nur hier und da in der schieren Masse des Textes auf. Beeindruckend bleiben – wie so oft bei Dickens – einige Nebenfiguren und die Beschreibung des Elends und der Not in den Londoner Slums des 19. Jahrhunderts.

Charles Dickens: Bleakhaus. Aus dem Englischen von Gustav Meyrink. detebe 21166. Zürich: Diogenes Verlag, 1984 ff. 843 Seiten mit zahlreichen Druckfehlern. 14,90 €.

Drohnen-Philosophie

Mr. Skimpole was as agreeable at breakfast, as he had been over-night. There was honey on the table, and it led him into a discourse about Bees. He had no objection to honey, he said (and I should think he had not, for he seemed to like it), but he protested against the overweening assumptions of Bees. He didn’t at all see why the busy Bee should be proposed as a model to him; he supposed the Bee liked to make honey, or he wouldn’t do it–nobody asked him. It was not necessary for the Bee to make such a merit of his tastes. If every confectioner went buzzing about the world, banging against everything that came in his way, and egotistically calling upon everybody to take notice that he was going to his work and must not be interrupted, the world would be quite an unsupportable place. Then, after all, it was a ridiculous position, to be smoked out of your fortune with brimstone, as soon as you had made it. You would have a very mean opinion of a Manchester man, if he spun cotton for no other purpose. He must say he thought a Drone the embodiment of a pleasanter and wiser idea. The Drone said, unaffectedly, »You will excuse me; I really cannot attend to the shop! I find myself in a world in which there is so much to see, and so short a time to see it in, that I must take the liberty of looking about me, and begging to be provided for by somebody who doesn’t want to look about him.« This appeared to Mr. Skimpole to be the Drone philosophy, and he thought it a very good philosophy–always supposing the Drone to be willing to be on good terms with the Bee: which, so far as he knew, the easy fellow always was, if the consequential creature would only let him, and not be so conceited about his honey!

Charles Dickens
Bleak House

Miniaturen (6)

Die Gutsherrschaft war indessen in die Kammer getreten, wo der Braut von den Nachbarfrauen das Zeichen ihres neuen Standes, die weiße Stirnbinde, umgelegt wurde. Das junge Blut weinte sehr, teils weil es die Sitte so wollte, teils aus wahrer Beklemmung. Sie sollte einem verworrenen Haushalt vorstehen, unter den Augen eines mürrischen alten Mannes, den sie noch obendrein lieben sollte. Er stand neben ihr, durchaus nicht wie der Bräutigam des Hohen Liedes, der »in die Kammer tritt wie die Morgensonne.« – »Du hast nun genug geweint,« sagte er verdrießlich; »bedenk, du bist es nicht, die mich glücklich macht, ich mache dich glücklich!« – Sie sah demütig zu ihm auf und schien zu fühlen, daß er recht habe.

Annette von Droste-Hülshoff
Die Judenbuche

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker

duerrenmatt-richterEine Schullektüre ist ein Buch, das jede und jeder meint zu kennen, weil es in der Schule gelesen werden musste. Die allermeisten hassen diese Bücher, weil sie die Schule oder auch nur den Deutsch-Unterricht gehasst haben, und schauen nie wieder in eines dieser Bücher hinein. Wahrscheinlich hat es kein einziges Buch verdient, zur Schullektüre zu verkommen, aber bei einigen bedauert man es mehr als bei anderen. Dürrenmatts Der Richter und sein Henker gehört bei mir zu diesen Büchern. Das ist um so erstaunlicher, als ich eigentlich kein Krimi-Leser bin. Der Krimi ist ein Genre, das ich zwar im Film goutiere, das mir aber im Roman in der Regel zu schematisch, langweilig und eindimensional ist – war, sollte ich besser sagen, denn ich lese schon lange keine Krimis mehr.

Die erneute Lektüre von Der Richter und sein Henker (es ist wohl insgesamt die vierte) hat einen didaktischen Anlass: Schullektüre eines Jüngeren. Ich hatte erwartet, einen erzählerisch etwas angestaubten Roman vorzufinden, und war überrascht, was für ein elegantes, schlankes und durchtrainiertes Büchlein sich mir diesmal gezeigt hat. Sicher ist das eine oder andere nicht ganz gelungen, so etwa die Erzählung der Vorgeschichten von Bärlach und Gastmann im Gespräch, wodurch Gastmann für einen Augenblick unnötig geschwätzig und banal erscheint. Oder auch das Gastmahl für Tschanz, das den Roman beschließt und das unnötig überfrachtet ist mit existenzialistischen und moralisierenden Motiven. Da geht der Dramatiker mit dem Prosaautor durch; aber derlei sind Kleinigkeiten.

Dem steht entgegen, wie einfach und schlicht etwa das politische Unterfutter der Bärlachschen Intrige in den Roman eingeführt wird oder wie hübsch sich die beiden Protagonisten Bärlach und Gastmann ineinander spiegeln und ihre Wette am Ende beide zugleich gewinnen und verlieren. Das alles ist gut ausgedacht und zeichnet ein Bild der Schweizer Gesellschaft Ende der 40er Jahre, wie man es lakonischer und zugleich böser in einem populären Roman wohl lange wird suchen müssen. Ein Buch, das an die Tradition großer Schweizer Erzähler anschließt!

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. detebe 22535. Zürich: Diogenes, 1985 ff. 180 Seiten. 5,90 €.

Andrew Delbanco: Melville

delbanco-melville Der Hanser Verlag ergänzt seine Werkauswahl Herman Melvilles durch die seit langem fehlende, umfangreiche deutschsprachige Biographie des Autors. Man hat sich dabei für eine aktuelle englische Veröffentlichung über Melville entschieden. Andrew Delbanco ist in den USA ein bekannter Publizist und Herausgeber US-amerikanischer Klassiker, im Hauptberuf Professor an der Columbia University. Soweit ich sehe, handelt es sich um die erste Übersetzung eines seiner Bücher ins Deutsche.

Natürlich hätte sich der Melville-Freund gewünscht, dass auch in Deutschland die monumentale, zweibändige Biographie Hershel Parkers die Grundlage für die Beschäftigung mit Melville bilden würde, aber man kann verstehen, dass sich kein Verlag an eine Übersetzung der beinahe 2.000 großformatigen Seiten Parkers heranwagt; dafür ist Melvilles Bedeutung in Deutschland doch zu gering, was sich auch in dem vergleichsweise hohen Preis von Delbancos Buch niederschlägt.

Delbancos Buch trägt im englischen Original den Untertitel »His World and Work«. Damit ist der thematische Rahmen des Buches weit besser abgesteckt als mit der eher unspezifischen Bezeichnung »Biographie«, die die deutsche Ausgabe trägt. Natürlich bildet die Biographie Melvilles das Rückgrat des Buches, aber zumindest gleichgewichtig liefert Delbanco ein breites Panorama der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit zu Lebzeiten Melvilles und eingehende Darstellungen von Melvilles Schriften. Dabei werden die Werke nahezu immer auf die politische und gesellschaftliche Lage rückbezogen, ohne dass dieser Rückbezug in jedem einzelnen Fall zu überzeugen vermag. Sicherlich ist es so, dass man die Pequod aus Melvilles Moby-Dick auch allegorisch als das Staatsschiff USA auffassen kann, nur führt solch ein allegorischer Ansatz nicht sehr weit und bleibt für den Detailreichtum des Textes unfruchtbar. Mir scheint es zudem unwahrscheinlich, dass Delbancos politischer oder wahlweise soziologischer Zugriff auch nur annähernd ein Spiegelbild der zeitgenössischen Rezeption Melvilles ergibt.

Delbanco markiert dieses Ungenügen sogar selbst, wenn es etwa zu Billy Budd einmal heißt, die »Bellipotent war demnach ebenso wie die Pequod ein schwimmendes Symbol für Melvilles Amerika«, und nur wenige Seiten später ergänzt wird: »Der Unterschied zwischen einer ›juristischen‹ und einer ›eigentlichen‹ Betrachtung der Ereignisse ist der Schlüssel zu Billy Budd«, ohne dass diese beiden Zugriffe auch nur versuchsweise miteinander vermittelt würden. Es mag sogar so sein, dass beide Zugriffe in Melvilles Werk genauso unvermittelt nebeneinander stehen, aber auch dies zu zeigen, verfehlt Delbanco.

Wenn einen der oft beliebig scheinende Wechsel zwischen den allzu weiten und dann wieder sehr engen Zugriffen Delbancos nicht stört, bekommt ein informatives und gut geschriebenes Buch, das über die gesellschaftliche Lage in den USA im 19. Jahrhundert beinahe besser informiert als über das Leben Melvilles. Alle wichtigen Werke Melvilles werden ausführlich dargestellt und im Wesentlichen zutreffend charakterisiert. Für die biographischen Details scheint Delbanco weitgehend auf Parker zurückgegriffen zu haben; hier dürfen Kenner keine Neuigkeiten erwarten. Die Übersetzung von Werner Schmitz ist gut, an einigen wenigen Stellen aber etwas oberflächlich geraten, so etwa wenn es heißt:

Danach schrieb er [Melville], weder zur See noch an Land kein Wort mehr in sein Tagebuch. [S. 325]

Hier müsste es natürlich »sowohl … als auch« statt »weder … noch« heißen. Oder wenn auf S. 130 der Schriftsteller Washington Irving zu »Irving Washington« wird, ein Fehler, der lustigerweise bis ins Namensregister des Buches durchschlägt, obwohl Washington Irving ansonsten im Buch ganz richtig benannt ist.

Insgesamt eine sehr zu begrüßende Ergänzung des deutschen Buchmarktes, die endlich eine Alternative zu der hausbackenen und viel zu kurzen Biographie Elizabeth Hardwicks liefert.

Andrew Delbanco: Melville. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. München: Hanser, 2007. Pappband, 470 Seiten. 34,90 €.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise

Sigrid Damms neues, nettes und weithin belangloses Lesebuch erzählt in dem weitgehend beliebigen Stil, der für Sigrid Damms Bücher inzwischen typisch geworden ist, Goethes letzte Lebensmonate. Den Rahmen bildet, abgesehen vom letzten Kapitel, das von Goethes Sterben berichtet, die letzte mehrtägige Abwesenheit Goethes von Weimar im August 1831. Um den Weimarer Feierlichkeiten zu seinem 82. Geburtstag zu entgehen, macht sich Goethe mit seinen beiden Enkeln Walther und Wolfgang auf die Reise ins nahegelegene Ilmenau, besucht die Jagdhütte auf dem Kickelhahn noch einmal, macht einige Ausflüge und kehrt am 31. August wieder nach Weimar zurück.

In diesen Rahmen passt Sigrid Damm zahlreiche Reflexion zu diversen anderen Themen und Zeiten in Goethes Leben ein: Seine Bemühungen um den Ilmenauer Bergbau, seine letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow, das Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh, der Tod seines Sohnes August in Rom, Goethes Glaube an das Fortbestehen des Geistes nach dem Tode, Gestaltung und Inhalt des zweiten Teils des Faust und Vulkanismus contra Neptunismus dürften die wichtigsten sein. Alles wird locker aneinander gereiht und ist mit dem Hauptthema des Buches – als das sich schließlich Goethes Tod, seine „letzte Reise“, erweisen wird – mehr oder weniger eng und sinnfällig verknüpft.

Das meiste gerät dabei zur Nacherzählung der gerade für den Text benutzten Quellen, wobei sich die Redundanzen im Vergleich zu Christiane und Goethe in Grenzen halten, aber auch nicht vermieden werden. Anderes wird einfach daherzitiert und erweckt weniger den Eindruck einer Erzählung als den eines ausgekippten Zettelkastens, so etwa die Geschichte Friedrich Augusts von Fritschs (S. 246 f.).

Die lockere Struktur mag jenen entgegenkommen, die ein eher empathisches als reflektives Verhältnis zu Goethes Werk und Leben pflegen. Nicht umsonst fallen Fragen wie „Stellt nicht diese Dichtung die höhere Wahrheit dar?“ (S. 200), selbstverständlich ohne eine Antwort zu erfahren; die hinweisende Geste verbindet all jene, die gleichen Geistes sind. An anderen Stellen spricht Damm davon, wie „berührt“ oder „angerührt“ sie ist, ohne dass der Text auch nur einen einzigen Schritt über die Emotion hinausgelangt. An einer Stelle bleibt Damms Lektüre der Quelle gar so oberflächlich, dass eine echte Pointe resultiert. Sie zitiert einen Brief Goethes an Amalie von Levetzow, die Mutter Ulrikes:

Dabey, hoff ich, wird sie nicht abläugnen, daß es eine hübsche Sache sey, geliebt zu werden, wenn auch der Freund manchmal unbequem fallen möchte.

Und nun folgen im typischen Damm-Stil einige Fragen, die die Interpretation nicht leiten, sondern ersetzen:

Und der Schluß des Satzes, worauf deutet er? Wohl nicht auf den Troubadour, der vor den Augen der Angebeteten auf den Knien liegt, sondern auf den alten Mann, der ausrutscht und sich nicht wieder aufzurichten vermag? (S. 207)

Damm liest die Wendung „unbequem fallen“ tatsächlich im Sinne von „stürzen“, nicht als „lästig fallen“, wie sie offensichtlich gemeint ist.

An wieder anderer Stelle wird vergessen, was nur wenige Seiten zuvor berichtet worden ist, so wenn auf S. 285 ein Brief des Enkels Wolfgang zitiert wird, der die geplante Rückreise nach Weimar über Schwarzburg und Rudolstadt ankündigt, und Enttäuschung der Enkel darüber vermutet wird, dass man nun doch den gleichen Weg zurück nehmen wird, den man gekommen ist. Auf Seite 317 wird dann spekuliert, dass man diesmal in Stadtilm ein „dem hohen Gast angemessenes Mittagsmahl“ vorgesetzt haben könnte:

Bei der Herfahrt hat man die Bestellung aufgegeben. Da die Gasthofrechnung nicht überliefert ist und auch Krauses Tagebuch keine Auskunft gibt, können wir es nur vermuten.

Ja, vermuten kann man vieles. Warum man allerdings ein Mittagsmahl bestellen soll, wenn man weder den Rückreisetag kennt noch plant, überhaupt auf der Rückfahrt wieder vorbeizukommen, können wir nicht einmal vermuten – nur Sigrid Damm könnte.

Insgesamt nur ein weiteres oberflächliches, unordentlich erzähltes Buch von Sigrid Damm. Inzwischen macht es keinen Unterschied mehr. Für diejenigen, die sich als Goethe-Freunde empfinden und jene, die von Goethe wenig wissen und sich einen ersten, flüchtigen Eindruck verschaffen wollen, sicherlich kein schlechtes Lesebuch. Für den ernsthaft an Goethe und seiner Zeit Interessierten gänzlich unerheblich.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise. Frankfurt/M: Insel Verlag, 2007. Pappband, 364 Seiten. 19,80 €.

Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler

duerrenmatt_schachspieler Eine Veröffentlichung aus dem Nachlass Friedrich Dürrenmatts ist dieser Entwurf zu einer Kriminal-Erzählung (kein Fragment, wie das Titelblatt suggeriert), der nur wenige Seiten umfasst. Erzählt wird die Geschichte zweier Juristen, eines alten Richters und eines jungen Staatsanwalts, die sich auf der Beerdigung des Vorgängers des Staatsanwaltes kennenlernen. Der Richter kommt mit dem Staatsanwalt ins Gespräch und erwähnt, dass er mit dem Verstorbenen befreundet war und sich mit ihm regelmäßig zum Schachspiel getroffen habe. Auch der junge Kollege spielt Schach und man verabredet sich für den kommenden Sonntag zum Spiel. An diesem Tag ziehen sich nach einem Essen, bei dem auch die Tochter des Richters und die Gattin des Staatsanwaltes anwesend sind, die beiden Herren ins Arbeitszimmer zurück, wo der Richter dem Jüngeren ein mörderisches Geheimnis anvertraut, das hinter dem gemeinsamen Schachspiel steckt … Seltsamerweise sind es bei Dürrenmatt oft Juristen, die dem Wahn verfallen müssen, gottgleich in das Schicksal der Menschen eingreifen zu dürfen.

Ergänzt wird der Entwurf durch einen kurzen Auszug aus einer Rede über Einstein aus dem Jahr 1979, in der Dürrenmatt zur Veranschaulichung einer Differenz zwischen einem »deterministischen« und einem »kausalen« Weltbild die Welt mit einer Schachpartie vergleicht. Die Nähe zum Szenario der Erzählung ist offensichtlich.

Attraktiv wird der Band durch die handwerkliche aufwendige Herstellung und die opulente Ausstattung mit Graphiken des Züricher Graphikers Hannes Binder, die den eigentlichen Gehalt des Bandes ausmachen, da der Entwurf der Erzählung allein, der an sich bloß Ideenskizze bleibt, kaum ein Büchlein füllen würde. Die Illustrationen sind konsequent schwarz-weiß gehalten und spiegeln im Format die Quadrate eines Schachbretts wider. Ästhetisch ist das Bändchen sehr gelungen, inhaltlich ist es etwas schmal geraten. Neben der hier vorgestellten Normalausgabe existieren zwei hochpreisigere Vorzugsausgaben, die nur direkt vom Verlag zu beziehen sind.

Ein Buch für Dürrenmatt- und/oder Schachfreunde.

Friedrich Dürrenmatt: Der Schachspieler. Großhansdorf: Officina Ludi, 2007. Bedrucktes und geprägtes Leinen, Fadenheftung, 28 Seiten (24,5 × 24,5 cm). 27,80 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (10)

Ich erwarte hierbei weder den Beifall der Menge noch eine große Zahl Leser; denn ich schreibe nur für solche, die ernstlich mit mir nachdenken und ihren Geist von ihren Sinnen und zugleich von allen Vorurteilen abtrennen können und wollen, und deren gibt es, wie ich wohl weiß, nur wenige.

René Descartes

Ein Peter-Weiss-Revival?

Jens-Fietje Dwars beginnt sein Buch »Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie« mit einer traurigen, aber nichtsdestoweniger richtigen Einschätzung der Bekanntheit und Beliebtheit von Peter Weiss: »In den vergangenen fünfzehn Jahren der ›Wiedervereinigung‹ war kein deutscher Autor von Rang weniger präsent als Peter Weiss.« [S. 10] Er überschreibt das einleitende Kapitel, in dem dieser Satz steht, allerdings auch mit der Zeile »Ein Unzeitgemäßer kehrt zurück«. Das ist Ausdruck dessen, wovon der Titel dieser Biographie spricht: Hoffnung. Vielleicht sogar der Hoffnung, dass sein Buch mit zu dieser Rückkehr beitragen wird. Wenigstens dies dürfte sich als illusorisch erweisen.

Das soll nicht heißen, dass diese Biographie schlecht ist; sie ist es nicht. Lesbar geschrieben, von einem persönlichen Zugang zum Autor und seinen Texten getragen, ist dieses Buch eine gute und umfassende Einführung in das Werk von Peter Weiss. Eine wirkliche Biographie ist es nicht; dafür kommen die genaueren zeitlichen, sozialen und persönlichen Umstände des Lebens von Peter Weiss besonders in der zweiten Hälfte zu sehr am Rande vor. Aber eine gute Einführung ins Werk ist es. Es ist auch ein Buch, in dem man nicht nur den Autor Peter Weiss kennenlernt, als der er berühmt geworden ist, sondern auch den Maler, als der er angefangen hat, und den Filmemacher, der er wurde, bevor er als Schriftsteller seinen Durchbruch hatte. Dwars widmet sich genauso gründlich und eingehend der »romantischen« Phase im Werk, wie er später die politische darstellt. Er wird Weiss in der einen ebenso gerecht wie in der anderen, und auch der Übergang von der einen zur anderen leuchtet uns nach der Lektüre wenigstens halbwegs ein. Dwars schreibt auch keine Hagiographie seines Autors:

Weiss hat sich das dreibändige Kapital ins Reisegepäck gelegt, als er im Sommer 1965 mit seiner Frau für ein paar Wochen nach Italien fuhr. In Bibione bei Venedig machten sie mit Hans Werner Richter Ferien. Der erzählt, wie verbissen der Lernbegierige in der sengenden Sonne über den fast tausend Seiten des ersten Bandes saß, von denen er nach drei Tagen zehn gelesen hatte. Dann ließ er das Buch im Hotel, wurde beim Baden von einem giftigen Fisch gestochen und laborierte den Rest des Urlaubs an Sonnenbrand. [S. 179 f.]

Alles, was Dwars schreibt, ist brav, richtig und fleißig. Aber es wird Peter Weiss und sein Werk nicht retten, wird zu keiner Renaissance der Weiss-Lektüre, zu keiner Wiederaufführung seiner Stücke – von denen, alles in allem betrachtet, vielleicht noch »Der Turm« (von dem mir bis heute unbegreiflich ist, warum es nicht viel bekannter ist) als merkwürdiges Pendant zu Wedekinds »Frühlingserwachen« und »Marat/Sade« als echtes Theaterfest Chancen auf eine Wiedererweckung hätten –, zu keiner Neuauflage, geschweige denn Erweiterung seiner Werkausgabe führen. Weiss wird vergessen bleiben aus denselben Gründen, warum er berühmt geworden ist: Weil man ihn nicht verstanden hat! Vielleicht sogar, weil er sich selbst so schlecht verstanden hat. Weil er dort auf Inhalte pochte, wo er seiner künstlerischen Kraft, der Eigenart seiner Sprache hätte vertrauen sollen. Weil er vielfach nur als ideologischer Teil einer politischen Bewegung wahrgenommen worden ist – und sich selbst auch so begriffen hat –, was den unverstellten Blick auf sein Werk bis heute behindert.

Es kommt eine Selbstdeutung des Autors hinzu, die zu einem weiteren Mißverständnis geführt hat, das auch Dwars mit seiner Darstellung bestärkt: Peter Weiss’ Prosa sei in der Hauptsache autobiographisch. So arbeitet sich Dwars immer wieder an der Feststellung ab, die »Wirklichkeit« – was auch immer das in der Biographie eines Autors ist – sei gar nicht so gewesen, wie Weiss es in »Abschied von den Eltern« oder »Fluchtpunkt« darstelle. Nun, deshalb steht ja auch »Erzählung« bzw. »Roman« als Gattungsbezeichnung unter den Titeln. Selbst bei der »Ästhetik des Widerstandes« wirft Dwars zusammen mit dem Autor erneut die fatale Frage auf, ob es sich bei dem Roman um den Entwurf einer »Wunschbiographie« handele:

Ein Wunschbild, sagen die Kritiker des Romans seit 25 Jahren, der nur eine »Wunschautobiographie« sei. So hatte Weiss den ersten Band selbst 1975 im Gespräch bezeichnet: als Experiment, wie sein Werdegang verlaufen wäre, wenn er in proletarischem Milieu begonnen hätte. Der Bürgersohn dichtet sich eine Arbeitervita an und versucht, seinen versäumten Antifaschismus nachträglich wiedergutzumachen, das ließe sich unter Schizophrenie verbuchen. [S. 257]

Viel schlimmer: Das verstellt den Blick auf das Werk und macht es zugleich beliebig. Wenn es nicht gelingt – und es wird nicht gelingen – Peter Weiss als Schriftsteller für die Leser zurückzugewinnen, wird ihm das gleiche Schicksal widerfahren, wie so vielen anderen »Autoren von Rang« – denn das ist Weiss unbestritten –: Sie werden im kleinen Kreis der Liebhaber und Spezialisten gelesen werden, auch die germanistische Forschung wird sie nicht gänzlich vergessen, aber »präsent« werden sie nicht wieder werden. Aber das muss nicht unbedingt ein schlechtes Schicksal für einen Autor sein; wenn wir ehrlich sind, ergeht es z. B. Jean Paul auch nicht viel anders …

Als Biographie zu lückenhaft, als Einführung ins Werk aber sehr zu empfehlen! Auf eine Rettung von Peter Weiss für unsere Zeit müssen wir aber leider wohl noch warten.

Jens-Fietje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, 302 Seiten. 24,95 €.

Von der Höhe der Alpen (7)

»I tell you, ma’am,« said Mr. Witherden, »what I think as an honest man, which, as the poet observes, is the noblest work of God. I agree with the poet in every particular, ma’am. The mountainous Alps on the one hand, or a humming-bird on the other, is nothing, in point of workmanship, to an honest man – or woman – or woman.«

Charles Dickens
The Old Curiosity Shop