Moskau–Baden-Baden–Petersburg

Zypkin_Baden-BadenSchon im letzten Jahr in den Bestseller- und Besten-Listen gewesen, aber sicherlich zu Recht: Leonid Zypkin »Ein Sommer in Baden-Baden«. Der Roman spielt im Wesentlichen auf zwei Ebenen: Auf der ersten fährt ein Ich-Erzähler mit dem Zug von Moskau nach Petersburg, um dort eine alte Bekannte zu besuchen und das Haus zu photographieren, in dem Dostojewskij seine letzten Lebensjahre verbracht hat, auf der zweiten entwirft der Erzähler auf der Grundlage des Tagebuchs von Dostojewskijs zweiter Ehefrau Anna Grigorjewna eine Vision von der Flucht des jungvermählten Ehepaars Dostojewskij nach Deutschland und der Reise nach Baden-Baden, wo der Schriftsteller hofft, durch einen Gewinn im Kasino der Schuldenfalle entkommen zu können, in die ihn der Tod seines Bruders und der nachfolgende Bankrott des gemeinsamen Zeitschriftenprojekts gebracht haben.

Der Roman brilliert in den Passagen, die Dostojewskijs Spielsucht thematisieren und das kontinuierliche Abrutschen des Ehepaars in immer drängendere finanzielle Not, weil »Fedja«, wie alle obsessiven Spieler, natürlich nicht aufhören kann, wenn er gewinnt, sondern solange am Roulette bleibt, bis auch der letzte Kreuzer wieder einmal der Bank gehört. Diese Passagen bilden den Kern des Buches und werden im letzten Teil durch eine intensive Beschreibung der letzten Lebenstage Dostojewskijs ergänzt. Ansonsten stehen die Ehe Dostojewskijs und sein »schwieriger Charakter«, um es einmal vorsichtig auszudrücken, im Zentrum der Darstellung.

Stilistisch ist das Buch etwas gewöhnungsbedürftig, da es in sehr langen, durch Gedankenstriche gegliederten Sätzen geschrieben ist, die den Gedanken- und Assoziationsstrom des Erzählers sicherlich gut wiedergeben – nur einlesen muss man sich eben eine Weile lang. Man bemerkt dann aber rasch, dass die Bild- und Gedankenfolgen durchaus präzise sind, und nach einigen zwanzig Seiten stören einen die endlosen Haupt- und Nebensatzfolgen nicht mehr länger.

Das Buch erfüllt sicherlich zwei Zwecke: Es macht neugierig auf den Menschen Dostojewskij, und es reizt dazu, seine Romane zu lesen. Immer wieder streut der Erzähler Andeutungen und Fragmente aus den Werken ein, stellt eine Romanfigur vor, lässt Zusammenhänge aufblitzen. Das ist sehr geschickt gemacht und erinnerte mich in der Wirkung an Julian Barnes’ »Flaubert’s Parrot«.

Alles in allem ein rundum empfehlenswertes Buch, sowohl für gestandene Dostojewskij-Leser als auch für die, die neugierig auf diesen so unklassichen russischen Klassiker sind. Nur zwei Dinge haben mich geärgert: Zum einen, dass man meinte, dem Buch eine Einführung durch Susan Sontag vorweg stellen zu müssen; gegen ein Nachwort dieser weithin überschätzten Essayistin wäre nichts zu sagen, aber warum muss man Frau Sontag vorlaut an den Anfang stellen, als habe der Roman dies nötig? Und die Verarbeitung der mir vorliegenden Ausgabe der Büchergilde Gutenberg ist einfach schlecht: Nicht nur ist der Buchblock miserabel gelumbeckt, sondern zudem läuft das Vorsatzpapier falsch herum, so dass sich der Buchdeckel, nachdem man die heute unvermeidlichen Plastikhülle entfernt hat, widerstrebend aufbäumt. Solche »Qualität« hat es früher bei der Büchergilde nicht gegeben.

Leonid Zypkin: Ein Sommer in Baden-Baden. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg, 2006. Berlin Verlag, 2006. Leinen, 238 Seiten. 16,90 €, im Originalverlag: 19,90 €.

Hier geht’s um die Wurst

Heidelbach_Wurst Wiglaf Droste und Vincent Klink geben seit einiger Zeit zusammen das Magazin »Häuptling Eigener Herd« heraus, das inzwischen bei Heft 28 angekommen ist. Darin geht es ums Essen, Kultur und Unkultur, und das Schönste daran ist, dass die Herausgeber und Autoren sich selbst nicht so besonders ernst nehmen. Nikolaus Heidelbach ist einer der bemerkenswertesten Illustratoren in der deutsche Buchlandschaft. Sein Stil ist unverkennbar, seine Illustrationen sind anspielungsreich und hintergründig, hier und da auch unvergleichlich böse. Heidelbach hat u. a. zahlreiche Kinderbücher illustriert und dabei sehr oft in einmaliger Weise die Abgründigkeit der kindlichen Welt getroffen. Und diese drei haben nun zusammen ein Buch gemacht: »Wurst«.

Eigentlich sollte »Wurst« ein Heft des Magazin »Häuptling Eigener Herd« werden, aber Heidelbachs farbige Illustrationen verlangten nach einem anderen Publikationsort. Und so hat Wiglaf Droste den Kölner Verlag DuMont dazu überredet, ein Buch daraus zu machen. Das Buch bringt genau das, was der Titel verspricht: Es dreht sich alles um die Wurst.

Die Beiträge – deren Autoren jeweils mit einer Heidelbachschen Vignette bezeichnet sind – reichen von der autobiographisch gefärbten Erzählung über eine kosmologische Theorie der Fenchelsalami, Listen mit Wursttiteln in Film und Literatur sowie klassischen Wurstzitaten (dass Heine mit seinen »Göttinger Wurstzitaten« hier fehlt, schmerzt gerade im Heine-Jahr ein wenig), einer kleinen Wurstkunde bis hin zu Rezepten, bei denen dem Fleischfresser bereits beim Lesen der Zutatenliste das Wasser im Munde zusammenrinnt.

Dabei beweist sich insbesondre Vincent Klink einmal mehr als begnadeter Erzähler: Seine Geschichte »Allah schaut weg« über vier Köche aus Afrika, die in München die lokale Küche kennenlernen wollen, um später in der Heimat Touristen bekochen zu können, ist ein kleines Meisterstück lakonischer Erzählkunst.

Und der Band ist reichhaltigst illustriert: Nikolaus Heidelbach setzt die Themen Wurst und Erotik, Wurst und Religion und insbesondere Wurst und Tod auf immer neue Weise ins Bild: Eine Saitenwurst, in der sich der Tod versteckt, eine modebewusste Dame auf hochhackigen Schuhen, die sich als Gipfel der Eleganz eine Scheibe Blutwurst umgeschlagen hat, eine verführerische »Kleine Wurstgöttin« mit Senftöpchen, ein goyascher schlafender Koch, dessen Schlaf Flederwürste gebiert. Mein Lieblingsstück ist vielleicht das ganz stille Doppelblatt »Die Hl. Martha führt den Tod mit Blutwurst in Versuchung«.

Ein Lesebuch, ein Bilderbuch, ein Rezeptbuch, ein Verschenk- und Sichselbstbeschenkbuch – und das alles zum Preis eines bescheidenen Abendessens beim Italiener um die Ecke.

Wiglaf Droste / Nikolaus Heidelbach / Vincent Klink: Wurst. DuMont, 2006. Leinen, fadengeheftet, 160 Seiten. 24,90 €.

Hans Peter Duerr: Rungholt

55130855_164688ede0Ein weiteres Buch in Duerrs üblicher Manier: Von 768 Seiten sind etwa 410 Text, 190 Anmerkungen, die zum großen Teil weitere detaillierte und wichtige Informationen enthalten und 140 Bibliographie. Den Rest bilden Impressum, Inhaltsverzeichnis und Register.

Duerr hat also den Kampf gegen Elias’ Theorie vom Prozess der Zivilisation vorerst eingestellt und sich einem archäologischen Thema zugewandt. Auch dafür hat er und wird er noch Schläge der etablierten Wissenschaft beziehen. Rungholt ist daher aus zwei Gründen interessant:

Zum einen präsentiert das Buch – hauptsächlich im ersten Viertel – ein Possenspiel des akademischen Betriebs, enthaltend die beiden Akte Duerr kommt zur Bremer Universität und Duerr und das Archäologische Landesamt Schleswig-Holsteins. Ein bedeutender Teil der Auseinandersetzung hat Ende der 90-er Jahre in der regionalen und überregionalen Presse stattgefunden, und es ist ein Vergnügen der besonderen Art, Duerrs Version der Vorgänge zu lesen. Duerr erweist sich einmal mehr als Eulenspiegel der akademischen Szene, an dessen Einbindung und Zähmung die festgefahrenen und dogmatischen Institutionen Mal um Mal scheitern. Dabei ist Duerr eigentlich das Muster eines Gelehrten: Unglaublich gebildet, misstrauisch gegen überlieferte Vorurteile und stets bemüht um originelle Zugriffe und neue Interpretationen. Er ist der klassische Konservative, der inzwischen so obsolet geworden ist, dass er gleich wieder die Speerspitze der Avantgarde bildet. Und immer geht es ihm um die Sache, mehr noch, um die Wahrheit. Was kann man sich von einem Professor im eigentlichen Sinne mehr wünschen, wenn man nicht gerade sein Dekan oder Rektor ist.

Zum anderen vertritt das Buch in Bezug auf sein Thema zwei neue Thesen:

1. Rungholt lag nicht dort, wo die Forschung es bisher vermutet hat, sondern wahrscheinlich ein ganzes Stück weiter nördlich.

2. Rungholt wurde nicht erst im Mittelalter besiedelt und nach der Sturmflut von 1362 endgültig aufgegeben, sondern Duerr dokumentiert in der Umgebung Rungholts Siedlungsspuren bereits aus dem Neolithikum. Er behauptet explizit nicht eine ununterbrochene Besiedlung der Gegend, sondern weist nur einen bereits sehr viel früheren vor dem bislang angenommenen Zeitpunkt der Erstbesiedlung nach.

Das letzte Viertel des Buches beschäftigt sich mit der Möglichkeit, dass ein minoisches Schiff bereits im 14. oder 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Gegend um Rungholt erreicht haben könnte, und breitet dann viel gelehrtes und sicherlich für sich genommen interessantes Material über die antike Vorstellung vom Nordens Europas aus. Dies alles hängt nur über den Fund einer einzelnen Scherbe einer mutmaßlich minoischen Gebrauchskeramik im Rungholtwatt mit dem Hauptthema des Buches zusammen. Man wird selbst entscheiden müssen, wie weit man als Leser diesen Weg mitgeht.

Für Duerr-Leser und Rungholt-Interessierte ein Muss, für die anderen ein anspruchsvolles Abenteuerbuch.

Duerr, Hans Peter: Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt
Insel, 2005; ISBN 3-458-17274-2
Gebunden
768 Seiten – 28,00 Eur[D]