Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

Nikolaj Gogol: Der Revisor

[…] eine der größten Komödien: Gogols ›Revisor‹.
Friedrich Dürrenmatt

Gogol_Revisor»Der Revisor« wird in der Kritik nahezu durchgehend als eine herausragende Komödie bewertet: Ob Kollegen (s. o.), ob Kritiker (etwa der unvermeidliche Marcel Reich-Ranicki), alle machen ihren Diener vor diesem Theaterstück. Das könnte den Zuschauer einer der immer noch zahlreichen Inszenierungen wundern, denn auf den ersten Blick enthält die Komödie wenig wirklich überraschendes und unterscheidet sich nur unwesentlich von der allgemeinen Durchschnittsware:

Die Handlung der Revisors ist ebensowenig der Rede wert wie die der übrigen Bücher Gogols. […] Darüber hinaus ist im Falle des Stücks die Anlage Gemeinbesitz aller Dramatiker: ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen. [Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol, S. 55]

Diese Handlung ist rasch erzählt: In einer russischen Provinzstadt ist die korrupte Exekutive beunruhigt über die mögliche Ankunft eines inkognito reisenden Revisors, dessen Ankunft dem Stadthauptmann durch einen vertraulichen Brief angezeigt wurde. Wie der Zufall es will, wird der sich auf der Durchreise befindliche kleine Beamte Iwan Alexandowitsch Chlestakow, der beim Kartenspiel all sein Geld verloren hat, irrtümlich für den angekündigten Revisor gehalten und daher von den Honoratioren der Stadt entsprechend hofiert. Er nimmt gern alle Gefälligkeiten und Bestechungsgelder an, verführt die Tochter des Stadthauptmanns und verschwindet gerade noch rechtzeitig, bevor als Paukenschlag am Ende des Stücks die Ankunft des tatsächlichen Revisors angekündigt wird.

Innerhalb dieses Rahmens gibt es das übliche Abhaspeln komischer Situationen: vom anfänglichen Aneinandervorbeireden über die zu erwartenden doppelbödigen Dialoge und Situationen bis zur abschließenden Auflösung des Irrtums. Seine außergewöhnliche Wirkung scheint das Stück aber auf drei Ebenen entfaltet zu haben: auf einer satirischen, einer parodistischen und einer dramaturgischen.

Von der ersten Aufführung an ist das Stück als eine Satire auf die Verhältnisse der russischen Provinz verstanden worden, auch wenn sich sein Autor immer wieder gegen diese Deutung ausgesprochen hat. Angesichts der durchgehend negativen Zeichnung der Honoratioren der Provinzstadt als dumme und korrupte Egoisten ist es kein kleines Wunder, dass das Stück überhaupt aufgeführt werden konnte und nicht der Zensur zum Opfer fiel. Da aber der Zar selbst sein Wohlgefallen an dem Stück bekundete, blieben es und sein Autor unbehelligt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass schon Mitte des 19. Jahrhunderts die menschliche Ebene des Stücks als stärker empfunden wurde als die politische.

Dieser Aspekt hat unmittelbar mit den parodistischen Tendenzen des Stücks zu tun: Gogols ursprüngliches Publikum war vertraut mit der bürgerlich Komödie des frühen 19. Jahrhunderts, für die nicht nur in Deutschland August von Kotzebue einer der herausragenden Vertreter war. »Der Revisor« erinnert sicher nicht zufällig an Kotzebues »Die deutschen Kleinbürger«, denen ein ähnlicher Verwechslungs-Plot zugrunde liegt. In Ermanglung einer Kenntnis dieser Vorlage bzw. Vorlagen geht der parodistische Gehalt des Stücks für die meisten heutigen Zuschauer natürlich verloren.

Bleibt der dramaturgische Gehalt des Stückes, der wohl dafür verantwortlich ist, dass das Stück heute noch von Theaterleuten und Schriftstellern geschätzt wird. Es ist schwer zu beurteilen, ob Gogols Wahl der Struktur des »Revisors« einer Inspiration oder schlicht mangelhafter Kenntnis der Tradition entsprungen ist, aber diese Unterscheidung ist unerheblich für die Position des Stückes in der historischen Entwicklung der Dramaturgie. Traditionell gehorcht die überwiegende Menge aller Dramen einem sehr abstrakten Grundmuster: Betrachtet man das Personal eines Stücks als Repräsentation einer Gesellschaft, so findet sich diese Bühnengesellschaft zu Anfang des Stückes in einem gestörten, disharmonischen Zustand: Zwei Familien, die miteinander seit langem verfeindet sind, eine Bevölkerung, die von einer nicht weichen wollenden Seuche bedroht ist, ein Königshaus, das durch den unerwarteten Tod des Königs und die rasche Wiederheirat der Königinwitwe seine Balance verloren hat etc. Die Handlung des Theaterstücks dient nun dazu, diese Störung wegzuspielen und am Ende einen neuen stabilen, im besten Fall harmonischen Zustand herzustellen.

Im Gegensatz dazu hinterlässt »Der Revisor« die Bühnengesellschaft in genau dem Zustand, in dem er sie zuerst vorgeführt hat: Die korrupten Honoratioren sehen sich unverändert der Bedrohung durch die Prüfung des allmächtigen Revisors ausgesetzt und sind keinen einzigen Schritt weiter und um einige hundert Rubel ärmer als zuvor. »Der Revisor« verweigert sich der Illusion des Fortschritts und der Auflösung der dramatischen Spannung. Gerade aus dieser Verweigerung gewinnt der Schluss der Komödie, auf den Gogol so stolz war, seine Kraft. Diese Struktur ist wegweisend für die Entwicklung des Dramas der Moderne.

Aus dramaturgischer Sicht ist daher Nabokovs oben zitierter Einschätzung zu widersprechen: »ein amüsantes Quidproquo bis zum letzten Tropfen auszuquetschen«, hätte bedeutet, den echten Revisor bereits in der Mitte des Stückes auftreten zu lassen und die sich daraus entwickelnden Verwerfungen, Verwicklungen und Vertauschungen durchzuspielen, um am Ende alles in einem Happy End aufzulösen, in dem der Betrüger sich als lange verlorener Sohn des Revisors erweist und die verführte Tochter des Stadthauptmanns heiratet, den Dorfrichter auf seiner Position ablöst und die ganze Familie glücklich und korrupt in die Zukunft blickt. Dass Gogol sich dem verweigert, bringt das Stück um viel Klamauk und schenkelklopfendes Gelächter, hat es aber zugleich leuchtend über die oben bereits angeführte Durchschnittsware der Zeit herausgehoben.

Nikolaj Gogol: Der Revisor. Aus dem Russischen von Bodo Zelinsky. RUB 837. Broschur, 188 Seiten. 5,– €.

Aus gegebenem Anlass (IV)

Kunstgriff 1. Die Erweiterung. Die Behauptung des Gegners über ihre natürliche Gränze hinausführen, sie möglichst allgemein deuten, in möglichst weitem Sinne nehmen und sie übertreiben; seine eigne dagegen in möglichst eingeschränktem Sinne, in möglichst enge Gränzen zusammenziehn: weil je allgemeiner eine Behauptung wird, desto mehreren Angriffen sie bloß steht.

Arthur Schopenhauer
Eristische Dialektik

Wieland in Oßmannstedt

978-3-937434-23-0Kleines Heft aus der Reihe »Menschen und Orte«, die ich bislang noch nicht kannte. Bekanntlich erwarb Christoph Martin Wieland 1797 ein Landgut in Oßmannstedt in der Nähe Weimars, um sich, ohne rechten Erfolg, als Landwirt zu versuchen. Das Haus ist, nachdem es zuletzt als Schule gedient hatte, von der Stiftung Weimarer Klassik zu Anfang des 21. Jahrhunderts endlich renoviert und die ehemals winzige Gedenkstätte (zwei Räume) erweitert worden, um den Begründer des Weimarischen Musenhofs an dieser Stelle angemessen präsentieren zu können. Der Ort ist natürlich allein deshalb wichtig, weil Wieland dort zusammen mit seiner Frau Dorothea und der »Seelentochter« Sophie Brentano in einem der schönst gelegenen deutschen Dichtergräber liegt.

Das nur 32 Seiten starke Heft enthält zahlreiche Abbildungen und Fotographien, und in der sie begleitenden, kenntnisreichen Biographie lassen sich auch vom Kenner noch nette Funde machen:

Mit Sorge betrachtete er [Wieland] die zunehmende Schwäche Dorotheas. Vierzehn Kinder hatte sie ihm geboren. „Es wären noch mehr geworden, wenn sich die Eheleute nicht zeitlebens gesiezt hätten“, hatte Goethes Freundin Charlotte von Stein gespottet.

Christoph Martin Wieland in Oßmannstedt. Text: Bernd Erhard Fischer. Photographien: Angelika Fischer. Berlin: Ed. A·B·Fischer, 2008. 32 Seiten, geheftet. 7,80 €.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

978-3-446-23634-9Ein Buch vom Sterben des Vaters. Arno Geiger erzählt von der Entwicklung der Demenzerkrankung seines Vaters und von seinem langsam Schwinden aus der Welt. Es ist zugleich eine berührende Liebeserklärung an den Vater, den Arno Geiger schon fast für sich verloren geglaubt hatte, zu dem aber aber durch die Krankheit einen Weg zurück findet. Was die Krankheit des Vaters den Sohn lehrt, ist Geduld zu haben und die Bereitschaft zu entwickeln, in der Welt des Vaters zu leben, da der nicht mehr in die des Sohnes wechseln kann. Der Schriftsteller lernt die aus der Demenz heraus entwickelte neue Sprache des Vaters schätzen, findet in ihr schließlich auch den ursprünglichen Charakter des Vaters wieder, den er schon verloren geglaubt hatte. Ja, es ist sogar so, dass die Familie, die sich schon weit auseinandergelebt hatte, aufgrund der Krankheit des Vaters wieder näher zusammenrückt.

Nebenbei fallen natürlich auch einige Betrachtungen über Krankheit und Tod im allgemeinen ab:

Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.

Oder:

In der Zeitung heißt es, dass Kakerlaken auf dem Bikini-Atoll Atombombentests überlebt haben und dass sie am Ende auch die Menschheit überleben werden. Schon wieder etwas, das mich überleben wird. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mich der Wein und die Mädchen überleben werden. Aber dass es Kakerlaken geben wird, die sich ihres Lebens erfreuen, während ich habe abtreten müssen, das schmerzt ein wenig.

Ein berührendes Buch, das die Vorwürfe, die ihm in einigen Feuilletons gemacht wurden, durchaus nicht verdient hat.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser, 2011. Pappband, 189 Seiten. 17,90 €.

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter

978-3-15-010807-9Eine gut lesbare Überblicksdarstellung zur Geschichte des Rittertums von seinen Anfängen bis zum Aufgehen des Standes in der Reichsritterschaft. Der Autor wertet sowohl literarische als auch historische Quellen im engeren Sinne aus, um jeweils Ideal und Wirklichkeit der einzelnen Entwicklungsphasen einander gegenüber zu stellen. Ergänzt wird der Text durch zahlreiche, gut ausgewählte Abbildungen. Ich hätte mir die Darstellung des literarischen Nachlebens des Motivs umfangreicher gewünscht, aber man kann nicht alles haben. Alles in allem zur ersten Orientierung ausgezeichnet geeignet!

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter. Stuttgart: Reclam, 2011. Pappband, 298 Seiten. 22,95 €.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Und da ich einmal so im Zuge war, habe ich gleich im Anschluss an Die Wahlverwandtschaften auch die Lehrjahre noch einmal gelesen. Nimmt man die beiden Meisterromane und die Vorstufe Wilhelm Meisters theatralische Sendung zusammen, handelt es sich bei diesem Romanprojekt nicht nur um das umfangreichste, sondern auch das, abgesehen vom Faust, die meiste Lebenszeit umfassende Werk Goethes.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Wilhelm Meister, der zu Anfang des Romans gerade in dem Alter ist, dass sein Vater ihn erstmals mit geschäftlichen Aufträgen in die Welt hinausschicken will. Wilhelm stammt aus einer Kaufmannsfamilie, zeigt aber wenig Neigung, selbst Kaufmann zu werden. Seine Neigung gehört in jedem Sinne dem Theater, denn nicht nur will er sich als Schauspieler und Theaterautor etablieren, er hat auch ein zärtliches Verhältnis zu Mariane, einer jungen Schauspielerin, die gerade am Ort gastiert. Den ersten Auftrag seine Vaters, für ihn auf Reisen zu gehen, will er nutzen, um mit seiner Geliebten durchzubrennen, doch sieht er eines Abends kurz vor seiner Abreise einen anderen Mann die Wohnung Marianes verlassen, wähnt sich betrogen und reist verbittert allein ab.

Wilhelm schließt sich bald einer wandernden Theatertruppe an, bei der er nicht nur erste Erfahrungen als Schauspieler macht, sondern durch die er nach einigen umständlichen Verwicklungen auch in den Kontakt zu einer locker gefügten Gesellschaft von Adeligen kommt, die seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägen soll. Die einzelnen Abenteuer, Liebesverhältnisse, verwickelten Verwandtschaften und Bekanntschaften nachzuerzählen, von denen sich der Autor vorstellt, dass sie seinen Protagonisten langsam aber sicher zu der den Roman beschließenden, wenn auch vorläufigen Klärung seiner Lebensverhältnisse führt, wäre ermüdend. Nach dem zu Goethes Zeit beliebten Muster des Geheimbund-Romans erweist es sich am Ende, dass Wilhelms Lebensweg von einer Gesellschaft vom Turm, die sich zugleich ironisch und esoterisch Formen der Freimaurerei bedient, seit Längerem beobachtet und in Grenzen auch gelenkt worden ist. Auch dass beinahe das gesamte Figurenensemble am Ende miteinander verwandt, verschwägert oder seit Jahren befreundet ist, entspricht weitgehend dem Zeitgeschmack.

Abgesehen davon ist das Buch motivisch und inhaltlich recht locker angelegt, eine Tendenz, die sich bekanntlich in den Wanderjahren noch verstärken wird, was natürlich auch der Arbeitsweise Goethes geschuldet ist, der diese Texte diktiert hat. (Ich habe mich bei der Lektüre mehr als einmal an das Diktum Arno Schmidts erinnert: »Bei Goethe ist der Roman keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste«. Das mag etwas zu scharf sein, stimmt aber in der Tendenz.) Trotz der zahlreichen Themen und Motive ist das Buch für den heutigen Leser von einer erstaunlichen Weltlosigkeit: Kaum ein Ort wird konkret beschrieben, kein Gebäude und kein Interieur nehmen wirklich Gestalt an, die meisten Figuren sprechen in ein und derselben Diktion, und nur hier und da gewinnt man einen deutlicheren Eindruck der fiktionalen Welt. Im Großen und Ganzen scheint die Handlung mehr Anlass für Reflexion und Dialog zu sein, als dass es Goethe tatsächlich auf das Erzählen ankommen würde. Auch diese Tendenz findet sich in den Wanderjahren wieder.

Das pädagogische Konzept und mithin das Menschenbild, das dem Roman zugrunde liegt, muss heute als hilflos idealisierend bezeichnet werden – ob das eine negative Aussage über Goethe oder über unsere Zeit ist, mag für hier und heute dahingestellt bleiben.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. RUB 7826. Stuttgart: Reclam, 1986. 661 Seiten. 11,60 €.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften

Wahrscheinlich der Text Goethes, den ich inzwischen neben dem ersten Teil des Faust am häufigsten gelesen habe, diesmal aus didaktischen Gründen. Das Buch vorstellen, geschweige denn rezensieren zu wollen, stellt angesichts der mehr als hundertjährigen Vernachlässigung und seiner anschließend erfolgten Ausschlachtung durch die Germanistik natürlich eine Verwegenheit dar. Ich habe daher einige Zeit überlegt, meine wiederholte Lektüre hier einfach stillschweigend zu übergehen und mich Unbesprochenerem zuzuwenden. Andererseits ist ja gerade hier der Ort, Lektüre von und Auseinandersetzung mit klassischen Texten zu dokumentieren. Versuchen wir es also:

Erzählt wird die Geschichte des adeligen Ehepaares Charlotte und Eduard, die erst nach der Verheiratung mit jeweils anderen Partnern dazu gekommen sind, sich mehr aus sentimentaler Erinnerung als aus Liebe miteinander zu verheiraten. Sie haben sich nach der Hochzeit aufs Land zurückgezogen, um dort in trauter Zweisamkeit ihrer Idylle zu leben. Gestört wird dies Verhältnis durch einen Jugendfreund Eduards, den Hauptmann Otto, der verarmt und arbeitslos für eine Weile auf dem Schloss des Ehepaars Zuflucht findet. Um der Asymmetrie der Verhältnisse aufzuhelfen, wird dann noch Charlottens Nichte und Pflegekind Ottilie hinzugegeben. Leider bricht nun über die Gesellschaft als eine Naturgewalt die Liebe herein: Eduard und Ottilie verlieben sich ebenso ineinander wie Charlotte und der Hauptmann; während jene ihrem Gefühl weitgehend ausgeliefert sind, üben diese eine strengere Zurückhaltung sich und dem anderen gegenüber. Das fatale Überkreuz-Verhältnis gipfelt in einer Liebesnacht der Ehepartner, in der beide an den jeweiligen Geliebten denken und aus der ein Kind hervorgeht, dass nicht den leiblichen Eltern, sondern den bei der Zeugung nur im Geiste anwesenden Geliebten ähnelt.

Nach dem, von den meisten Zeitgenossen als zutiefst anstößig empfundenen, doppelten geistigen Ehebruch hat Goethe einige Schwierigkeiten, das Tempo des Romans aufrecht zu erhalten. Eduard wird vom Erzähler vorerst fortgeschickt, zuerst auf ein kleines Gut, dann gleich in den Krieg, damit er in der Zeit der Schwangerschaft keine zu großen Dummheiten anstellen kann. Auch der Hauptmann, von dem nur eine geringere Gefahr ausgeht, wird durch eine passende Arbeitsstelle entfernt, und um die Zeit zu füllen, finden sich einige neue Kandidaten ein, die Ottiliens Reizen verfallen: ein junger, romantischer Architekt und ein etwas pedantischer, aber um so vernünftigerer Pädagoge, die aber natürlich bei Ottilie kein Glück haben. Nach so manchem weiteren retardierenden Moment wird das Kind endlich geboren, Eduard kehrt zurück und das Unglück kann endlich seinen Lauf nehmen: Gerade als Charlotte in eine Scheidung einzuwilligen bereit ist, erfüllt sich Ottiliens tragisches Schicksal. Aufgeregt und durch Eduard verwirrt und verspätet, fällt ihr das Kind der Eheleute in den Teich, wo es ertrinkt. Diese tragische Schuld bringt Ottilie zur sittlichen Reife; sie entsagt ihrer Liebe und dann auch gleich noch ihrem Leben und hungert sich zu Tode. Natürlich kann auch Eduard nun nicht mehr leben und folgt der Geliebten, die ganz nebenbei im Tode auch beinahe noch zur Heiligen wird, nach. Am Ende soll der Leser für die beiden nebeneinander aufgebahrten Liebenden auf ein glücklicheres Wiedersehen in einer besseren Welt hoffen. Hienieden war ihnen kein Glück beschieden.

Die Wahlverwandtschaften stehen mit am Anfang der langen Reihe von Eheromanen des 19. Jahrhunderts, in denen das Bürgertum die Spannungen zwischen dem seiner Kultur zentralen Gefühlskult und der traditionellen Form der Partnerschaft zum Ausdruck bringt. Wie in vielen späteren Fällen steht auch bei Goethe letztlich eine tragisch aufgefasste Frauengestalt im Zentrum der Erzählung, für die eine Lösung ihres Konflikts im Leben nicht gefunden werden kann und die deshalb beinahe zwangsläufig sterben muss. Dass Ottilie dabei nicht in einem tragischen Sinne scheitert, sondern von ihrem Autor wenn nicht zur Heiligen so doch zumindest zu einem Engel verklärt wird, muss der Leser als unvermeidliche Folge des Goetheschen Optimismus hinnehmen.

Der Roman ist deutlich dichter erzählt als die sonstige späte fiktionale Prosa Goethes. Die Distanz des Erzählers zu seinen Figuren ist beachtlich, wenn er auch Sympathien für die stark idealisierte Ottilie natürlich nicht ganz verbergen kann. Es ist daher nicht erstaunlich, dass viele Leser den Roman eher verstörend fanden und finden. Lässt man sich allerdings ein auf das zugrunde liegende Konzept der Spannung zwischen elementarer Liebeserfahrung und gesellschaftlicher Konvention, liefert das Buch weit mehr als einen Kommentar zur adeligen Gesellschaft der Zeit nach der Französischen Revolution. Wahrscheinlich handelt es sich um Goethes modernsten Roman überhaupt.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. RUB 7835. Stuttgart: Reclam, 2010. 282 Seiten. 5,60 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (39)

… denn gerade von diesen Leuten hört man die bittersten Klagen über den verworrenen Lauf der Welthändel, über die Seichtigkeit der Wissenschaften, über den Leichtsinn der Künstler, über die Leerheit der Dichter und was alles noch mehr ist. Sie bedenken am wenigsten, daß eben sie selbst und die Menge, die ihnen gleich ist, gerade das Buch nicht lesen würden, das geschrieben wäre, wie sie es fordern, daß ihnen die echte Dichtung fremd sei, und daß selbst ein gutes Kunstwerk nur durch Vorurteil ihren Beifall erlangen könne.

Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre