Du fragst, ob Du mir meine Bücher schikken sollst? Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß mir sie vom Hals. Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret seyn, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst, ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Leiden des jungen Werthers
Kategorie: G
W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹
Zunächst war die sittliche Libertinage also eine Erfindung der Propaganda gegen heterodoxe Denker. Im 17. Jahrhundert untermauerten englische Sittenstrolche in der Tat ihre sexuellen Freizügigkeiten mit einer Verachtung herkömmlicher Religion, die sie als heuchlerisch und sinnenfeindlich anprangerten.
W. Daniel Wilson gibt gern das Enfant terrible der Goethe-Forschung. Im Jahr 1999 gelang ihm mit „Das Goethe-Tabu“ der erste größere Erfolg in dieser Rolle, als er nachwies, dass es sich bei Goethe – einem Mann der immerhin ein knappes Jahrzehnt Minister und den Großteil seines Lebens Geheimer Rat in einem deutschen Kleinstaat gewesen war – nicht um das Vorbild eines liberalen Demokraten gehandelt hatte, sondern um einen ziemlich konservativen, staatserhaltenden und restriktiven politischen Kleingeist, der vor der Zensur freiheitlichen Gedankengutes auch nicht einen Augenblick zurückschreckte. Die meisten Goethe-Kenner gähnten angesichts dieser tiefen Einsicht, die ihnen schon vor etwa hundert Jahren einmal irgendwo über den Weg gelaufen war, aber immerhin ließ sich dadurch eine Ikone der akademischen Goethe-Verkennung wie Katharina Mommsen zu Dummheiten im Goethe-Jahrbuch hinreißen. In London poppten die Sektkorken!
Seitdem liefert Wilson mit schöner Regelmäßigkeit weitere schockierende Erkenntnisse über Goethe: Der habe – wenn auch vielleicht nicht selbst homosexuell – über Homosexualität nicht nur Bescheid gewusst (wer mag es ihm verraten haben?), sondern diese Kenntnisse sogar hier und da in seinen Schriften aufscheinen lassen. Ei, der Doppeldaus!
Und heuer: Goethes Erotica! Nun wäre das Sexuelle bei Goethe durchaus ein reizvolles Thema, galt der Weimarer Meister doch zahlreichen seiner Zeitgenossen als zu freizügig und seine Schriften als nicht unbedingt geeignet, um in die Hände eines unverheirateten Mädchens – schon damals die bedeutendsten und dankbarsten Rezipienten deutscher Klassik – gelegt zu werden. Dazu müsste man sich etwa mit dem „Faust“ beschäftigen, in dem die Sexualität als Mittel zur Lebensfreude eine bedeutende Rolle spielt:
Faust.
Ich bin ihr nah’, und wär’ ich noch so fern,
Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren;
Ja, ich beneide schon den Leib des Herrn,
Wenn ihre Lippen ihn indeß berühren.Mephistopheles.
Gar wohl, mein Freund! Ich hab’ euch oft beneidet
Um’s Zwillingspaar, das unter Rosen weidet.Faust.
Entfliehe, Kuppler!Mephistopheles.
Schön! Ihr schimpft, und ich muß lachen.
Der Gott, der Bub’ und Mädchen schuf,
Erkannte gleich den edelsten Beruf,
Auch selbst Gelegenheit zu machen.
Nur fort, es ist ein großer Jammer!
Ihr sollt in eures Liebchens Kammer,
Nicht etwa in den Tod.
Im „Faust“ ist es immer wieder eher erstaunlich, was verlegerische und staatliche Zensur im Buch haben stehen lassen als die wenigen Zensurstriche, die dann doch erzwungen wurden.
Faust mit der jungen tanzend.
Einst hatt’ ich einen schönen Traum;
Da sah ich einen Apfelbaum,
Zwey schöne Aepfel glänzten dran,
Sie reizten mich, ich steig hinan.Die Schöne.
Der Aepfelchen begehrt ihr sehr
Und schon vom Paradiese her.
Wie freudig fühl’ ich mich bewegt,
Daß auch mein Garten solche trägt.Mephistopheles mit der Alten.
Einst hatt’ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum ,
Der hatt’ ein — — —;
So — es war, gefiel mir’s doch.Die Alte.
Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt’ er einen — — bereit,
Wenn er — — — nicht scheut.
Auch hier passierten die weiblichen Brüste (wieder biblisch verbrämt) unbehelligt die Zensur, doch das ,ungeheure Loch‘, das aus dem Reimwort ,doch‘ und der für den Versrhythmus erforderlichen Silbenzahl eventuell erraten werden konnte, ist dann zuviel. Zusätzlich wird auch das Adjektiv ,groß‘ in der darauffolgenden Zeile gestrichen, um das korrekte Verständnis noch weiter zu erschweren. (Wer wissen will, was die Zensurstriche der letzten Strophe verbergen, soll ruhig einmal eine Goethe-Ausgabe zur Hand nehmen oder zumindest googlen).
Noch interessanter aber scheint mir, dass nur wenige Verse später eine geni(t)ale Anspielung dem wachsamen Auge der Zensoren entgangen ist:
Mephistopheles […] zu Faust der aus dem Tanz getreten ist.
Was lässest du das schöne Mädchen fahren?
Das dir zum Tanz so lieblich sang.Faust.
Ach! mitten im Gesange sprang
Ein rothes Mäuschen ihr aus dem Munde.Mephistopheles.
Das ist was rechts! Das nimmt man nicht genau.
Genug die Maus war doch nicht grau.
Wer fragt darnach in einer Schäferstunde?
Auch im Zweiten Teil der Tragödie fanden sich entsprechend schlimme, die Zeitgenossen erregende Stellen, so etwa der von den Ärschlein der Faust in den Himmel entführenden Engel sexuell erregte Mephistopheles (erstaunlich, dass wenigstens einer der Leser der Erstausgabe überhaupt bis zu dieser Stelle vorgedrungen ist). Weit süffigere aber hatte Goethe so gut versteckt, dass sie nicht einmal von den Herausgebern bemerkt worden waren:
Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.
Auch das darf mit Fug ein Schäferstündchen heißen!
Dann könnte man etwa über jenen ehelichen Geschlechtsverkehr und doppelten Ehebruch nachdenken, den Goethe in „Die Wahlverwandtschaften“ mit einer für seine Zeit außerordentlichen Deutlichkeit schildert und der ihm viel Kritik aus den Kreisen ordentlicher Bürger einbrachte. Denn merke:
Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.
Um den erotischen oder sexuellen Anteil an Goethes Werken richtig einschätzen zu können, wäre allerdings einiges an Vorarbeit zu leisten: So wäre zu sichten, was es an erotischer und pornographischer Literatur im 18. Jahrhundert gab, wie sie reproduziert und gehandelt wurde, wer mit wem darüber wie kommuniziert hat, ob und wie sich die Grenzbezeichnungen ,Unsittliches‘, ,Erotisches (Erotica)‘ und ,Pornographie‘ im allgemeinen Gebrauch der Zeit voneinander unterschieden (anstatt wie Wilson im aktuellen Duden (!) nachzuschauen, wie der Pornographie definiert), wie unterschiedlich antike und neuzeitliche Erotica bewertet und behandelt wurden, wie mit offen unsittlichen Autoren wie Shakespeare verfahren wurde, welche überaus differenzierten Unterschiede die Zeitgenossen Goethes zwischen privater und öffentlicher Rezeption und zwischen privatem und öffentlichem Urteil machten usw. usf. Das alles ist ein sehr weites Feld, auf dem nicht nur literarhistorische, sondern auch wichtige soziologische und hygienische Erkenntnisse über das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zu heben wären.
Aber keine Sorge, Wilson macht nichts von alledem. Stattdessen konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei Gedichtzyklen Goethes nach antiken Vorbildern – die „Römischen Elegien“ und die „Venezianischen Epigramme“ – und deren Publikationsgeschichte; ganz am Ende kommt noch ein bisschen „West-östlicher Divan“ dazu, weil ihm wohl wer gesteckt hat, dass es auch da verborgene Sauereien gibt. Dabei konstruiert sich der Skandal in zwei Tatbeständen: Zum einen, dass beide Zyklen zu Goethes Lebzeiten (und auch später noch) nicht vollständig abgedruckt wurden, was Wilson gerne unter Zensur, nein, Entschuldigung: ,Zensur‘ bzw. ,Selbstzensur‘ verbucht haben möchte. Zum anderen, dass in den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ Stellen abgeschabt und ausradiert und später sogar ausgeschnitten wurden. Schauen wir uns die Teilskandale nacheinander an:
Schon bei der Niederschrift beider Gedichtzyklen war Goethe bewusst, dass an eine vollständige Veröffentlichung dieser Gedichte in ihrer ursprünglichen Form kaum zu denken war. Die „Römischen Elegien“ waren für Schillers Zeitschrift „Die Horen“ vorgesehen, eine Auswahl der „Venezianischen Epigramme“ für einen von Schiller herausgegebenen Musen-Almanach. In beiden Fällen nahm Schiller also seine Pflichten als Herausgeber wahr, las die Texte, besprach mit Goethe, was im Druck mitteilbar wäre, was man seiner Meinung nach streichen müsste bzw. welche der Epigramme für den Almanach überhaupt nicht in Frage kämen (das waren die explizit sexuellen und die antiklerikalen bzw. antichristlichen). Außerdem hatte Goethe die Elegien dem Herzog Karl August und Herdern vorgelesen, bei denen er damit rechnen konnte, dass sie die antikisierende Form goutieren und den dazu passenden Inhalt wie erwachsene Männer wahrnehmen konnten. Beide lobten die Gedichte, rieten von einer Veröffentlichung dennoch gänzlich ab, was Goethe aber nicht daran hinderte, die Elegien mit Ausnahme von vieren in den „Horen“ erscheinen zu lassen. Auf Schillers Vorschläge zur Einkürzung zweier Elegien reagierte er, in dem er diese komplett zurückzog; er wollte sie also lieber gar nicht als verstümmelt drucken lassen. Nichts von all dem ist skandalös, nichts hat mit Zensur oder Selbstzensur zu tun, ob nun in Anführungsstrichen oder nicht, sondern es stellt einen für fast alle Zeiten ganz normalen Publikationsprozess dar. Wilson dagegen möchte aus dem Vorgang um die Elegien eine große Enttäuschung Goethes konstruieren, die im Nachklapp fast noch zu einer Staatsaffäre geworden wäre, wenn man nur wüsste, ob und weshalb der Herzog ein späteres Gedicht Goethes im Geheimen Consilium hat besprechen lassen wollen. Doch: Dem Skandaliseur ist nix zu schwör: Mit Hilfe der Wörtchen ,wahrscheinlich‘, , sicherlich‘ und ,offenbar‘ (dies besonders gern an Stellen verwendet, an denen nun wirklich nichts, aber auch gar nichts offenbar ist) kann man immer einen Skandal dort erzeugen, wo nichts ist.
Beim zweiten Teilskandal handelt es sich um die Frage, wer für die Abschabungen bzw. das Ausschneiden aus den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ verantwortlich war. Hier ist hervorzuheben, dass sich Wilson wenigstens dafür stark macht, die Großherzogin Sophie vom Verdacht auszunehmen, aber ansonsten kann er auch hier nur ausführlich herumraten und vermuten, wer es nicht gewesen ist. Schließlich legt er sich im Ausschluss-Verfahren beim Abschaben auf Walther von Goethe und beim Ausschneiden auf Bernhard Suphan oder Carl August Hugo Burkhardt, ja, nun gerade nicht fest.
All das ließe sich auch auf 8 statt auf 180 Seiten sagen, macht aber dann kein rechtes Skandalon. Folgen noch einige gehaltlose Anwürfe gegen die Hamburger Ausgabe und ihren Herausgeber sowie ein wenig oberflächlich Angelesenes über den ,Libertin‘ (siehe oben das Motto über die „englischen Sittenstrolche“!) und ob Goethe einer war (eigentlich nicht, aber in einigen Zügen dann doch vielleicht eher oder auch naja soso). Um noch ein letztes Mal den Dichter selbst zu bemühen:
Getretner Quark
Wird breit, nicht stark.
—
Schlägst du ihn aber mit Gewalt
In feste Form, er nimmt Gestalt.
W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹. Hannover: Wehrhahn, 2015. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 256 Seiten. 19,80 €.
Allen Lesern ins Stammbuch (77)
Schon Goethe hatte das einflußreichste Beispiel gegeben, wie man ein deutscher Dichter sein kann und dennoch den äußerlichen Anstand zu bewahren vermag. In früheren Zeiten verachteten die deutschen Dichter alle konventionellen Formen, und der Name »deutscher Dichter« oder gar der Name »poetisches Genie« erlangte die unerfreulichste Bedeutung. Ein deutscher Dichter war ehemals ein Mensch, der einen abgeschabten, zerrissenen Rock trug, Kindtauf- und Hochzeitgedichte für einen Taler das Stück verfertigte, statt der guten Gesellschaft, die ihn abwies, desto bessere Getränke genoß, auch wohl des Abends betrunken in der Gosse lag, zärtlich geküßt von Lunas gefühlvollen Strahlen. Wenn sie alt geworden, pflegten diese Menschen noch tiefer in ihr Elend zu versinken, und es war freilich ein Elend ohne Sorge, oder dessen einzige Sorge darin besteht, wo man den meisten Schnaps für das wenigste Geld haben kann.
Heinrich Heine
Die romantische Schule
Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe
Nur werden bemerkenswerte Entdeckungen und lohnende Einsichten hier durch eine Fülle von Selbstverständlichem und Belanglosem erschwert.
Albrecht Schöne, der das nicht kleine Kunststück fertiggebracht hat, mit einer Faust-Ausgabe zu Feuilleton-Bekanntheit zu gelangen, legt ein neues Goethe-Buch vor. Für Schöne bin ich meinem Vorsatz untreu geworden, keine Goethe-Literatur mehr zu lesen, denn wenn es sich nicht gerade um eine germanistische, hoch spezialisierte Monographie handelt, liest man zu mindestens 80 % das, was man in den 50 Büchern zuvor auch schon gelesen hatte. Schöne allerdings hält, was ich von ihm erwartet habe, denn selbst dort, wo sein Buch langweilig ist, ist es das auf originelle Weise.
Schöne beschäftigt sich mit den Goetheschen Briefen mit einer extremen Pars-pro-toto-Methode: Er wählt aus den nahezu 15.000 bekannten Goethe-Briefen 9 (!) aus, zu denen er dann jeweils einen umfangreichen Kommentar liefert. Die ausgewählten Briefe umspannen das gesamte Leben Goethes: Es beginnt mit einem sehr formalen Aufnahmegesuch des pubertären Goethe in eine Gruppe adeliger Schöngeister und endet mit einem Brief an Wilhelm von Humboldt, den Goethe nur wenige Tage vor seinem Tod abgeschlossen hat.
Besonders die frühen Briefe werden sehr rhetorisch analysiert, was in der Hauptsache daran liegt, dass sie selbst nur wenig Inhalt mitbringen. Das ändert sich naturgemäß später, so dass auch die Kommentierung stärker auf die biographischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Schreiben eingehen kann. Das alles rettet Schöne aber auch in den späteren Briefen nicht davor, Inhalte schlicht noch einmal in eigenen Worten zu paraphrasieren oder den Gebrauch unterschiedlicher grammatikalischer Tempora ausführlich auf ihre Funktion hin zu untersuchen, die jeder nicht gänzlich taube Leser schon beim einfachen Lesen des Briefes wahrnimmt.
Andererseits liefert Schöne hoch interessantes biographisches Material, das man so nicht einfach anderswo wird finden können, so etwa am Beispiel des Briefes an Johann Friedrich Krafft vom 11. Dezember 1778, eines offenbar in Not geratenen Menschen, dem Goethe Lebensunterhalt und Sicherheit vor Verfolgung verschaffen will. Für mich war das Schmuckstück der letzte Brief an Humboldt, in dem es um poetologische und produktionsästhetische Fragen im Zusammenhang mit dem zweiten Teil des „Faust“ geht.
Ergänzt werden die neun Kommentare um drei „Exkurse“ betitelte Anhänge, die die deutschen und speziell Weimarischen Postverhältnisse, Goethes Gewohnheit, Briefe zu diktieren, und zuletzt die von Goethe verwendeten Anredepronomina behandeln. Auch hier spiegelt sich das 2:1-Verhältnis von interessantem Material zu eher langweiliger Stoffhuberei nahezu perfekt wider, das auch sonst im Buch vorherrscht.
Was der Leser nicht erwarten sollte, ist ein struktureller Überblick über die bekannten Briefe Goethes, eine allgemeine Charakteristik Goethes als Briefschreiber, eine einführende Beschreibung in die großen Briefwechsel (Schiller, Zelter, Carl August, Christiane) oder auch nur die Behandlung der wichtigsten Briefe Goethe, wie auch immer man würde herausfunden wollen, welche das sind. Was er erwarten darf, ist eine in weiten Teilen anregende und interessante Lektüre, wie sie für die populärere Goethe-Literatur außergewöhnlich ist.
Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe. München: C. H. Beck, 2015. Leinen, Lesebändchen, 539 Seiten. 29,95 €.
Aus gegebenem Anlass (XV) – Allein die Welt!
WAGNER. Verzeiht, es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen,
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.
FAUST. O ja, bis an die Sterne weit!
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Da ist’s denn wahrlich oft ein Jammer!
Man läuft euch bei dem ersten Blick davon.
Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer,
Und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion
Mit trefflichen pragmatischen Maximen,
Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen.
WAGNER. Allein die Welt! Des Menschen Herz und Geist!
Möcht jeglicher doch was davon erkennen.
FAUST. Ja, was man so erkennen heißt!
Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
Die wenigen, die was davon erkannt,
Die töricht g’nug ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt. –
Goethe
Faust
Jahresrückblick 2014
Traditionen entstehen nur durch stures Wiederholen, deshalb auch für das gerade vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren.
Die drei besten Lektüren des Jahres 2014:
- Isaak Babel: Mein Taubenschlag – war für mich mit Abstand die Entdeckung des vergangenen Jahres. Ein origineller, sprachlich intensiver und exakter Beobachter und Erzähler!
- William Faulkner: Schall und Wahn – es ist sehr fein, dass Rowohlt seine Reihe mit guten und sehr guten Faulkner-Übersetzungen fortsetzt. Dieses Buch lässt wohl am deutlichsten des Einfluss von Joyce auf Faulkner erkennen.
- Johannes Willms: Tugend und Terror – eine exzellente Gesamtdarstellung der Revolution mit dem Fokus auf die Ereignisse in den jeweils gesetzgebenden Versammlungen, die aber dennoch keinen wichtigen Aspekt der Revolution unbeachtet lässt.
Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2014:
- Arnold Zweig: Die Feuerpause – ein aus heutiger Sicht unnötiges Buch, das nichts Wesentliches zum Zyklus Der große Krieg der weißen Männer beiträgt und besser ungeschrieben geblieben wäre.
- Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität – ein selbstverliebtes Buch eines Möchtegern-Autors, in dem bis auf einen einzigen Witz eigentlich nichts passt.
- Hans Herbert Grimm: Schlump – ein ziemlich schreckliches Me-too-Buch zum Ersten Weltkrieg, das besser in der Versenkung geblieben wäre, in der es schon so erfolgreich verschwunden war.
Hans Herbert Grimm: Schlump
Da auf einmal kam ihn ein menschliches Rühren an. Es drängte ihn gewaltig dorthin, wo der Kaiser auch selber hingehen muß.
Diese „Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt »Schlump«“ sind 1928 zum ersten Mal erschienen und im Jubiläumsjahr des Beginns des 1. Weltkriegs mit einem überaus freundlichen Nachwort von Volker Weidermann, dessen „Buch der verbrannten Bücher“ sich diese Wiederentdeckung verdankt, neu gedruckt worden. Das Großföjetong hat mehrheitlich positiv auf das Buch reagiert, wahrscheinlich weil die Herren Rezensenten – wie ich mir zu vermuten erlaube – nicht das Buch, sondern nur das Nachwort gelesen haben.
Das Buch ist ziemlich schrecklich: Sein Stil ist der Hauptsatz, sein Humor der Herrenwitz und seine soziale Kompetenz beschränkt sich auf Mutterliebe und geschlechtlichen Verkehr. Kritik am Krieg übt es sicherlich auch noch, aber nicht mehr als man bequem in jedem anderen Anti-Kriegsroman der Zeit findet – und in denen nicht nur besser geschrieben, sondern eben auch mit einem belehrten sozialen und/oder politischen Hintergrund. „Schlump“ kommt über die Einsicht, dass Krieg eben eine üble Angelegenheit ist, bei der Menschen zu Tode kommen, kaum hinaus.
So bleibt nur eine literarhistorische Lektüre nach dem Motto: „Es ist schon interessant, was früher so alles gedruckt worden ist.“ Darüber hinaus hat das Büchlein denjenigen, die sich in der belletristischen Literatur zum Ersten Weltkrieg etwas auskennen, kaum etwas zu bieten.
Hans Herbert Grimm: Schlump. Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt »Schlump«. Von ihm selbst erzählt. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014. Pappband, Lesebändchen, 348 Seiten. 19,99 €.
Drei Liebesromane
Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.
Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Liebesgeschichte eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:
Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Leidenschaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.
Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.
Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)
Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.
Vladimir Nabokov: Lolita (1955)
Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“
Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)
Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegskameraden, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:
Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.
(geschrieben für dandelion)
Hans-Dieter Gelfert: William Shakespeare in seiner Zeit
Ihr hört, was der gelehrte Mann uns schreibt,
Und hier, so glaub’ ich, kommt der Doktor schon.
Der Kaufmann von Venedig
Ein weiteres Shakespeare-Buch, das kaum Originelles enthält: ein wenig Biographie (weil mehr schlicht nicht existiert), viel über die Kultur und Gesellschaft der elisabethanischen Zeit und ein Durchgang durch das Werk Shakespeares mit den üblichen Inhaltsangaben und ein wenig Interpretation. Da Gelfert emeritierter Anglist ist, fällt bei ihm die Darstellung der Literatur der Shakespeare-Zeit etwas ausführlicher aus als in vergleichbaren Veröffentlichungen. So gibt er ein ganzes Kapitel zum Sonetten-Kult, das er zudem mit Beispielen von Sir Philip Sidney, Samuel Daniel, Edmund Spenser und Michael Drayton illustriert. Es ist allerdings zu befürchten, dass er damit ebenso wie mit seinen eigenen Übersetzungen aus Shakespeares Sonetten, die immerhin 20 Seiten füllen, über die Köpfe seines eigentlichen Zielpublikums hinweg redet.
Inhaltsangaben und Interpretationsansätze bleiben alles in allem und ganz im Sinne einer Einführung schlicht, wobei sich Gelfert in der Hauptsache auf die Themenkomplexe Leidenschaft versus Vernunft sowie Ordnung und Autorität konzentriert. Zwischendurch werden immer wieder einmal die Figuren Shakespeares als ganz besonders natürlich und menschlich hervorgehoben – all das bleibt ganz im Rahmen dessen, was man gewöhnlich über Shakespeare sagt. Natürlich weiß Gelfert dies alles selbst und betont denn auch gleich zu Anfang, dass es nicht der Anspruch seines Buches sei, „neue biographische Erkenntnisse“ zu liefern oder „sich ins Getümmel der mit Theorie überfrachteten kritischen Auseinandersetzung mit Shakespeares Werken“ zu stürzen.
Wohl aufgrund dieser Vorbehalte gegen Theorie fallen zumindest die dramaturgischen Einsichten etwas dünn aus: Einzig die „Poetik“ des Aristoteles wird ansatzweise genutzt, wenn auch nur, um die für Shakespeare nicht sehr ergiebige Katharsis-Theorie heranzuziehen. Die für Shakespeares Dramaturgie viel wichtigere Standesklausel – nicht umsonst heißt George Lillos berühmte bürgerliche Tragödie von 1731 „The London Merchant“ – bleibt gänzlich unerwähnt, sein Ignorieren der Drei Einheiten wird wenigstens im letzten Teil zur Rezeption kurz angesprochen. Die in zahlreichen Stücken dynamisch ausgespielte Spannung zwischen den äußerlichen Formen Tragödie und Komödie bleibt unzureichend begriffen bzw. beschrieben. Hier wäre auch nur ein weniges mehr an Theorie sicherlich dem Verständnis des Besonderen in Shakespeares Stücken förderlich.
Wer sich einen ersten Eindruck vom Gesamtwerk Shakespeares verschaffen will und wen Phrasenhaftes wie
Am Unnachahmlichsten ist Shakespeare darin, dass es ihm gelingt, über die komische und manchmal ans Tragische grenzenden Handlungen ein Licht der Poesie zu gießen, das die disparaten Elemente der Stücke – Fürsten und Bauern, weise Narren und dumme Tölpel, die Guten und Bösen, Höfisches und Pastorales – zu einer bruchlosen Einheit verschmilzt. (S. 264)
nicht stört, ist mit dem Buch wahrscheinlich gut bedient. Wer sich auch nur halbwegs auskennt, wird in ihm kaum etwas Interessantes finden.
Hans-Dieter Gelfert: William Shakespeare in seiner Zeit. München: C.H. Beck, 2014. Pappband, Lesebändchen, 471 Seiten. 26,95 €.
Iwan Gontscharow: Oblomow
»Er war nicht dümmer als andere, und seine Seele war rein und klar wie Glas; er war großmütig, zartfühlend und ist zugrunde gegangen!«
„Oblomow“, 1859 nach zehnjähriger, immer wieder unterbrochener Arbeit erschienen, ist der einzige Roman Iwan Gontscharows, der in der europäischen Tradition Klassikerstatus erlangen konnte. Dass er nicht vergessen ist, liegt wohl in der Hauptsache an dem radikalen Charakter der Titelfigur und der beinahe modernen Liebesgeschichte, in die Gontscharow ihn verwickelt. Am Ende verdirbt der Autor das Buch ein wenig, als er seiner eigenen Radikalität misstraut und die Erzählung in ein sehr konventionelles, dem Publikumsgeschmack geschuldeten Ende rettet. Aber der Reihe nach:
Ilja Iljitsch Oblomow verschläft im Petersburg der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein ereignisarmes und untätiges Leben. Er ist Erbe eines Landgutes mit 300 Seelen, hat studiert und war auch einige Zeit in der Petersburger Verwaltung tätig. Doch seit dem Tod der Eltern lässt er sich gehen, überlässt sein Gut einem korrupten Verwalter, der ihm jedes Jahr unter immer neuen Ausreden immer weniger Geld schickt, und vertrödelt sein Leben. Er hat nur wenige Bekanntschaften, unter denen die zu Michej Andrejewitsch Tarantjew heraussticht, der Oblomows Trägheit und Gutmütigkeit ausnutzt, um ihn regelmäßig um kleinere Geldbeträge zu erleichtern. Der einzige wirkliche Freund, den Oblomow noch aus Kindheitstagen besitzt, ist Andrej Iwanowitsch Stolz, ein deutschstämmiger Russe, der mit seinem stets tätigen und erfolgreichen Wesen als idealisiertes Gegenbild zu Oblomow entworfen ist.
Der Roman setzt zu einem Zeitpunkt ein, als Oblomows Leben einer kleineren Krise ausgesetzt ist: Sein Wirt hat ihm die Wohnung gekündigt, und er müsste sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Und auch finanziell befindet er sich in einer etwas bedrängten Lage, da die Zahlung vom Gut auch in diesem Jahr wieder knapper ausgefallen ist als im Vorjahr. Stolz drängt Oblomow deshalb, sich auf sein Gut zu begeben und dort nach dem Rechten zu schauen, den Verwalter davon zu jagen und sich seiner Angelegenheiten selbst anzunehmen. Anschließend soll er Stolz nach Westeuropa nachreisen und sich dort Weltläufigkeit und Kultur aneignen.
Doch vorerst zieht Oblomow in die Sommerfrische vor die Tore Petersburgs, wo er durch Stolz mit Olga Sergejewna Iljinskaja und deren Tante bekannt gemacht wird. Nach Stolzens Abreise verbringen Olga und Oblomow viel Zeit miteinander und Oblomow weiß sich der Vorzüge der jungen Frau nicht anders zu erwehren, als sich in sie zu verlieben. Ungeschickt und naiv, wie er ist, plaudert er dieses Gefühl denn auch sogleich der Geliebten gegenüber aus, die sich, von diesem unkonventionellen Verehrer und seiner Empfindsamkeit überrumpelt, ebenfalls in ihn verliebt. Nach einigen idyllischen, wenn auch nicht unproblematischen Wochen auf dem Land kehren beide nach Petersburg zurück, wo sich der intensive Umgang der beiden nur aufrecht erhalten ließe, wenn sie sich auch offiziell verloben würden. Doch Oblomow zögert: Er misstraut seinem und ihrem Gefühl, fürchtet, dass sie sich künftig in einem anderen, attraktiveren Mann verlieben werde, kann sich auch nicht entschließen, endlich die Probleme auf seinem Gut selbst in die Hand zu nehmen etc. pp. Von Oblomows Zögern und Zweifeln enttäuscht, löst Olga die Verbindung zu ihm und Oblomow verfällt einer tiefen Depression.
An dieser Stelle müsste der Roman eigentlich zu Ende sein. Doch Gontscharow lässt den ersten drei Teilen des Romans noch einen vierten folgen, der den Stoff auf sehr konventionelle Weise zum Abschluss bringt: Stolz kehrt aus Westeuropa zurück, findet alles über die Liebe Olgas zu Oblomow heraus, heilt ihren Liebeskummer mittels vernünftigem Zureden, heiratet sie und rettet dann Oblomow aus den Fängen Tarantjews und eines Komplizen, die ihn beinahe komplett ruiniert haben. Schließlich wird Oblomows weiterhin träges, untätiges Leben bis zu seinem frühen Tod durch mehrere Schlaganfälle erzählt. Das alles ist nicht schlecht, aber so routiniert und gewöhnlich, wie man es auch in jedem anderen zweit- oder drittklassigen Roman des 19. Jahrhunderts finden kann. Die eigentliche Radikalität des Buches aber liegt in Gontscharows Kritik der romantischen Liebe zwischen Olga und Oblomow, die als Konzept ohne Ziel, als reines Gefühl ohne Lebenspraxis nur kurz in der Isolation der sommerlichen Zweisamkeit existieren kann, über die Länge der Zeit und unter den Anforderungen der Gesellschaft an das Paar aber zum Scheitern verurteilt ist.
Die Neuübersetzung von Vera Bischitzky scheint auch ohne Vergleich mit dem Original wesentlich detaillierter und differenzierter zu sein als etwa die von Clara Brauner aus den 1910er Jahren, die ich bislang kannte. Bischitzky verzichtet wohltuend auf jeglichen Versuch einer sprachlichen Modernisierung des Romans und ihre Anmerkungen beschränken sich auf das Wesentliche. Ein weiterer gelungener Band der Hanser-Klassiker.
Iwan Gontscharow: Oblomow. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 840 Seiten. 34,90 €.