Carl Einstein: Die schlimme Botschaft

Das Dichterische wirkt meist wie der Hintern der „Wirklichkeit“.
Carl Einstein

Einstein-Schlimme-BotschaftCarl Einstein (nicht verwandt oder verschwägert) ist einer von einer ganzen Anzahl deutscher Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nach der Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus nur noch am Rande wahrgenommen wurden und heute an der Grenze zum Vergessenwerden stehen. Sein einziger sogenannter Roman „Bebuquin“ (1912) – der Text umfasst nur etwa 13.000 Wörter und trägt die Gattungsbezeichnung ausschließlich, um klarzustellen, welche literarische Form hier konterkariert werden soll – war bis vor einiger Zeit noch bei Reclam lieferbar, wurde dort aber mittlerweile durch eine der kunsthistorischen Schriften Einsteins ersetzt.

Jetzt hat der junge homunculus verlag Einsteins „Die schlimme Botschaft“ (1921) wieder aufgelegt. Der Titel ist eine bewusste Umkehrung des Evangeliums und das schmale Büchlein enthält 20 Szenen, in denen Jesus von Nazareth sich mit seinen Jüngern, Bürgern, Soldaten, einem Schriftsteller, zwei Juden, Pilatus und anderen mehr unterhält, wobei die Zeit, zu der diese Szenen spielen zwischen dem 1. und dem 20. Jahrhundert verschwimmt. Am Ende wird er natürlich wieder ans Kreuz geschlagen, wobei diesmal ein Manager seinem letzten Atem noch die Rechte an seinen Memoiren abgewinnen möchte, sich aber angesichts der geforderten 100 % vom Ladenpreis nur mit dem Wort „Blöd geworden“ von ihm abwenden kann. Einsteins Jesus kritisiert scharf die sogenannten Christen des 20. Jahrhunderts, sowohl die Religionsverwerter als auch die Taufchristen, deren Lebens- und Geschäftsgebaren mit der Lehre des Mannes, nach dem sie sich immerhin Christen nennen, nichts mehr zu tun hat. Der ethische Gehalt der Szenen ist dabei nicht leicht auf den Punkt zu bringen: Einsteins Jesus ist ein Leidender unter den Leidenden, ein Armer auf Seiten der Armen, ein Geschlagener und Rechtloser in einer Welt von Rechthabern, Beutelschneidern und Besserwissern.

Bekannt wurde „Die schlimme Botschaft“ aber nicht durch die 200 bis zu ihrem Verbot verkauften Exemplare, sondern durch den Gotteslästerungsprozess, der 1922 gegen den Autor und seinen Verleger Ernst Rowohlt geführt wurde und der mit der Verurteilung beider zu einer Gesamtgeldstrafe von 15.000 Mark (immerhin als Ersatz für eine eigentlich fällige Gefängnisstrafe) endete. Anzeige erstattet hatten ein schwäbischer Fabrikant und ein Thüringer Superintendent; die Staatsanwaltschaft Berlin erhob daraufhin Anklage, und obwohl die Verteidigung einiges Vernünftige dagegen vorbringen konnte, dass  „Die schlimme Botschaft“ den Tatbestand der Gotteslästerung erfülle, folgte das Gericht den sogenannten Sachverständigen der Staatsanwaltschaft und verurteilte Buch, Autor und Verleger.

Der Prozess und sein Urteil wurden in der deutschen Presse durchaus kontrovers diskutiert; auch bildete er den Anlass für eine Umfrage unter Künstlern und Gelehrten, ob denn einerseits Einsteins Buch gotteslästerlich und andererseits der Gotteslästerungsparagraph im Strafgesetzbuch überhaupt noch zeitgemäß sei. All das ist ganz wundervoll vollständig dokumentiert in dem Artikel „Einstein, Carl“ im ersten Band von Heinrich Hubert Houbens – der wahrscheinlich noch ein Stück näher der Grenze zum Vergessen west als Einstein – „Verbotene Literatur“, der 1923 (vordatiert auf 1924) ebenfalls bei Rowohlt erschienen ist und sich also zur Zeit des Prozesses gerade im Entstehen befand. Houben konnte das im Archiv von Rowohlt gesammelte Material benutzen und so ein umfassendes Bild des Prozesses und der Reaktionen auf ihn liefern.

Für Einstein bedeutete dieser Prozess aber natürlich zuerst  einmal einen schriftstellerischen Maulkorb, auf lange Sicht Exil in Frankreich (ab 1928) und in letzter Instanz den Freitod vor den heranrückenden Nationalsozialisten. Der ein oder andere versprengte Kunsthistoriker denkt heute noch an ihn, und eine kleine Schar von Germanisten versucht sein Werk im Bewusstsein der Lebenden zu halten. Das Bändchen im homunculus verlag liefert neben dem Text der „Schlimmen Botschaft“ auch den – soweit ich sehe kompletten – Artikel Houbens. Das kurze Vorwort ist leider anonym; auch erfährt der Leser nicht, welche Textgrundlage dieser Neudruck hat, was das Buch für die germanistische Arbeit ein wenig entwertet. Wollen wir hoffen, dass es wenigstens diesmal diejenigen in größerer Menge erreicht, die es 1921 schon hätte erreichen sollen: die Leser.

Carl Einstein: Die schlimme Botschaft. 20 Szenen. Erlangen: homunculus, 2015. Broschur, 167 Seiten. 17,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (75)

Durch den Druck ist aber in der Tat die ganze Literatur ein Buch geworden, in welchem jeder nach Belieben blättern mag und daraus ein allgemeiner Dilettantismus der Produzenten wie der Konsumenten entstanden. Ehedem dichtete der Sänger für eine gewisse ideale Totalität seiner Nation, oder auch für einen be­stimm­ten Kreis spruchfähiger Freunde und Gönner, und war in beiden Fällen des Verständnisses und geistigen Widerhalls gewiß; ganz abgesehen davon, daß bei der Kostbarkeit und zeit­rau­ben­den Mühe einer Vervielfältigung der Gedichte in der Regel nur das Beste sich erhalten und vererben konnte. Jetzt dagegen bringt jeder Phantast – das Volk sagt treffend: »er lügt wie gedruckt« – seine wohlfeile Weisheit auf den großen Plundermarkt, wo Perlen und Kraut und Rüben durcheinanderliegen und ein jeder nach seines Herzens Gelüsten aufs Geratewohl zugreifen kann. Eine erstaunliche Konfusion, die noch bis heut fortzuwachsen scheint; die Köchin liest beim Messerabwischen ihre »Jungfrau von Orleans«, die Dame ihre »Mimili«. Eine maßlose Konkurrenz mag für alles Fabrikwesen ganz dienlich sein; hier führt sie selbst zur Fabrikation.

Joseph von Eichendorff

Schöneberg bis Sternbedeckung

Zum Beispiel

Zum Beispiel Segeltuch.

Ein Wort in ein Wort übersetzen,
das Salz und Teer einschließt
und aus Leinen ist,
Geruch enthält,
Gelächter und letzten Atem,
rot und weiß und orange,
Zeitkontrollen
und den göttlichen Dulder.

Segeltuch und keins,
die Frage
nach einer Enzyklopädie
und eine Interjektion
als Antwort.

Zwischen Schöneberg
und Sternbedeckung
der mystische Ort
und Stein der Weisen.

Aufgabe, gestellt
für die Zeit nach dem Tode.

Günter Eich

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Meyer-Aufl6-Bd18


Meyers Großes Konversations-Lexikon
6. Aufl., Bd. 18, S. 283

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Drei Propheten

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, [/] Doch ihre Weine trinkt er gern.

Goethe

Klages-MenschEs ist nicht wirklich verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die den Wirrkopf Ludwig Klages lesen. Klages ist durch seine – na, Nähe zum wäre ein Euphemismus; sagen wir also: Verwickelung mit dem Nationalsozialismus in Misskredit geraten, dem er nur deshalb nicht komplett in die Fänge gegangen ist, weil Alfred Rosenberg in ihm eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und ihn verbellt hat. Alles in allem ist Klages Position heute undiskutabel geworden: zuviel Mythengeraune, Völkisches, Rassistisches schwebt da allenthalben umeinander, als dass man ihn noch einmal auszugraben versuchen könnte.

Verwunderlich ist bei dieser Lage der Dinge aber, dass sein Vortrag „Mensch und Erde“ von 1913 regelmäßig wieder aufgelegt und offenbar auch gelesen wird. Das Jubiläumsjahr 2013 sieht diesmal sein Wiedererscheinen bei Matthes & Seitz, die so unverdächtig des falschen Gedankenguts sind, dass sie sich auch leisten können, wirre, rechte Rassisten zu drucken. Mit diesem Vortrag, den er bei einer jugendbewegten Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gehalten hat, ist Klages zu einem der frühen Propheten der ökologischen Bewegung geworden. Zumindest wenn man den Text nur kursorisch liest, klagt Klages die wissenschaftliche Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Zerstörung der Arten und Lebensräume an. Vieles von dem, was er an Beispielen anführt, ist zwar eher der westlichen Luxus- und Massengesellschaft anzulasten als konkret dem Projekt der Durchtechnisierung  der Welt, aber da Klages ebenso den Verfall der Kultur, die Vernichtung der Naturvölker und Vertreibung der Wölfe aus Europa bedauert, kommt es so genau nicht darauf an. Wichtig sind nur zwei Dinge: Die Welt ist in einem üblen Zustand und Rettung wird kommen in einem mythischen Endkampf, in dem die Gerechten am Ende durch mindestens ein Wunder den Sieg davontragen.

Was sich in der Wiederauflage des Büchleins – und in dem hier und da affirmativen Zitieren Klages’ – allerdings deutlicher zeigt als in Klages Vortrag selbst, ist die fortschreitende Fragmentierung – fast hätte ich Eklektizismus geschrieben, aber das hieße das Brouhaha unserer Zeit schon überschätzen – unserer Kultur, also das, was in aller Hilflosigkeit Postmoderne genannt wird – Epigonentum am Epigonentum, wenn es je eines gegeben hat. Wer Klages war, was er tatsächlich gemeint haben könnte, all das ist völlig gleichgültig. Da er ein paar undeutliche Phrasen und Zusammenhänge zur Verfügung stellt, die irgendwie in unseren Kram passen, zitieren wir ihn fröhlich und kümmern uns einen Dreck um den Rest. Den kennt ja ohnehin keiner.

Ludwig Klages: Mensch und Erde – ein Denkanstoß. Berlin: Matthes & Seitz, 2013. Broschur, 62 Seiten (wovon der Vortrag selbst 30 Seiten umfasst). 10,– €.

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Emmott-Zehn-MilliardenGanz in dieselbe Kerbe, wenn auch mit einem anderen Beil, schlägt Stephen Emmotts Traktat „Zehn Milliarden“. Auch er beschwört den nahenden Untergang der Menschheit innerhalb des laufenden Jahrhunderts. Emmotts, der es für nötig hält zu betonen, dass er Wissenschaftler sei (S. 15), malt ein schwarzes Bild von einer Zukunft, in der nicht nur 10 Milliarden Menschen den Planeten bevölkern und ihn damit durch die Produktion von Lebensmitteln, den übermäßigen Verbrauch von Wasser und die Produktion von Abfall notwendig zerrütten, sondern er bezweifelt auch, dass noch ein gangbarer Weg existiert, den katastrophalen Untergang der menschlichen Spezies an den Folgen ihrer eigenen Existenz zu verhindern. Darin ist ihm zuzustimmen. So wird es kommen, und je eher je besser.

Doch leider kann seiner optimistischen Einschätzung vom Untergang der Menschheit nicht zugestimmt werden, da sich die Spezies, auch wenn sie etwas anderes glaubt, auch weiterhin als Teil eines natürlichen Systems darstellt, das sich erlauben wird, sie auf das Maß zusammenzustutzen, das bedauerlicherweise ihre weitere Existenz, unter welchen Bedingungen dann auch immer, ermöglichen wird. Aber davon haben andere anderswo ausreichend ausführlich geschrieben.

Die ironische Pointe an dem Büchlein von Emmott ist jedoch, dass auch sein Inhalt deutlich zu kurz ist, um allein eine für den Buchmarkt geeignete Verkaufseinheit zu bilden. Während Matthes & Seitz sich die Mühe macht, dem Klages ein etwa gleich langes Nachwort anzuhängen, greift Suhrkamp zu einem schon andernorts erprobten Mittel: Man nimmt einfach den PowerPoint-Vortrag des Autors und druckt ihn 1:1 ab; so geraten auf viele Seiten nur ein oder zwei Sätze, die dort einen ganz wundervoll einprägsamen Eindruck machen. Damit gelingt es Suhrkamp, das Textlein auf stattliche 200 Seiten auszuwalzen. Das ist natürlich eine grandiose Idee bei einem Buch, dessen Kern die Kritik der Verschwendung von natürlichen Ressourcen bildet. (Wer mag, kann sich auf der Seite des Suhrkamp Verlages mittels einer Leseprobe einen Eindruck von diesem Meisterwerk des Buchdrucks verschaffen.)

Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Berlin: Suhrkamp, 2013. Bedruckter Pappband, 206 Seiten. 14,95 €.

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Ein Kubikkilometer genügt

Ein Mathematiker hat behauptet,
daß es allmählich an der Zeit sei,
eine stabile Kiste zu bauen,
die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

In diesem einen Kubikkilometer
hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
sämtliche heute lebenden Menschen
(das sind zirka zwei Milliarden!) Platz!

Man könnte also die ganze Menschheit
in eine Kiste steigen heißen
und diese, vielleicht in den Kordilleren,
in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
als würfelförmiges Paket.
Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
Und Sand würde daraufgeweht.

Kreischend zögen die Geier Kreise.
Die riesigen Städte stünden leer.
Die Menschheit läge in den Kordilleren.
Das wüßte dann aber keiner mehr.

Erich Kästner
Gesang zwischen den Stühlen (1932)

Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens

978-3-550-08720-2 Jedem, der sich mit dem Thema dieses Buchs mehr als nur oberflächlich beschäftigt hat, dürfte seine überwältigende Schwierigkeit klar sein. Für seine ernsthafte Behandlung wäre nicht nur eine grundlegende Bestimmung dessen zu leisten, wonach die Frage nach dem Sinn überhaupt fragen soll, sondern auch eine Abgrenzung gegenüber allen nicht philosophischen Ansätzen, nicht nur denen der Religionen, sondern auch denen der sogenannten Esoterik. Dazu wäre eine systematische Aufarbeitung dieser Angebote notwendig, um wenigstens einige Hoffnung haben zu können, zu einer eigenständigen und wesentlich philosophischen Antwort zu gelangen. Andererseits muss die Chance, tatsächlich zu einer solchen Antwort zu gelangen, angesichts von 2.500 Jahren Philosophiegeschichte als nahezu aussichtslos eingeschätzt werden: Wäre eine allgemeingültige oder wenigstens allgemein akzeptable Antwort gefunden worden, so wäre das wohl kaum jemandem unbekannt.

Was ist also von einem knapp 160 Seiten starken Buch zu diesem Thema zu erwarten? Nichts! Und genau so ist es auch. Professor Eagleton hat sich die Mühe gemacht, eine Zeit lang alles aufzuschreiben, was ihm zur Frage nach dem Sinn des Lebens durch den Kopf gegangen ist. Besondere Sorgfalt hat er nicht walten lassen; auch sonderlich sortiert hat er es anschließend nicht. Zwischendurch regt er sich mal über reiche Prominente auf, die er allerdings hauptsächlich aus dem »Goldenen Blatt« zu kennen scheint, dann räsoniert er einige Seiten über Samuel Becketts »Warten auf Godot«, wobei er eine genaue Kenntnis des Stücks beim Leser wohl einfach voraussetzt. Dann redet er wieder ein wenig über Wittgenstein, wozu ihm etwas bei Aristoteles einfällt. Achja, dann waren da ja auch noch Schopenhauer und Nietzsche, zwei wirklich unangenehme Zeitgenossen. Und dann gibt es noch diese eine Stelle bei Wittgenstein:

Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.

Diese kurze Passage aus dem Tractatus logico-philosophicus kann vom Leser nur dann verstanden werden, wenn er weiß, wie die Sprachtheorie des frühen Wittgenstein funktioniert: Wittgensteins Konstrukt einer Idealsprache erlaubt ausschließlich ein Sprechen über konkrete Sachverhalte einer gegenständlichen Welt. Aufgrund dieser Struktur kann mit ihr nur über die »wissenschaftlichen Fragen« (die im Tractatus auch nicht identisch sind mit dem, was man sich gemeinhin darunter vorstellt) gesprochen werden. Wenn diese alle beantwortet wäre, bliebe aufgrund der Sprachstruktur keine mögliche, unbeantwortete Frage mehr übrig. Was übrig bleibt, darüber lässt sich nicht sprechen, wenigstens nicht in Wittgensteins Idealsprache.

Und wie lautet Professor Eagletons Kommentar zu diesen Sätzen?

Wie sollen wir diese kryptischen Sätze verstehen? Wittgenstein meint wahrscheinlich nicht, der Sinn des Lebens sei grundsätzlich eine Scheinfrage, sondern nur soweit es die Philosophie betrifft. […] Alle lebenswichtigen Fragen, so glaubte er, liegen außerhalb der strengen Grenzen des Subjekts. Der Sinn des Lebens ließ sich seines Erachtens nicht sagen, wie es in einer Tatsachenaussage geschieht, und für den frühen Wittgenstein hatten nur solche Aussagen Sinn. Wir erhaschen zumindest einen Blick auf den Sinn des Lebens, wenn wir erkennen, dass er nicht zu den Dingen gehört, die eine Antwort auf eine philosophisch sinnvolle Frage sein können.

Nein, Professor Eagleton, zumindest der frühe Wittgenstein meinte bestimmt etwas anderes und wahrscheinlich nicht das, was Sie sich da zusammenfaseln. Das mag für eine Konversation auf einer Gartenparty vielleicht gerade noch durchgehen, ist aber tatsächlich ein übles Gemisch aus Halbwissen und assoziativem Geraune. Und so ist im Wesentlichen das ganze Buch. Nirgends findet sich eine auch nur einigermaßen ernsthafte Auseinandersetzung mit einer der vorgeführten Positionen, alles bleibt im Beliebigen, und ich konnte während der Lektüre den Verdacht nicht loswerden, dass Eagleton eigentlich meint, man müsse nur wieder an den lieben Gott glauben, dann wäre alles in Ordnung. Und am besten als Katholik, denn die Protestanten sind eine üble, schwarzseherische und freudlose Bande – zumindest in Professor Eagletons Welt.

Alles im allen ein ärgerliches Buch, das deutlich hinter dem selbst gesetzten Anspruch zurückbleibt.

Terry Eagleton: Der Sinn des Lebens. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Berlin: Ullstein, 42008. Pappband, 159 Seiten. 18,– €.

Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann

edmons_fischer Das Elend mit diesem Buch beginnt schon beim Titel: Aus dem englischen Bobby Fischer Goes to War (also: »Bobby Fischer zieht in den Krieg«) macht der deutsche Verlag den oben angeschriebenen Titel. Man versucht damit wahrscheinlich, das Buch denjenigen Lesern zu empfehlen, die schon das vorangegangene Opus des Autorenteams David Edmonds und John Eidinow, Wittgenstein’s Poker, gekauft hatten, das bei der DVA den Titel Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte trägt. Nun vertreten die beiden Autoren im Buch leider einen Standpunkt, der dem gewählten Titel ausdrücklich widerspricht:

Tatsächlich war der Weltmeisterschaftskampf keineswegs eine Verkörperung des Ost-West-Konfliktes, sondern fiel zeitlich genau in die Hochblüte der Entspannungspolitik. […] Obwohl nahezu alle westlichen Darstellungen des Fischer- Spasski-Kampfes die Ereignisse in weltpolitische Zusammenhänge rücken, sind sie in dieser Hinsicht seltsam irreführend. [S. 358]

Und genau in diese als irreführend bezeichnete Darstellungslinie ordnet der deutsche Titel das Buch ein. Allerdings ist es auch verständlich, dass sich in der Marketing-Abteilung der DVA keiner bereit fand, das Buch bis dorthin zu lesen. Das ist wesentlich auch der Übersetzung zuzuschreiben:

Fischers taktische Meisterleistung gegen Donald Byrne (den Bruder von Robert) wurde umgehend, auch wenn es vielleicht etwas übertrieben war, als die beste Einzelpartie des Jahrhunderts bezeichnet. Sein Spiel war ein beeindruckendes Kunstwerk, vielschichtig und komplex, mit kühner Weitsicht, und es machte in der Schachwelt Furore. Der Internationale Meister Bob Wade meinte, daß die Partie mit dem siebzehnten Zug, bei dem Fischer (Schwarz) einen Läufer zurücknahm, Le6, und den Angriff auf seine Königin übersah, auf eine »unsterbliche Ebene« gehoben wurde. Tatsächlich hatte Fischer keine vernünftige Alternative zu Le6, da jeder andere Zug zu seiner Niederlage geführt hätte, doch die Schnelligkeit, mit der die Stellung seines Gegners danach zusammenbrach, kam für Schachliebhaber trotzdem fast einem Wunder gleich. Schon beim fünfundzwanzigsten Zug war unübersehbar, daß Byrnes Figuren in einer erbärmlichen Unordnung waren. [S. 22 f.]

Mag man diese und ähnliche Stellen noch den Übersetzern zur Last legen wollen (was ist eigentlich so schwierig daran, ein Buch vor der Drucklegung einem Schachspieler mit einem etwas ausgeprägteren Stilgefühl zur Lektüre anzudienen, um wenigstens solch dilettantische Passagen wie die oben zitierte zu vermeiden?), zeigen andere die Inkompetenz und Geschwätzigkeit der Autoren auf:

Bei ihrer Einzelpartie [in Mar del Plata, 1960] spielte Spasski (Weiß) das Königsgambit, eine ungestüme Eröffnung, bei der Weiß einen Bauern opfert, um die Brettmitte zu beherrschen und die wichtigsten Figuren rasch einsetzen zu können. (Die Eröffnung gilt inzwischen als unvorteilhaft: Bei präzisem Spiel von Schwarz gewinnt Weiß praktisch keinen Ausgleich für den Verlust des Bauern.) [S. 29]

In jedem Gambit wird ein Bauer geopfert; das Wort Gambit meint nichts anderes. Und in jeder Eröffnung geht es darum, die Brettmitte zu beherrschen und die Figuren rasch zur Wirkung zu bringen. Und das Königsgambit galt schon damals bei den meisten Schachspielern als riskante Eröffnung, in der Weiß eher auf Ausgleich spekuliert, als ihn sicher zu erreichen. Die Wahl des Königsgambits durch Spasski besagt eher etwas über seine Einschätzung des jungen Fischer, als es eine Aussage über die Qualität der Eröffnung macht.

Die Eröffnung [die Sizilianische Verteidigung], eine Spezialität des Sizilianers Gioacchino Greco, der im siebzehnten Jahrhundert lebte, wird in dem sowjetischen Film Schachfieber aus dem Jahre 1925 erwähnt, bei dem mit José Capablanca ein echter Weltmeister mitspielte. Die Ehe eines Paars droht auseinanderzugehen, weil der Ehemann schachbesessen ist. Schließlich findet das Paar doch noch sein Glück, da die Frau den Zauber des Spiels schätzen lernt. Ihr letzter Satz, unmittelbar vor der Schlußszene, die mit einem Kuß endet, lautet: »Schatz … laß uns die Sizilianische Verteidigung probieren.« [S. 259 f.]

Einmal abgesehen davon, dass dieser Und-das-wissen-wir-auch-noch-Unsinn nahezu die einzige Erläuterung der beiden Autoren zu Fischers meistgespielter Eröffnung darstellt, könnte man wenigstens durch kurzes Nachschlagen in Erfahrung bringen, dass sich Gioachino Greco nur mit einem »c« schrieb und dass die Sizilianische Verteidigung zwar durch Greco benannt, aber schon vor dessen Geburt, spätestens von Giulio Cesare Polerio in die Praxis eingeführt worden war. Außerdem könnte man die kleine Höflichkeit besitzen, den Schachweltmeister von 1921–1927, José Raúl Capablanca, mit seinen beiden Vornamen zu benennen. Was der Rest dieser Passage in dem Buch verloren hat, bleibt völlig unerfindlich. Aber weiter geht’s:

Bei Zug sechzehn [der vierten Partie des WM-Kampfes 1972] brachte Fischer unklugerweise ein Bauernopfer, wonach Spasskis beide Läufer das Brett praktisch in Beschlag nahmen, indem sie die langen Diagonalen kontrollierten. Wenn es dem Weltmeister im komplexen Mittelspiel gelungen wäre, Raum für einen vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm zu finden, hätte er Weiß (Fischer) zwingen können, einen Bauern vorzuziehen. Und dieser Bauer hätte anschließend den Fluchtweg blockiert, über den Fischer entkommen konnte. [S. 260]

Leider war es nun aber Spasski, der schon im 13. Zug einen Bauern opferte (der allerdings erst im 16. Zug geschlagen wurde), ein Zug übrigens, der von den Kommentatoren nicht für unklug, sondern für besonders stark gehalten wird, da er, wie auch die beiden Autoren richtig irgendwo abgeschrieben haben, die beiden schwarzen Läufer aktiviert (von denen wiederum nur einer »die lange Diagonale kontrolliert«, während der andere schlicht auf die weiße Königsstellung zielt). Was es mit dem »vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm«, für den Spasski angeblich keinen »Raum« hat finden können, auf sich hat, wissen die Götter. Wahrscheinlich ist 29… Td8 gemeint, ein Zug, den Spasski ohne Tempoverlust hätte einschalten können, da Fischer seinen Springer auf d4 mittels 30. c3 hätte verteidigen müssen. Aber auch dabei hat weder die Rede vom mangelnden »Raum« noch vom »blockierten Fluchtweg« einen Sinn.

Wenn man von den zahlreichen sachlichen und sprachlichen Mängeln absieht, ist das Buch eine ganz brauchbare Darstellung der welt- und schachpolitischen Umstände, unter denen der WM-Kampf 1972 in Reykjavík stattgefunden hat. Das Buch macht zum einen deutlich, welche Entwicklungen der WM-Kampf 1972 angestoßen hat, so etwa den Traum von der Vermarktung des Schachspiels im Fernsehen, dem auch heute noch hohe Funktionäre anhängen, oder die Steigerung der Preisfonds, die zu einer ausgeprägten Profi-Elite des Schachs geführt hat. Zum anderen liefert es interessante Einblicke in die Bedingungen, Strukturen und Entscheidungsprozesse auf der sowjetischen Seite, die so detailliert und zugleich kompakt bislang wohl noch nicht zu lesen waren. Dagegen fällt die von den Autoren ausgegrabene Sensation der Entdeckung von Fischers wahrem Vater etwas dünn aus, da der wahre so wenig eine Rolle in Fischers Leben gespielt hat wie der falsche.

Insgesamt ein schlecht geratenes Buch, das durch die Übersetzung keine Aufwertung erfahren hat. Für den echten Fachmann wahrscheinlich weitgehend unerheblich, für den nachgeborenen Schachspieler aber von einigem Interesse, wenn er sich denn entschließen kann, an den Schwächen und Fehlern vorbeizulesen.

David Edmonds / John Eidinow: Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann. Die ungewöhnlichste Schachpartie aller Zeiten. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. München: DVA, 2005. Pappband, 432 Seiten. 22,90 €.

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel

eco_pendel Nach beinahe 30 Jahren aus Neugier die Lektüre eines zweiten Romans von Eco (seine Essays und wissenschaftlichen Publikationen stehen auf einem gänzlich anderen Blatt), da er mir in der letzten Zeit immer mal wieder untergekommen ist und mich interessiert hat, ob sich der Eindruck der Lektüre von Der Name der Rose wieder einstellen würde. Und er hat sich wieder eingestellt; diesmal habe ich die Lektüre allerdings nach 250 Seiten abgebrochen. Auch Das Foucaultsche Pendel ist ein langweiliger Krimi, aufgefüllt mit Material, das Beweis für einen beeindruckenden Fleiß des Autors ist, ansonsten aber nichts anderes als eine in Dialoge umgesetzte, wirre Ansammlung von Referaten anderer Literatur, die ich im Original nicht würde lesen wollen, um so viel weniger in Ecos Inhaltsangaben.

Der Roman dreht sich im Wesentlichen um zahlreiche Lieblingsthemen der europäischen Mystiker und Verschwörungstheoretiker: Im Zentrum stehen die Templer, aber auch Rosenkreuzer und zahlreiche andere ähnliche Gruppen werden nach Belieben ins Treffen geführt. Verbunden ist das alles durch ein dünnes Fähnchen von Handlung, in der sich die handelnden Personen ständig gegenseitig den Inhalt irgendwelcher Bücher erzählen. Da dem Autor selbst klar war, dass eine solche Lektüre für einen nicht dem Wahn verpflichteten Leser insgesamt ungefähr so spannend ist wie die eines Kursbuchs, strickt er eine Rahmenhandlung, in der ein Ich-Erzähler unmittelbar vor der großen Entdeckung steht, auf die hin sich der Leser durch 700 Seiten Stoff quälen soll.

Mir liegt die 18. Auflage der deutschen Taschenbuchausgabe vom De- zember 2006 vor, und ich frage mich, wie einem solch durch und durch wirren und langatmigen Buch solche Best- und Longseller-Qualität zuwachsen kann. Ich muss allerdings gestehen, dass ich schon die Faszination des Rosen-Buches nicht wirklich habe nachvollziehen können. Nur die wenigsten seiner weltweit in die Millionen gehenden Leser kann sich ernsthaft für die Probleme der Bettelorden oder Ecos Anspielungen auf die positivistische Philosophie interessiert haben, die auch dadurch nicht wirklich spannender wurden, dass Eco sich herabgelassen hat, sie denen, die sie nicht von selbst verstanden, ausführlich nachzuweisen und zu erläutern. Nun hatte Der Name der Rose wenigstens einen starken und schillernden Protagonisten wie William von Baskerville, dem in Das Foucaultsche Pendel jegliches Pendant fehlt.

Ich werde Eco hiermit endgültig unter die mir unlesbaren Roman-Autoren ablegen.

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. dtv 11581. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 182006. 841 Seiten. 13,– €.