Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz

enzensberger-irrgarten Hans Magnus Enzensberger hat es mal wieder witzig gemeint und die Pointe nicht recht rübergebracht. Sein »Idiotenführer«, wie er das Büchlein selbst nennt, versucht eine Kritik der gerade wieder grassierenden Intelligenz-Hysterie, allerdings unterläuft sein Text die Latte einer ernsthaften Auseinandersetzung deutlich. Einzig originell ist sein Ansatz, die Intelligenz als »Tugend« der modernen Gesellschaft anzusprechen; allerdings folgt aus dieser Einordnung schlicht nichts, wie aus den meisten anderen gedanklichen Ansätzen des Bändchens auch. Das Ding ist sicherlich gut gemeint, aber das war es dann auch. Wie Tucholsky so richtig festgestellt hat:

Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.

gould-vermessen Wichtig ist das Büchlein einzig und allein, weil es wieder einmal an ein wirklich bedeutendes Buch zum Thema Intelligenzforschung und -messung erinnert, das aufgrund seines Alters droht, in Vergessenheit zu geraten: Stephen Jay Goulds Der falsch vermessene Mensch. Alles Relevante, was Enzensberger zu sagen hat, steht schon bei Gould, und es steht hier in einem sauberen, wissenschaftlichen Argumentationszusammenhang. Goulds Kritik der Intelligenz-Industrie zeigt stringent, dass völlig unklar ist, was Intelligenztests eigentlich messen bzw. dass das, was sie messen, wahrscheinlich nicht mehr ist, als die Fähigkeit des Geprüften, einen Intelligenztest auszufüllen. Zudem liefert seine Darstellung der mit dem Intelligenzbegriff verknüpften Vorurteile von Vererbung und rassischen Unterschieden, die diese Tests angeblich nachweisen, eine unverzichtbare soziologische Rahmung, die die Karriere des Konzepts Intelligenz erst begreiflich und zugleich inakzeptabel macht. Diesen Zusammenhang ignoriert Enzensberger nahezu komplett – obwohl er Goulds Buch benutzt und anführt –, so dass seine Kritik weitgehend beliebig bleibt.

Hans Magnus Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer. edition suhrkamp 2532. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. 59 Seiten. 7,– €.

Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 583. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 394 Seiten. 15,– €.

Hartwig Schultz: Joseph von Eichendorff

Insel legt mit diesem Buch wenige Tage vor dem 150. Todestag Eichendorffs die fällige neue Biographie des letzten echten Romantikers vor. Der Autor hat durchaus einen guten Namen in Sachen Eichendorff: Er ist Mitherausgeber der großen Eichendorff-Ausgabe beim DKV und hat auch bei Reclam nicht nur die neue, illustrierte Taugenichts-Ausgabe herausgegeben, sondern auch zahlreiche Anthologien betreut und Texte kommentiert. Um so verwunderlicher ist es, dass seine Eichendorff-Biographie in Teilen oberflächlich und uninteressant bleibt.

Schon seine späten Zeitgenossen hatten mit der Wahrnehmung Eichendorffs einige Schwierigkeiten: Seine Werke hatten sich überlebt und schienen bereits einer anderen Epoche anzugehören, seine katholische Grundüberzeugung passte nur ungenügend in die immer säkularere Zeit, und so musste es der alte Eichendorff erleben, bereits vor seinem Ableben literaturgeschichtlich für tot erklärt worden zu sein. Was im Wesentlichen geblieben ist, ist sein Taugenichts, der zu einem erklärten Lieblingsbuch der Deutschen wurde, dem von Fontane und Thomas Mann sogar zugemutet wurde, ein Idealbild der Deutschen zu liefern, und das, inzwischen zur Schullektüre heruntergekommen, bis dato nur selten in seinem motivischen und artifiziellen Reichtum verstanden und erschlossen worden ist. Interessanterweise kann auch Schultz mit dem Text so wenig anfangen, dass er – trotz seiner Herausgeberschaft und seinem Status als Kommentator – nicht einmal in der Lage ist, die Fabel einigermaßen stimmig und vollständig wiederzugeben. Auch scheint er gänzlich taub zu sein für jeglichen Humor Eichendorffs; nur an einer Stelle äußert er den Verdacht, es könne sich um eine »vielleicht sogar ironische gedachte – Darstellung eines literarischen Modells der Romantik« handeln, lässt sich aber in seinen weiteren Ausführungen von diesem Einfall nicht weiter verunsichern. Dafür unterschlägt er beim Nacherzählen die Liebesintrige und den Aufenthalt auf dem Schloss, versetzt die Prager Studenten einfach an eine andere Stelle im Text – es kommt ja ohnehin nicht so genau drauf an, nicht wahr?

Auch ansonsten herrschen allenthalben Oberflächlichkeit und Schlamperei: Da heißt Eichendorffs Versepos Julian auch gern einmal »Julius« oder sein Robert und Guiscard wird zum beinahe schon Kleistschen »Robert Guiscard« verkürzt. Oder Schultz gibt die Nummern der immerhin von ihm mit herausgegebenen Taschenbuch-Bände der DKV-Ausgabe falsch an. Oder der Leser wird mit tiefen Einsichten in die Motivik der Romantik überrascht: »Offensichtlich führte die oft einsame Lage der Mühlen dazu, daß dieser Ort seit je mit Liebesbegegnungen in Verbindung gebracht wurde.« Ja, ja, offensichtlich! Oder zur Geschichte der Romantik: »Heute werden Eichendorff und Heine beide zu den größten Dichtern der deutschen Romantik gezählt, aber es waren eben Dichter und keine Verfasser objektiv abwägender Literaturgeschichten.« Und der Thomas Mannsche Wind zum Taugenichts wird kommentiert: »Thomas Manns ausführliche Charakteristik von Eichendorffs Werk und seinem Helden ist – wie könnte es anders sein – treffend und überzeugend.« Wie es anders sein könnte? Selbstgefälliges Geschwafel könnte es sein, wie so oft bei Thomas Mann!

Bei Werken, zu denen Schultz gar nichts eingefallen ist, zitiert er einfach ausführlich zeitgenössische Rezensionen, ohne klar zu machen, warum die damaligen Urteile für den heutigen Leser erheblich sein sollen. Überhaupt macht das Buch an keiner einzigen Stelle klar, was an Eichendorff 150 Jahre nach seinem Tod für Leser noch von Interesse sein könnte. Es kann sich ja nicht in der Feststellung erschöpfen, dass zahlreiche seiner Lieder heute noch gesungen werden.

Ein Buch, dem man die Lustlosigkeit und Zeitnot des Verfassers allenthalben anmerkt. Es hat einzig den Vorteil, nicht ganz so umfangreich zu sein wie die Biographie von Günther Schiwy (C.H. Beck, 2000), die inzwischen auch an einigen wenigen Stellen überholt ist, ist aber höchstens zur ersten und oberflächlichen Information geeignet. Der Eichendorff-Liebhaber oder gar -Kenner sollte seine Zeit besser verwenden als mit der Lektüre dieses alles in allem doch ärgerlichen Buches.

Hartwig Schultz: Joseph von Eichendorff. Frankfurt/M.: Insel, 2007. Pappband, 368 Seiten. 22,80 €.

Dunkel war’s, der Mond schien helle …

In seiner soeben erschienenen Biographie Josephs von Eichendorff zitiert Hartwig Schultz gleich zu Anfang den offensichtlich an der Goetheschen Selbstdarstellung in »Dichtung und Wahrheit« ironisch entlang geschriebenen Bericht Eichendorffs von den äußeren Umständen seiner Geburt:

Es war eine tiefe, stille, klare Winternacht des Jahres 1788, die Konstellation war überaus günstig, Jupiter und Venus blinkten freundlich auf die weißen Dächer, der Mond stand im Zeichen der Jungfrau und mußte Schlag Mitternacht kulminieren.

Schultz merkt dazu an:

Alle Umstände der Geburt sind in den autobiographischen Entwürfen, die unter dem Titel Unstern überliefert sind, so präzise beschrieben, daß der Leser annehmen muß, der Autor habe sich genau erkundigt. Eichendorff gibt nicht nur die Wetterbedingungen zum Zeitpunkt seiner Geburt an, sondern scheint auch den Stand der Gestirne ergründet zu haben – ganz so genau hat er es aber doch nicht genommen, da die Venus um Mitternacht natürlich längst untergegangen ist. [S. 7]

Liest man Eichendorffs Text genau, so bemerkt man, dass dort gar nicht steht, Venus sei um Mitternacht noch am Himmel sichtbar gewesen, sondern nur, dass der Mond um Mitternacht habe kulminieren müssen. Nun hat Schultz aber dennoch recht, er weiß es bloß nicht, da er – wie unter Germanisten üblich – lieber halbgebildet daherfaselt, als sich auch nur für fünf Minuten mit einer fachfremden Sache ernsthaft zu befassen. Ansonsten hätte er nämlich herausfinden können, dass am 8. März 1788 Neumond gewesen ist und der noch nicht zwei Tage alte Mond am 9. März schon vor 8 Uhr abends, etwa eine Stunde vor der Venus, untergegangen war. Von einer Kulmination um Mitternacht konnte also gar keine Rede sein. – Ja, wenn man’s nur ein bißchen tiefer wüßte.

Aus dem Leben eines Taugenichts

taugenichts

Reclam bringt zum Eichendorff-Jahr (der 26.11.2007 ist der 150. Todestag Eichendorffs) eine wunderhübsche illustrierte Neu-Ausgabe dieses Textes, der wahrscheinlich mit zu den meistgedruckten und am häufigsten illustrierten der deutschsprachigen Literatur gehört. Hans Traxler hat neben dem bedruckten Leineneinband auch das Vorsatzpapier gestaltet und 19 großformatige Bilder zum »Taugenichts« geliefert. Die Zeichnungen entsprechen in ihrer vordergründigen Einfachheit und leichten Ironie ganz wundervoll der zwischen artistischer Raffinesse und volkstümlichem Ton gespannten Erzählung Eichendorffs.

Der »Taugenichts« erfreut sich seit seinem Erscheinen 1826 bei Lesern einer beinahe durchgängigen Beliebtheit. Auch zahlreiche nachgeborene Schriftsteller haben sich lobend über Eichendorffs erzählerisches Meisterstück geäußert. Diese breitgestreute positive Resonanz (aus der eigentlich nur die Germanistik des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausschert, die mit Eichendorffs Prosa kaum etwas anzufangen weiß) deutet daraufhin, dass hier nicht nur ein populärer Ton getroffen wurde, sondern auch artistisch etwas Besonderes gelungen ist.

Eichendorff hat in seinem »Taugenichts« zahlreiche literarische Tendenzen und Moden seiner Zeit sowohl inhaltlich als auch formal einfließen lassen: Passagenweise liest sich der Text wie ein »modernes« Märchen, andere Passagen haben deutlich den Charakter eines Traumtextes:

In diesem Schlosse ging es mir wunderlich. Zuerst, wie ich mich in der weiten kühlen Vorhalle umschaue, klopft mir jemand mit dem Stocke auf die Schulter. Ich kehre mich schnell um, da steht ein großer Herr in Staatskleidern, ein breites Bandelier von Gold und Seide bis an die Hüften übergehängt, mit einem oben versilberten Stabe in der Hand, und einer außerordentlich langen gebogenen kurfürstlichen Nase im Gesicht, breit und prächtig wie ein aufgeblasener Puter, der mich fragt, was ich hier will. Ich war ganz verblüfft und konnte vor Schreck und Erstaunen nichts hervorbringen. Darauf kamen mehrere Bedienten die Treppe herauf- und heruntergerannt, die sagten gar nichts, sondern sahen mich nur von oben bis unten an. Sodann kam eine Kammerjungfer (wie ich nachher hörte) gerade auf mich los und sagte: ich wäre ein scharmanter Junge, und die gnädige Herrschaft ließe mich fragen, ob ich hier als Gärtnerbursche dienen wollte? – Ich griff nach der Weste; meine paar Groschen, weiß Gott, sie müssen beim Herumtanzen auf dem Wagen aus der Tasche gesprungen sein, waren weg, ich hatte nichts als mein Geigenspiel, für das mir überdies auch der Herr mit dem Stabe, wie er mir im Vorbeigehn sagte, nicht einen Heller geben wollte. Ich sagte daher in meiner Herzensangst zu der Kammerjungfer: »Ja«; noch immer die Augen von der Seite auf die unheimliche Gestalt gerichtet, die immerfort wie der Perpendikel einer Turmuhr in der Halle auf und ab wandelte, und eben wieder majestätisch und schauerlich aus dem Hintergrunde heraufgezogen kam.

Wieder andere – so etwa das Künstlerfest in Rom – tragen eindeutig den Charakter einer Gesellschaftssatire, während sich noch andere als Literaturparodien auf den Entwicklungsroman oder die Trivialromane des frühen 19. Jahrhunderts lesen lassen. Zugleich steckt der »Taugenichts« voller literarischer Anspielungen: Unfraglich ist der Held zugleich auch ein fahrender Minnesänger; er ist ein bürgerlich gewendeter Parsival, der reine Tor, der der Verführung durch Frau Venus widersteht. Er ist aber auch ein verkehrter Wilhelm Meister, dem der Gang durch die Welt gar nichts nützt und der am Ende unverwandelt von einer praktischen Frau ins bürgerliche Leben hinübergeführt wird.

Alle diese divergenten Elemente hat Eichendorff unter einer scheinbar harmlosen, wohlgefälligen und unanstößigen Geschichte vereint, ohne dass sie einander behindern oder stören. Alles scheint mit leichtester Hand gearbeitet, nichts wirkt gezwungen, nirgends merkt man dem Text die Mühe und Sorgfalt des Autors an. Sicherlich verführt diese glatt gearbeitete Oberfläche auch dazu, den Text zu unterschätzen; aber auch das mag der Absicht Eichendorffs durchaus entsprechen.

Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. Bilder von Hans Traxler. Hg. v. Hartwig Schultz. Stuttgart: Reclam, 2007. Bedrucktes Leinen, fadengeheftet, 149 Seiten. 16,90 €.

Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt

goethe_comicDiese zweibändige Comic-Biografie Goethes ist bereits 1999 zum 250. Geburtstag erschienen; heuer, anlässlich des 175. Todestages, sind die beiden Bände zu einer Sonderausgabe zusammengefasst worden – und natürlich bin ich mit meiner Rezension für beide Jubiläen eigentlich schon zu spät. Schadet aber nichts, denn so gut ist das Ding nicht, dass einer was verpasst hätte.

Autor beider Teile ist Friedemann Bedürftig, und danach sind sie auch geraten: Insgesamt eine oberflächliche und fehlerhafte Darstellung entlang vieler Klischees und unter Auslassung wichtiger Informationen:

  • Ist es wirklich nötig, den jungen Goethe 1774 »An Schwager Kronos« in der geglätteten Fassung von 1787 rezitieren zu lassen?
  • Warum ist das Weimarer Schloss, das am 6. Mai 1774 abgebrannt ist, bei Bedürftig »vor zwei Jahren« abgebrannt, als Goethe im November 1775 in Weimar eintrifft?
  • Warum erfahren wir an keiner Stelle, dass Frau von Stein verheiratet war?
  • Warum werden für eine Szene der Walpurgisnacht Verse aus der Hexenküche zitiert?
  • Warum erfahren wir nicht, dass 1828 Großherzog Karl August stirbt?
  • Warum wird uns suggeriert, die Beschwörung des Erdgeistes, die bereits 1775 fertig war, sei Goethe im Zusammenhang mit der Exhumierung von Schillers Leichnam 1827 in den Sinn gekommen?
  • Warum wird uns als Pars pro toto für Eckermanns Gespräche mit Goethe ausgerechnet ein belangloses Gefasel über Brillen angeboten, das so nicht einmal dem tatsächlichen Gespräch vom 5. April 1830 entspricht?
  • Und warum gibt das Goethe-Institut seinen Namen für einen solchen Kram her?

Magst Priester, Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.

Die Zeichnungen des ersten Bandes von Christoph Kirsch sind etwas bieder und pädagogisch, während der zweite Band mit Zeichnungen von Thomas von Kummant und der Kolorierung durch Benjamin von Eckartsberg deutlich an Kraft und Ausdruck gewinnt, nicht zuletzt dadurch, dass er im Gegensatz zu Band 1 handgelettert ist.

Ach ja, da fällt mir noch ein: Über das ganze Buch hinweg herrscht ein seltsamer Mischmasch von alter und neuer Rechtschreibung; da hätte man auch mal abschließend drüberschauen können.

Alles in allem also: Inhaltlich gänzlich belanglos, graphisch im zweiten Teil durchaus ansehnlich.

Friedemann Bedürftig / Christoph Kirsch / Thomas von Kummant / Benjamin von Eckartsberg: Goethe – Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt. Sonderausgabe in einem Band. Köln: Egmont, 2007. 109 Seiten. 14,– €.