Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen
Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic (S. 61)
Weil der Augenblick,
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird,
niemals der glückliche Augenblick ist.
Weil der Verdurstende seinen Durst
nicht über die Lippen bringt.
Weil im Munde der Arbeiterklasse
das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.
Weil, wer verzweifelt,
nicht Lust hat, zu sagen:
»Ich bin ein Verzweifelnder.«
Weil Orgasmus und Orgasmus
nicht miteinander vereinbar sind.
Weil der Sterbende, statt zu behaupten:
»Ich sterbe jetzt«,
nur ein mattes Geräusch vernehmen läßt,
das wir nicht verstehen.
Weil es die Lebenden sind,
die den Toten in den Ohren liegen
mit ihren Schreckensnachrichten.
Weil die Wörter zu spät kommen,
oder zu früh.
Weil es also ein anderer ist,
immer ein anderer,
der da redet,
und weil der,
von dem da die Rede ist,
schweigt.
Kategorie: Hans Magnus Enzensberger
Uwe Johnson: Jahrestage 2
Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.
Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.
Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:
Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]
Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.
Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.
Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:
– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]
Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.
Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz
Hans Magnus Enzensberger hat es mal wieder witzig gemeint und die Pointe nicht recht rübergebracht. Sein »Idiotenführer«, wie er das Büchlein selbst nennt, versucht eine Kritik der gerade wieder grassierenden Intelligenz-Hysterie, allerdings unterläuft sein Text die Latte einer ernsthaften Auseinandersetzung deutlich. Einzig originell ist sein Ansatz, die Intelligenz als »Tugend« der modernen Gesellschaft anzusprechen; allerdings folgt aus dieser Einordnung schlicht nichts, wie aus den meisten anderen gedanklichen Ansätzen des Bändchens auch. Das Ding ist sicherlich gut gemeint, aber das war es dann auch. Wie Tucholsky so richtig festgestellt hat:
Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.
Wichtig ist das Büchlein einzig und allein, weil es wieder einmal an ein wirklich bedeutendes Buch zum Thema Intelligenzforschung und -messung erinnert, das aufgrund seines Alters droht, in Vergessenheit zu geraten: Stephen Jay Goulds Der falsch vermessene Mensch. Alles Relevante, was Enzensberger zu sagen hat, steht schon bei Gould, und es steht hier in einem sauberen, wissenschaftlichen Argumentationszusammenhang. Goulds Kritik der Intelligenz-Industrie zeigt stringent, dass völlig unklar ist, was Intelligenztests eigentlich messen bzw. dass das, was sie messen, wahrscheinlich nicht mehr ist, als die Fähigkeit des Geprüften, einen Intelligenztest auszufüllen. Zudem liefert seine Darstellung der mit dem Intelligenzbegriff verknüpften Vorurteile von Vererbung und rassischen Unterschieden, die diese Tests angeblich nachweisen, eine unverzichtbare soziologische Rahmung, die die Karriere des Konzepts Intelligenz erst begreiflich und zugleich inakzeptabel macht. Diesen Zusammenhang ignoriert Enzensberger nahezu komplett – obwohl er Goulds Buch benutzt und anführt –, so dass seine Kritik weitgehend beliebig bleibt.
Hans Magnus Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer. edition suhrkamp 2532. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. 59 Seiten. 7,– €.
Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 583. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 394 Seiten. 15,– €.