Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz

enzensberger-irrgarten Hans Magnus Enzensberger hat es mal wieder witzig gemeint und die Pointe nicht recht rübergebracht. Sein »Idiotenführer«, wie er das Büchlein selbst nennt, versucht eine Kritik der gerade wieder grassierenden Intelligenz-Hysterie, allerdings unterläuft sein Text die Latte einer ernsthaften Auseinandersetzung deutlich. Einzig originell ist sein Ansatz, die Intelligenz als »Tugend« der modernen Gesellschaft anzusprechen; allerdings folgt aus dieser Einordnung schlicht nichts, wie aus den meisten anderen gedanklichen Ansätzen des Bändchens auch. Das Ding ist sicherlich gut gemeint, aber das war es dann auch. Wie Tucholsky so richtig festgestellt hat:

Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.

gould-vermessen Wichtig ist das Büchlein einzig und allein, weil es wieder einmal an ein wirklich bedeutendes Buch zum Thema Intelligenzforschung und -messung erinnert, das aufgrund seines Alters droht, in Vergessenheit zu geraten: Stephen Jay Goulds Der falsch vermessene Mensch. Alles Relevante, was Enzensberger zu sagen hat, steht schon bei Gould, und es steht hier in einem sauberen, wissenschaftlichen Argumentationszusammenhang. Goulds Kritik der Intelligenz-Industrie zeigt stringent, dass völlig unklar ist, was Intelligenztests eigentlich messen bzw. dass das, was sie messen, wahrscheinlich nicht mehr ist, als die Fähigkeit des Geprüften, einen Intelligenztest auszufüllen. Zudem liefert seine Darstellung der mit dem Intelligenzbegriff verknüpften Vorurteile von Vererbung und rassischen Unterschieden, die diese Tests angeblich nachweisen, eine unverzichtbare soziologische Rahmung, die die Karriere des Konzepts Intelligenz erst begreiflich und zugleich inakzeptabel macht. Diesen Zusammenhang ignoriert Enzensberger nahezu komplett – obwohl er Goulds Buch benutzt und anführt –, so dass seine Kritik weitgehend beliebig bleibt.

Hans Magnus Enzensberger: Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer. edition suhrkamp 2532. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007. 59 Seiten. 7,– €.

Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 583. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988. 394 Seiten. 15,– €.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise

Sigrid Damms neues, nettes und weithin belangloses Lesebuch erzählt in dem weitgehend beliebigen Stil, der für Sigrid Damms Bücher inzwischen typisch geworden ist, Goethes letzte Lebensmonate. Den Rahmen bildet, abgesehen vom letzten Kapitel, das von Goethes Sterben berichtet, die letzte mehrtägige Abwesenheit Goethes von Weimar im August 1831. Um den Weimarer Feierlichkeiten zu seinem 82. Geburtstag zu entgehen, macht sich Goethe mit seinen beiden Enkeln Walther und Wolfgang auf die Reise ins nahegelegene Ilmenau, besucht die Jagdhütte auf dem Kickelhahn noch einmal, macht einige Ausflüge und kehrt am 31. August wieder nach Weimar zurück.

In diesen Rahmen passt Sigrid Damm zahlreiche Reflexion zu diversen anderen Themen und Zeiten in Goethes Leben ein: Seine Bemühungen um den Ilmenauer Bergbau, seine letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow, das Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh, der Tod seines Sohnes August in Rom, Goethes Glaube an das Fortbestehen des Geistes nach dem Tode, Gestaltung und Inhalt des zweiten Teils des Faust und Vulkanismus contra Neptunismus dürften die wichtigsten sein. Alles wird locker aneinander gereiht und ist mit dem Hauptthema des Buches – als das sich schließlich Goethes Tod, seine „letzte Reise“, erweisen wird – mehr oder weniger eng und sinnfällig verknüpft.

Das meiste gerät dabei zur Nacherzählung der gerade für den Text benutzten Quellen, wobei sich die Redundanzen im Vergleich zu Christiane und Goethe in Grenzen halten, aber auch nicht vermieden werden. Anderes wird einfach daherzitiert und erweckt weniger den Eindruck einer Erzählung als den eines ausgekippten Zettelkastens, so etwa die Geschichte Friedrich Augusts von Fritschs (S. 246 f.).

Die lockere Struktur mag jenen entgegenkommen, die ein eher empathisches als reflektives Verhältnis zu Goethes Werk und Leben pflegen. Nicht umsonst fallen Fragen wie „Stellt nicht diese Dichtung die höhere Wahrheit dar?“ (S. 200), selbstverständlich ohne eine Antwort zu erfahren; die hinweisende Geste verbindet all jene, die gleichen Geistes sind. An anderen Stellen spricht Damm davon, wie „berührt“ oder „angerührt“ sie ist, ohne dass der Text auch nur einen einzigen Schritt über die Emotion hinausgelangt. An einer Stelle bleibt Damms Lektüre der Quelle gar so oberflächlich, dass eine echte Pointe resultiert. Sie zitiert einen Brief Goethes an Amalie von Levetzow, die Mutter Ulrikes:

Dabey, hoff ich, wird sie nicht abläugnen, daß es eine hübsche Sache sey, geliebt zu werden, wenn auch der Freund manchmal unbequem fallen möchte.

Und nun folgen im typischen Damm-Stil einige Fragen, die die Interpretation nicht leiten, sondern ersetzen:

Und der Schluß des Satzes, worauf deutet er? Wohl nicht auf den Troubadour, der vor den Augen der Angebeteten auf den Knien liegt, sondern auf den alten Mann, der ausrutscht und sich nicht wieder aufzurichten vermag? (S. 207)

Damm liest die Wendung „unbequem fallen“ tatsächlich im Sinne von „stürzen“, nicht als „lästig fallen“, wie sie offensichtlich gemeint ist.

An wieder anderer Stelle wird vergessen, was nur wenige Seiten zuvor berichtet worden ist, so wenn auf S. 285 ein Brief des Enkels Wolfgang zitiert wird, der die geplante Rückreise nach Weimar über Schwarzburg und Rudolstadt ankündigt, und Enttäuschung der Enkel darüber vermutet wird, dass man nun doch den gleichen Weg zurück nehmen wird, den man gekommen ist. Auf Seite 317 wird dann spekuliert, dass man diesmal in Stadtilm ein „dem hohen Gast angemessenes Mittagsmahl“ vorgesetzt haben könnte:

Bei der Herfahrt hat man die Bestellung aufgegeben. Da die Gasthofrechnung nicht überliefert ist und auch Krauses Tagebuch keine Auskunft gibt, können wir es nur vermuten.

Ja, vermuten kann man vieles. Warum man allerdings ein Mittagsmahl bestellen soll, wenn man weder den Rückreisetag kennt noch plant, überhaupt auf der Rückfahrt wieder vorbeizukommen, können wir nicht einmal vermuten – nur Sigrid Damm könnte.

Insgesamt nur ein weiteres oberflächliches, unordentlich erzähltes Buch von Sigrid Damm. Inzwischen macht es keinen Unterschied mehr. Für diejenigen, die sich als Goethe-Freunde empfinden und jene, die von Goethe wenig wissen und sich einen ersten, flüchtigen Eindruck verschaffen wollen, sicherlich kein schlechtes Lesebuch. Für den ernsthaft an Goethe und seiner Zeit Interessierten gänzlich unerheblich.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise. Frankfurt/M: Insel Verlag, 2007. Pappband, 364 Seiten. 19,80 €.

Wolfgang Frühwald: Goethes Hochzeit

fruehwald Wolfgang Frühwald hat in der Insel Bücherei ein kleines Bändchen vorgelegt, dass sich um den Lebenskomplex Goethes zur Zeit seiner Hochzeit im Oktober 1806 dreht. Unmittelbar vorausgegangen war die Niederlage des preußischen Heeres bei Auerstedt und das Eindringen der marodierenden französischen Soldaten in Weimar. Dabei soll es, nach Darstellung der Zeitgenossen, zu einer kritischen Situation im Hause Goethes gekommen sein, die angeblich durch das todesmutige Dazwischentreten Christianes entschärft worden sein soll. Die Lage im Hause Goethe entspannte sich rasch, als sich hohe französische Offiziere einquartierten und damit weiteren Übergriffen ein Riegel vorgeschoben wurde.

Weiter in den Fliegenden Goethe-Blättern …

In eigener Sache: Fliegende Goethe-Blätter

Da mir derzeit wieder einmal allerhand über Goethe zufliegt, habe ich mich endlich aufgerafft, ein altes Projekt umzusetzen:

Die Fliegenden Goethe-Blätter erscheinen in unregelmäßigen Abständen. Sie enthalten höchst subjektive Überlegungen, Kritiken, Betrachtungen und Anmerkungen Ihres Verfassers.

Die Fliegenden Goethe-Blätter wollen nicht neutral, nicht ausgewogen, nicht politisch oder anderweitig korrekt sein, sie wollen nicht recht haben oder recht behalten. Sie wollen nicht darstellen, was man »auch sagen« könnte. Sie gehen von der Grunderfahrung aus, dass zu Goethe nicht nur alles bereits gesagt worden ist, sondern dass auch alles noch einmal gesagt werden wird – und dass es keine Dummheit gibt, die nicht irgendwann einen Dummen findet, der sie verteidigt.

Die Fliegenden Goethe-Blätter sind weder einer bestimmten Richtung der Goethe-Forschung, noch einer bestimmten Methode oder Theorie der Germanistik oder der Germanistik schlechthin verpflichtet. Auch anderen Theorien gegenüber verhalten sie sich nach Möglichkeit synkretistisch.

Goethe ist den Fliegenden Goethe-Blättern kein Objekt der Verehrung, weder Dichterfürst noch Übermensch, weder Zentrum deutscher Geistigkeit noch hölzerne Literaturscheuche. Goethe ist der Glücks- und Pechfall der deutschen Literatur, eitler Selbstbespiegler, der vor einem Fensterkreuz ohne Glas sich wendet und dennoch wohlgefällig sein eigen Abbild zur Kenntnis nimmt.

Alles weitere wird sich weisen müssen …

Zum Anfang habe ich die hier mit der Zeit zu Goethe entstandenen Sachen dorthin kopiert. Von nun an werden hierorts nur in einigen besonderen Fällen Hinweise auf Rezensionen aktueller Lektüre zu oder von Goethe zu finden sein; Notizen, Glossen, Gedanken zu Goethe und seinem Umfeld etc. werden nur am neuen Ort zu finden sein.

Goethe ist allemal Beckenbauer

Langsam wird es hier Zeit für eine Kategorie »Goethe in der modernen Welt«. Da schreibt Stefan Benz bei Echo Online, angeregt durch ein angebliches Zitat von Claus Peymann:

Goethe ist allemal der Beckenbauer der Schaubühne: schöne Strategien, ausgefeilte Spielzüge, aber wenn’s hart auf hart geht, zieht er doch lieber zurück. Da ist Shakespeare ganz anders, vorne ein deftiger Reißer und hinten ein blutiger Klopper. Wo der kickt, rollen Köpfe. Eisenfuß Brecht aus Peymanns Traditionsverein kommt nur noch selten auf Linksaußen zum Einsatz, nachdem er mehrfach Sponsoren aus der Wirtschaft beschimpft hat. In der Abwehr steht die antike Dreierkette Aischylos, Euripides und Sophokles wie festgemauert. Dahinter lauert Torwart Samuel Beckett und seine Abseitsfalle des Absurden. Molière sorgt im Mittelfeld für Spielwitz, Ibsen ist ein Dauerläufer, der dahin geht, wo’s weh tut, während Tschechow meist nicht vom Fleck kommt, aber wortreich darüber meckern kann, warum das Spiel so langweilig ist.

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Nachtrag 14.09.2007: In der Financial Times Deutschland macht sich Georg Blank zum Depp, indem er zwar Stefan Benz nachplappert, es aber auch nicht wirklich auf irgend einen Punkt bringt:

Zum Glück gab es ein paar Geistesgrößen, die noch immer hervorgekramt werden, wenn man den Intellekt der Deutschen belegen will. Auch wenn der Vergleich manchmal hinkt, wie Claus Peymann, Intendant der Ruhr-Triennale, eindrucksvoll belegt: „Schiller ist für mich der Gerd Müller unter den Autoren: Goethe ist besser, aber Müller schießt die Tore.“

Ist Goethe dann der Beckenbauer? Technisch versiert, sehr erfolgreich und noch lange nach seiner aktiven Zeit sehr populär? Für solche Fußball-Fragen ist in Deutschland der Innenminister zuständig. „Ich bin nicht der oberste Techniker der Nation, ich muss nur dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden“, sagte Wolfgang Schäuble (CDU). Er möchte nicht Sportlern, sondern Terroristen die Rote Karte zeigen und lieber Computer als Urin durchsuchen.

Goethes Stoßseufzer

faz.net meldet die Aktivitäten von »Goethes Stellvertreter auf Erden«, womit sie Hilmar Hoffmann meint, worauf man ja auch nicht so ohne weiteres käme, und spekuliert über dessen Innenleben:

Wahrscheinlich hat sich der frühere Goethe-Präsident Fausts Stoßseufzer zu Herzen genommen: „Ach Gott! Die Kunst ist lang! Und kurz ist unser Leben!“

Wahrscheinlich hätte sich Goethe hier Fausts Stoßseufzer zu Herzen genommen:

O! glücklich! wer noch hoffen kann
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen.
Was man nicht weiß das eben brauchte man,
Und was man weiß kann man nicht brauchen.

Brieffreundschaft

Philipp Mattheis präsentiert auf jetzt.de, einem Ableger von sueddeutsche.de, eine Liste von 33 Glaubenssätzen der 18-Jährigen:

Jedes Jahr veröffentlicht das Beloit College in Wisconsin, USA, die „Mindset List“ für Dozenten. Die Liste soll ihnen helfen, sich besser in die Welt der heute 18-Jährigen einzudenken und ihren Unterricht deren Gedankenwelt anzupassen. Viele der 1989 in den USA geborenen Schüler wissen einfach nicht, dass Deutschland einmal geteilt war und haben, dank elektrischer Fensterheber, noch nie ein Autofenster herunter gekurbelt. Typisch – blöde Amis, könnte man jetzt sagen. Aber wer der 1989 in Deutschland Geborenen weiß noch, dass „Twix“ mal „Raider“ hieß?

Um älteren Lesern die Welt der heute 18-Jährigen näher zu bringen, haben wir 33 Glaubenssätze zusammen gestellt.

Das allein wäre hier nicht weiter erwähnenswert, aber Glaubenssatz Nr. 25 ist literarischer Natur:

25. Der letzte Mensch, der eine „Brieffreundschaft“ hatte, war Goethe.

Unglaublich, dass die Kids angeblich noch wissen, was eine »Brief- freundschaft« ist; noch unglaublicher, dass sie den Namen Goethe in diesen Zusammenhang einordnen können.

            Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
»Versäumt nicht zu üben
Die Kräfte des Guten.

Hier winden sich Kronen
In ewiger Stille,
Die sollen mit Fülle
Die Tätigen lohnen!
Wir heißen euch hoffen.«

Horst Günther: Das Bücherlesebuch

buecherlesebuchDer Titel Bücherlesebuch ist etwas unspezifisch; im Mittelpunkt dieses Buchs steht der Gedanke, wie eine private Bibliothek aufzubauen wäre. Zwar werden auch öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken behandelt, auch dem Bibliographienwesen wird ein wenig Raum gewidmet, aber der Hauptteil des Buches besteht aus Empfehlungen zur europäischen Literatur, ergänzt um einige kurze Abschnitte zu Fachbereichen wie Philosophie, Geschichte, Jura, Naturwissenschaften, Kunst und einigen anderen. Sogar für ein Musikarchiv als Ergänzung der Bibliothek wird plädiert.

Die Stärke des Buches liegt in Günthers ganz subjektivem Ansatz, der um seine eigene Perspektive weiß, weder das deutliche Urteil scheut, noch glaubt, damit sei die Sache erledigt: »Man lege seiner Neugier keine Zügel an …« [S. 131], ist wahrscheinlich der Satz, der den Geist des Buches am besten zusammenfasst. Erfrischend ist es, etwa solche Einschätzungen zu lesen:

Was Thomas Mann betrifft, so nehme man einmal eine Seite aus dem Tod in Venedig und lege sie neben eine aus Goethes Wahlverwandtschaften und prüfe, wer schreiben kann. Er hat ja seine Verdienste, aber man lasse sich doch nicht einreden, daß ein Dokument des deutschen Zusammenbruchs wie der Doktor Faustus ein Meisterwerk sei. Er hat auf das Trauma mit einer opportunistischen Geschichtsdeutung reagiert, die dem gebildeten Philister ein Verhängnis mundgerecht vorlegt. [S. 102]

Das ist unfraglich ungerecht, aber eben von einer subjektiven Ungerechtigkeit, die aus einem Überblick heraus gewonnen ist und die Dinge in Relation zu setzen versteht. Solch klärende Subjektivität ist im Gespräch von Leser zu Leser – wohlgemerkt nicht unter Literaturwissenschaftlern, denn die sind einer höheren Objektivität verpflichtet, ohne sie in den meisten Fällen zu erreichen – meist nützlicher als abwägende Versuche, allem gerecht zu werden.

Kernstück ist eine sehr knapp gehaltene Geschichte der europäischen Literaturtradition beginnend beim Gilgamesch-Epos und endend im 20. Jahrhundert. Günthers Empfehlungen sind nicht überraschend und können sicher in ähnlicher Zusammenstellung an zahlreichen Stellen gefunden werden. Auch hier ist es der persönliche Zugriff Günthers, seine eigene Lesegeschichte, die das Buch aus der Masse heraushebt. Hier spricht – ich habe es schon gesagt – ein Leser zu Lesern, ohne Dünkel und auf gleicher Augenhöhe.

Günther behandelt sein breites Thema in kurzen, prägnanten Abschnitten, die es auch erlauben, im Buch zu blättern, kursorisch zu lesen, sich das eine anzueignen und das andere zu ignorieren. Eine kurzweilige und anregende Lektüre für alle leidenschaftlichen Leser und solche, die es erst noch werden wollen.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch. Vom Lesen, Leihen, Sammeln: von Büchern, die man schon hat, und solchen, die man endlich haben will. Wagenbach Taschenbuch 200. Berlin: Klaus Wagenbach, 1992. 166 Seiten. 8,50 €.

August von Goethe: Reisetagebücher

AvG-Berlin Im kleinen Goethejahr 2007 hat der Aufbau Verlag das Reisetagebuch der ersten großen Reise August von Goethes nach Potsdam, Berlin, Dessau, Torgau und Dresden veröffentlicht. Die Reise fand zwischen dem 4. Mai und dem 27. Juni 1819 statt. August von Goethe reiste zusammen mit seiner Gemahlin Ottilie, die auf der Reise in der Hauptsache gedachte, ihre Verwandten zu besuchen. Für August war die Reise vom Vater als kleine Bildungsreise gedacht, aber August sollte auch für den Vater die Augen und Ohren offen halten, fleißig Bericht erstatten und schließlich zahlreiche Kontakte pflegen, die der Vater persönlich nicht aufsuchen konnte oder wollte.

Besonders in Berlin werden Ottilie und August denn auch entsprechend behandelt: Neben den verwandten, die Ottilie täglich aufsucht, um mit ihnen Zeit zu verbringen, kommen die beiden zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach, werden bei Gelegenheit eines Festes beim Fürsten Radziwill sogar dem König vorgestellt und allseits liebenswürdig und äußerst erfreut aufgenommen. Man redet viel mit ihnen über den Vater. In der übrigen Zeit erledigt August ein umfangreiches Besichtigungsprogramm, schreibt Berichte nach Weimar, die er aus dem regelmäßig geführten Tagebuch extrahiert. Des öfteren verweist er darauf, dass er später mündlich genaueren Bericht zu geben gedenkt; auch hierfür sollte das Tagebuch als Gedächtnisstütze dienen.

Besonders im letzten Abschnitt der Reise verändert sich deren Charakter: Dresden besucht man hauptsächlich mit touristischen Ambitionen. Hier sind keine Visiten zu erledigen und August und Ottilie unternehmen die meisten Besichtigungen und Ausflüge gemeinsam, so auch einen dreitägigen Ausflug in die Sächsischen Schweiz, den man in Begleitung mehrerer Reisebekanntschaften genießt. Gerade für Dresden empfiehlt der Vater denn auch ausdrücklich, sich Zeit zu nehmen, da dort »die Kunstwerke aller Art […] näher beysammen stehen als irgendwo und auf einem echten Grund und Boden«. Er erwirkt daher dem Sohn auch eine Verlängerung seines Urlaubs um acht Tage.

Die Herausgeberin Gabriele Radecke, die sich um August von Goethe schon mit der Mitherausgeberschaft des Italien-Tagebuchs und dem Neudruck von Wilhelm Bodes »Goethes Sohn« verdient gemacht hat, vereint in dem vorliegenden Band das eigentlich Tagebuch mit den Briefen Augusts an Goethe. Hinzukommen Briefe des Vaters an August, zahlreiche weitere Briefe von und an Ottilie von Goethe sowie einige wenige Schreiben von Reisebekanntschaften, die sich im Anschluss direkt an Johann Wolfgang von Goethe wenden. All dies ist so gut es geht in eine chronologische Ordnung gebracht. Zwar ergeben sich dadurch notwendig Doppelungen des Berichteten, was aber – da die Briefe zumeist eine geraffte Fassung des Tagebuchtextes liefern – nicht wirklich stört. Alle Texte sind nach den Handschriften ediert, wobei man nur dort behutsam in die Texte eingegriffen hat, wo es dem Leser beim Verständnis der Lektüre hilft. Der Band ist ausführlich und – wie immer bei Gabriele Radecke – kompetent kommentiert. Es ist auf jeden Fall zu empfehlen, die Anmerkungen parallel zum Text zu verfolgen.

Durch das breit gewählte Umfeld an Briefen von Bekannten und Verwandten gewinnt das Buch deutlich, denn gerade in die Zeit der Reise des jungen Ehepaars fällt die Finanzkrise der Familie Johanna Schopenhauers, die durch den Konkurs des Danziger Bankhauses Muhl mit dem Verlust eines Großteils ihres Vermögens bedroht ist. Adele von Schopenhauer und Ottilie von Goethe sind langjährige, innigste Freundinnen, und so erfahren wir aus Adeles überschwänglichen Briefen von der Aufregung und den immer wieder wechselnden Reiseplänen der Schopenhauers, die sich am Ende doch entschließen, nach Danzig zu fahren.

Insgesamt bietet das Buch einen lebendigen und facettenreichen Ausschnitt der Goethezeit. Man muss der Herausgeberin sicherlich nicht folgen, wenn sie bereits in den berichten und Briefen von dieser Reise die spätere Zerrüttung der Ehe der jungen Goethes wahrnehmen will. Auch erscheint mir der andeutungsweise Versuch, Ottilie aufgrund ihres während der Reise chronischen Hustens in einer Art Opferrolle zu sehen, ein wenig überspannt. Aber das geschieht aus der Rückschau vom Ende dieser Ehe her natürlich leicht. Im Großen und Ganzen erscheinen Ottilie und August im Jahr 1819 noch als ein weitgehend »normales« bürgerliches Ehepaar; sicherlich keine Ehe, die im Himmel gestiftet wurde, aber auch keine, die geeignet scheint, mehr als das alltägliche Maß an Unglück hervorzubringen.

Eine angenehme und für denjenigen, der am frühen 19. Jahrhundert ein literarisches oder historisches Interesse hat, gewinnbringende Lektüre. Für Goethe-Kenner und solche, die es werden wollen, ohnehin ein Muss. Der einzige Wermutstropfen ist, dass hier einmal mehr Überlegungen der Verkaufbarkeit über die Ansprüche an Qualität gesiegt haben: Ein solches Buch, von dem zu erwarten ist, dass es für lange Zeit die einzige Ausgabe bleibt, hat einen Leineneinband und Fadenheftung verdient, auch wenn das den Verkaufspreis steigern sollte.

August von Goethe: »Wir waren sehr heiter«. Reisetagebuch 1819. Hg. v. Gabriele Radecke. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, Lese- bändchen, 334 Seiten. 24,95 €.

sternchen

AvG-Italien Das für die Einschätzung der Person August von Goethes sicherlich wichtigere zweite Tagebuch der Reise nach Italien erschien bereits im letzten großen Goethejahr 1999. Es ist umfangreicher und zugleich konzentrierter, da August von dieser Reise seine Tagebuchblätter direkt nach Weimar schickt und nicht zusätzlich darauf fußende Briefe verfasst. Auch hier hat August von Goethe eine Vorstufe in Form von Notizen auf einzelne Blättern geschrieben, was aber nichts daran ändert, dass in diesem Fall die Tagebuchtexte weitgehend für sich allein stehen.

Diese Reise begann am 22. April 1830 und endete bekanntlich mit dem Tod August von Goethes an einem Schlaganfall in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober desselben Jahres in Rom. Diesmal reist August unter deutlich anderen Vorzeichen: Er befindet sich sowohl privat als auch gesundheitlich in einer schweren Krise. Seine Ehe ist offenbar zerrüttet, seine Gesundheit seit längerer Zeit angegriffen. Der Aufbruch aus Weimar kommt einer Flucht gleich: Eigentlich wollten Johann Peter Eckermann und August von Goethe erst am 1. Mai aufbrechen, aber August hällt die Anspannung in Weimar nicht länger aus und drängt Eckermann kurzentschlossen zum verfrühten Aufbruch: »Leben Sie alle wohl ich kann nicht mehr.« (AvG an die Familie Gille am 21. April 1830.) Es ist schwer einzuschätzen, inwieweit August von Goethe seinen gesundheitlichen Zustand hypochondrisch übertreibt, aber er schreibt am 13. Mai aus Mailand in seinem ersten Brief an seine Gattin:

Ich bin nun 150 Meilen weit von Dir entfernt und will Dir doch auch ein vertrauliches Wort zukommen lassen, welches Dir meinen Zustand klar machen soll. Ich ging wirklich so krank aus Weimar daß ich nicht glaubte Frankfurth lebendig zu erreichen, durch die Anstrengung in den letzten 8 Tagen hatten sich alle eine Uebel so gesteigert, daß ich in einem verzweiflungsvollen Zustand den Postwagen bestieg, wie es aber Gott immer mit dem Menschen gut meint so schickte er mir auch hier einen Trost: es war ein gewisser Docter Wapritz Regiments-Arzt beim 1t Garde Regiment in Berlin, welcher nach Paris reißte, ein sehr gebildeter und zugl. lustiger Mann. Ich dachte wenn dir also etwas zustößt so hast du doch ärztliche Hülfe und das gab mir neuen Muth. Bis Frankfurth kam ich also obgleich sehr angegriffen und ohne kaum etwas genossen zu haben denn sogar das Kauen wurde mir beinahe unmöglich schlucken konnte ich auch kaum. Meine Füße waren mir an den Fußsohlen so wund geworden daß ich kaum von der Post in den Gasthoff forthinken konnte und so mußte ich denn in Frankfurth 4 Tage liegen bleiben.

Zumindest subjektiv empfand sich August also zu diesem Zeitpunkt als todkrank. Italien aber lässt ihn aufleben: »alle Systeme kommen ins Gleichgewicht und ich habe die bischen Hoffnung ohne Arzney ganz hergestellt zu werden«. Dies sollte sich letztlich als Trug erweisen.

Auch in Italien ist August im Auftrag des Vaters unterwegs. Das Tagebuch ist direkt an ihn gerichtet und auf die Reiseroute hat Johann Wolfgang von Goethe starken Einfluss genommen. Aber auch so ist sich August in jedem Moment klar, dass er in Stellvertretung reist: Er stellt seine Zeit und seine Wahrnehmung in den Dienst des Vaters und statt in Italien das zu tun, was für ihn am Dringlichsten wäre – sich zu erholen und Abstand zu seiner privaten Misere zu finden –, arbeitet er sich am Auftrag seines Vaters ab.

Und so wie er bis an den Fuß des Vesuv den väterlichen Signalen folgt, zielt auch eine seiner Hauptbeschäftigungen, der Erwerb von Münzen, Medaillen und anderen Kunstgegenständen. auf den kontinuierlichen Ausbau des Bestands der väterlichen Sammlungen. Noch in der Ferne ist August Kustos und Agent des Sammlers und der Seinigen. [Aus dem Nachwort der Hg., S. 286.]

Nicht zuletzt ist es auch sein Alkoholismus, der ihm keine Chance gelassen hat: August lehrte täglich mehrere Flaschen Wein, ein Getränk, an das er bereits von früh an gewöhnt war. August Kestner – der Sohn Charlotte Buffs –, der August von Goethe in seinen letzten Tagen ein Freund war und auch die traurige Pflicht auf sich nahm, den Vater in Weimar zu verständigen und für die Beisetzung auf dem Fremdenfriedhof bei der Pyramide des Cestius Sorge zu tragen, berichtet von Augusts auffallender Trunksucht, ohne dass der davon wirklich trunken geworden wäre. Die Autopsie August von Goethes ergab jedenfalls eine krankhaft vergrößerte Leber und krankhafte Veränderungen des Gehirns, so dass das Urteil der Ärzte lautete, August hätte ohnehin nur noch kurze Zeit zu leben gehabt.

Gerade angesichts der italienische Reise darf man vielleicht die Frage stellen, wie man einem solchen Menschen gerecht werden könnte, außer vielleicht dadurch, dass man zwar seine Existenz zur Kenntnis nähme, ihn aber ansonsten in Ruhe ließe, wie das ja auch bei den Kindern anderer Berühmtheiten hier und da gelingt. Es ist leicht zu urteilen, August von Goethe habe ein verfehltes Leben gehabt; viel schwieriger aber ist es anzugeben, wohin dieses Leben denn hätte zielen sollen, um nicht zu verfehlen, und ob eine solch ganz andere Richtung unter den gegebenen Bedingungen denn überhaupt einzuschlagen gewesen wäre. August von Goethe jedenfalls ist es nicht gelungen, an dem Platz, auf den er gestellt wurde, zu sich selbst zu finden – mag sein, es hat letztlich nur die Zeit dazu gefehlt, mag auch sein, die übermächtige Vaterfigur (die gerade in diesem Fall nicht mit der Privatperson Goethe verwechselt werden sollte) hat dazu keine Chance gelassen. August von Goethe bleibt jedenfalls auch heute noch ein offen am Tage liegendes Rätsel, dem alles Geheimnisvolle zu fehlen scheint.

Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott! Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er sie am nötigsten braucht? Und wenn er in Freude sich aufschwingt oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewußtsein wieder zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?

Auch dieses Buch ist nach den Handschriften gedruckt. Auf den ersten Blick scheinen die glättenden Eingriffe in den Text geringer zu sein, was aber auch daran liegen kann, dass sich Augusts legasthenische Neigungen mit den Jahren und der Alkoholkrankheit verschlimmert haben. Der Anmerkungsteil ist hier sparsamer gehalten, genügt aber wohl den Ansprüchen der meisten Leser.

August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830. Hg. v. Andreas Beyer und Gabriele Radecke. München: Hanser, 1999. Leinen, Fadenheftung, 335 Seiten. 23,50 €.