Wilhelm Bode: Goethes Sohn

bode-AvG Auf meinem Schreibtisch liegt gerade der Band August von Goethe: »Wir waren sehr heiter«. Reisetagebuch 1819, zu dem hier in Kürze eine Rezension zu lesen sein wird. Das Buch ist herausgegeben von Gabriele Radecke, was mich daran erinnerte, dass ich im Jahr 2002 – also lange vor Beginn dieses Blogs – die ebenfalls von ihr herausgegebene Biographie August von Goethes aus der Feder Wilhelm Bodes gelesen und für die Goethe-Mailingliste rezensiert hatte. Ich erlaube mir, diesen Text überarbeitet und gekürzt hier noch einmal herzusetzen.

Wilhelm Bode (1862-1922) war wahrscheinlich der populärste Goethe-Forscher der vorletzten Jahrhundertwende. Immer dankbar wird die Forschung ihm für die drei Bände Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen 1749-1832 sein. Zuletzt wurde diese wichtige Sammlung im Goethejahr 1999 aufgelegt, aber auch diese Neuauflage ist inzwischen nurmehr antiquarisch zu bekommen; sehr schade. Bode hat überraschend wieder einigermaßen Konjunktur; so erschien ebenfalls im Goethejahr 1999 eine Neuauflage von »Goethes Liebesleben«, und schließlich die vorliegende Biographie Augusts von Goethes aus dem Jahr 1918, die sich zurecht dessen erste wirkliche Biographie nennt.

Es bleibt allerdings rätselhaft, warum sich der Aufbau Verlag dazu entschlossen hat, dieses Buch neu zu drucken. Es ist in weiten Teilen überholt, im Stil oft schwülstig und im Umgang mit dem Verbiographierten zum Teil unerträglich gönnerhaft. Zu seinem Vorteil muß gesagt werden, dass Bode an zwei Stellen umfangreiche Originalquellen von Augusts Hand zitiert, die sehr reizvoll zu lesen sind.

Den sachlichen Mängeln hat man versucht dadurch aufzuhelfen, dass man dem Buch einen umfangreichen Anhang beigegeben hat. Darin finden sich nicht nur dankenswerter Weise die Nachweise der Zitate – eine Seltenheit in der Goetheliteratur, die in weiten Teilen nur Daten gibt – und ein Personenverzeichnis mit kurzen einordnenden Kommentaren, sondern auch ein fast 40 Seiten starker Einzelstellen-Kommentar, der die Fehler und Ungenauigkeiten Bodes bereinigt. Allerdings fördert dies nicht gerade den Lesegenuss, da man gezwungen wird, stets vorn und hinten im Buch gleichzeitig zu lesen. Dieser Anhang hat der Herausgeberin viel Arbeit gemacht, aber es bleibt unverständlich, warum sie ihre unbestrittene Sachkenntnis nicht besser dazu genutzt hat, eine eigene Biographie August von Goethes vorzulegen, die dem Forschungsstand entspricht, statt dass ein Buch wieder in Verkehr gebracht wird, das höchstens noch historisch-dokumentarischen Wert hat.

Wilhelm Bode: Goethes Sohn. Aufbau Taschenbuch 1829. Berlin, 2002. 488 Seiten. 12,– €.

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Vorzuziehen ist als Biographie immer noch das Buch von Werner Völker: Der Sohn August von Goethe (Frankfurt/M. u. Leipzig: Insel, 1992), das aber auch nur antiquarisch greifbar ist. Völker hat eine deutlich angenehmere Diktion, versucht, auf gleiche Augenhöhe mit August zu kommen, und ist in den Details deutlich zuverlässiger als der unkorrigierte Bode.

Ergänzend zu den Biographien sollte in jedem Fall hinzutreten: August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830 (Hg. Andreas Beyer u. Gabriele Radecke. München: Hanser, 1999). Es handelt sich um das von Goethe bei seinem Sohn in Auftrag gegebene Reisetagebuch von dessen Italienreise, von der er bekanntlich nicht zurückgekehrt ist, ergänzt um die Briefe Augusts nach Weimar aus derselben Zeit. All dies wird hier zum ersten Mal nach den Handschriften gedruckt, was dem Leser einen sehr unmittelbaren Eindruck gibt. Mehr dazu in der bald folgenden Rezension des Reisetagebuchs von 1819.

Zwei Hohlköpfe

Wie sich Schiller und Goethe doch einmal nützlich machen:

Zwei  Hohlköpfe
(Originalhöhe der Büsten ca. 8 cm)

Unter dem Motto »Schiller & Goethe zerstreut« vertreibt inkognito diese beiden Hohlköpfe, die von unten befüllt werden können. Danach liefert Schiller durch drei Löcher in seinem Kopf das erdverbundene Salz, während Goethe durch nur zwei Löcher der ganzen Sache Pfeffer gibt. Welch passende Allegorie auf … ja, auf was eigentlich?

Von der Höhe der Alpen (13)

Fernsicht

Tritt ruhmbekrönten Größen nicht zu nah!
Sie sind den Alpen gleich, die vor uns stehn,
Am schönsten, größten, wenn von fern gesehn,
Im blauen Duft, in ihrem fernen Ruhme!
Der Formen Schönheit, die dich fern entzückt,
Löst sich in rauhe Massen, wirr zerstückt,
Wenn forschend du genaht dem Heiligthume;
Der Duftschmelz wird Gestein, das wund dich ritzt,
Und wird Gedörn, das Rock und Ferse schlitzt.
Das Auge des Geweihten nur erspäht
In dunkler Kluft die schöne Alpenblume;
Nur wer der Geister Liebling, den umweht,
Entschleiernd sich, des Berggeists Majestät.

Anastasius Grün

Torquato Quatscho

goethe.jpgIch gehe nicht mehr oft ins Theater. So mehr als zwei oder drei Mal im Jahr sind es nicht. Zumeist gehe ich in Stücke, die ich gut kenne, von Autoren, die ich gut kenne. Deshalb gehe ich wahrscheinlich so selten ins Theater.

Heute war ich in »Torquato Tasso« in Recklinghausen; ich mag nicht sagen, in Goethes »Torquato Tasso«, denn dass die Schaupieler Text von Goethe sprachen, erschien mehr als Zufall. Eine ¾ Stunde bin ich geblieben, dann war es genug – ich wusste ja, wie das Stück ausgeht.

Goethe hat zwischen 1780 und 1789 langsam und gründlich einen ruhigen und diffizilen Text geschrieben, ihn sorgfältig immer wieder erwogen, sich am Ende große Mühe gemacht mit drei noch zu schreibenden Szenen, die nicht und nicht geraten wollten. Das Stück hat ihm am Herzen gelegen. Er selbst hat nicht geglaubt, dass es für die Bühne sei – und er verstand etwas von der Bühne, wenigstens der seiner Zeit, denn er war lange Zeit Intendant. Als ihn die Weimarer Schauspieler schließlich damit überrumpelten, dass sie die Rollen einfach schon gelernt hatten, hat er doch noch eingewilligt, aber eine Streichfassung erstellt, die dann schließlich gespielt werden durfte. Dass es gut sei, das Stück zu spielen, hat er dennoch nicht geglaubt. Und dabei kannte er nicht ’mal das moderne Regietheater.

Da sind zum Beispiel Torquato und Antonio: Bei Goethe sind sie zwei Planeten, die um die Sonne Herzog Alfons II. d’Este kreisen. Sie bewegen sich auf derselben Umlaufbahn in derselben Geschwindigkeit – nur eben auf entgegengesetzten Seiten, und so ist es am Ende auch gar kein Wunder, dass es gerade Antonio ist, der von Torquato nicht lassen will. Torquato, immer angespannt, jeder eigenen und fremden Emotion nachlauschend, spontan und zum Überschwang neigend, ist ein Klischee der Goethezeit: ein Genie. Antonio ist ganz der klassische Hofmann – ein weiteres Klischee, das für die meisten Leser der Goethezeit ausreichte, um ihn zur negativen Gegenfigur zu machen –, immer kontrolliert und misstrauisch, immer rational abwägend und vorsichtig bis zum Zynismus, den Menschen dort eher abgeneigt, wo Torquato sich ihnen zuneigt.

Auch in der Inszenierung von Frank Hoffmann ist der Figur Antonios ein Klischee eingeschrieben. Natürlich nicht mehr das Klischee des Hofmanns – denn wer unter den heutigen Zuschauern hätte noch das Buch von Baldassare Castiglione gelesen –, sondern das der Niete im Nadelstreifen. Auch damit gerät er in einen perfekten Gegensatz zu dem wilden Affen, der aus Torquato gemacht worden ist. Und so stehen die beiden einander testosteronschwanger gegenüber und schreien einander und dann zur Abwechslung auch einmal den Herzog an, dumme Männer, nichts weiter. Hier und da setzt sich in all der Aufgeregtheit doch einmal ein einzelner Satz Goethes durch und man erstaunt für einen Moment über den Glanz, der erscheint – aber gleich muss wieder um den Teich gerannt, ein Brett umgeworfen, geschrieen und gequiekt werden.

Natürlich macht Frank Hoffmann nichts anderes als das, was Goethe auch getan hat: Er eignet sich eine Kunstfigur an und transponiert sie in die eigene Zeit – witzigerweise stimmen sogar die übersprungenen Zeitspannen ungefähr überein. Nur eines versäumt Hoffmann: Sich zehn Jahre Zeit zu nehmen, um einen eigenen »Tasso« zu schreiben. Stattdessen nimmt er den Text Goethes und legt die eigene Zeit und Kultur darüber. Dass er dabei ein filigranes sprachliches Gebilde von einem Panzer überrollen lässt, scheint er billigend in Kauf zu nehmen – schließlich muss auch er leben, und er hat keinen Herzog Karl August, der ihm wie nebenbei das eine oder andere Haus schenkt oder ihn zwei Jahre auf Urlaub nach Italien fahren lässt.

Das Schlimmste an all dem ist – so fürchte ich –, dass die Inszenierung Recht und ich mit meinem Kopfschütteln Unrecht behalte. Das Stück war schon damals nichts fürs Theater; heute ist es da schon ganz egal, was am Ende auf die Bühne kommt. Hauptsache, es ist was los im Haus. Auf die paar intellektuellen Spinner, die die Unterschiede bemerken, kommt es nun wirklich nicht an. Scheiß auf Goethe: Das Volk will sich amüsieren, die Schauspieler was zum Fressen haben! Und das auf hohem Niveau! Also Theaterzettel raus und los: Goethe »Torquato Tasso«; Regie: Frank Hoffmann …

Das Buch vom Buch

buchvonbuchMarion Janzin, Buchwissenschaftlerin, und Joachim Güntner, Kultur-Journalist, legen inzwischen schon in der 3. Auflage eine umfassende und reichhaltig illustrierte Geschichte des Buches vor. Von den Anfängen der Schrift im mediterranen Kulturraum bis zur Digitalisierung großer Buchbestände zu Anfang des 21. Jahrhunderts spannen sie den Bogen.

Auf den über 500 großformatigen Seiten (32×22 cm) sind nicht nur ausführlich Texte zu allen behandelten Epochen zu finden, sondern besonders die Quantität und Qualität der Illustrationen machen das »Buch vom Buch« zu einem Grundlagenwerk, das jeder Buchliebhaber wenigstens einmal in der Hand gehabt und durchgeblättert haben sollte. Abgerundet wird die herausragende Ausstattung durch die sorgfältige Typographie des deutschen »Typographie-Papstes« Hans Peter Willberg.

Die 3. Auflage unterscheidet sich von den Vorgängern wesentlich nur durch das letzte Kapitel, das die Entwicklung der letzten 10 Jahre in Buchherstellung und Buchhandel darzustellen versucht.

Marion Janzin / Joachim Güntner: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte. 3., überarb. u. erw. Aufl. Schlütersche Verlagsges., 2007. Leinen, fadengeheftet, 512 Seiten (32×22 cm). 88,– €.

Von der Höhe der Alpen (2)

Früh aufgestanden befand ich mich bald zwar unter freiem Himmel jedoch in engen von hohen Gebirgskuppen umschlossenen Räumen. Ich hatte mich an den Fußpfad, der nach Italien hinunterging, niedergelassen und zeichnete, nach Art der Dilettanten, was nicht zu zeichnen war und was noch weniger ein Bild geben konnte: die nächsten Gebirgskuppen, deren Seiten der herabschmelzende Schnee mit weißen Furchen und schwarzen Rücken sehen ließ; indessen ist mir durch diese fruchtlose Bemühung jenes Bild im Gedächtnis unauslöschlich geblieben.

Mein Gefährte trat mutig zu mir und begann: »Was sagst Du zu der Erzählung unsres geistlichen Wirts von gestern abend? Hast Du nicht, wie ich, Lust bekommen Dich von diesem Drachengipfel hinab in jene entzückenden Gegenden zu begeben? Die Wanderung durch diese Schluchten hinab muß herrlich sein und mühelos, und wann sichs dann bei Bellinzona öffnen mag, was würde das für eine Lust sein! Die Inseln des großen Sees sind mir durch die Worte des Paters wieder lebendig in die Seele getreten. Man hat seit Keislers Reisen so viel davon gehört und gesehen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann. Ist Dir’s nicht auch so? fuhr er fort; Du sitzest gerade am rechten Fleck, schon einmal stand ich hier und hatte nicht den Mut hinabzuspringen. Geh voran ohne weiteres, in Airolo wartest Du auf mich, ich komme mit dem Boten nach, wenn ich vom guten Pater Abschied genommen und alles berichtigt habe.«

So ganz aus dem Stegreife ein solches Unternehmen, will mir doch nicht gefallen – »Was soll da viel Bedenken! rief jener, Geld haben wir genug, nach Mayland zu kommen, Kredit wird sich finden, mir sind von unsern Messen her dort mehr als ein Handelsfreund bekannt.« Er ward noch dringender. Geh! sagte ich, mach’ alles zum Abschied fertig, entschließen wollen wir uns alsdann.

Mir kommt vor, als wenn der Mensch, in solchen Augenblicken, keine Entschiedenheit in sich fühlte, vielmehr von früheren Eindrücken regiert und bestimmt werde. Die Lombardie und Italien lag als ein ganz Fremdes vor mir; Deutschland als ein Bekanntes Liebwertes, voller freundlichen einheimischen Aussichten und, sei es nur gestanden: das was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz getragen hatte, blieb auch jetzt das unentbehrlichste Element, aus dessen Grenzen zu treten ich mich nicht getraute.

Johann Wolfgang von Goethe
Aus meinem Leben

Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt

goethe_comicDiese zweibändige Comic-Biografie Goethes ist bereits 1999 zum 250. Geburtstag erschienen; heuer, anlässlich des 175. Todestages, sind die beiden Bände zu einer Sonderausgabe zusammengefasst worden – und natürlich bin ich mit meiner Rezension für beide Jubiläen eigentlich schon zu spät. Schadet aber nichts, denn so gut ist das Ding nicht, dass einer was verpasst hätte.

Autor beider Teile ist Friedemann Bedürftig, und danach sind sie auch geraten: Insgesamt eine oberflächliche und fehlerhafte Darstellung entlang vieler Klischees und unter Auslassung wichtiger Informationen:

  • Ist es wirklich nötig, den jungen Goethe 1774 »An Schwager Kronos« in der geglätteten Fassung von 1787 rezitieren zu lassen?
  • Warum ist das Weimarer Schloss, das am 6. Mai 1774 abgebrannt ist, bei Bedürftig »vor zwei Jahren« abgebrannt, als Goethe im November 1775 in Weimar eintrifft?
  • Warum erfahren wir an keiner Stelle, dass Frau von Stein verheiratet war?
  • Warum werden für eine Szene der Walpurgisnacht Verse aus der Hexenküche zitiert?
  • Warum erfahren wir nicht, dass 1828 Großherzog Karl August stirbt?
  • Warum wird uns suggeriert, die Beschwörung des Erdgeistes, die bereits 1775 fertig war, sei Goethe im Zusammenhang mit der Exhumierung von Schillers Leichnam 1827 in den Sinn gekommen?
  • Warum wird uns als Pars pro toto für Eckermanns Gespräche mit Goethe ausgerechnet ein belangloses Gefasel über Brillen angeboten, das so nicht einmal dem tatsächlichen Gespräch vom 5. April 1830 entspricht?
  • Und warum gibt das Goethe-Institut seinen Namen für einen solchen Kram her?

Magst Priester, Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.

Die Zeichnungen des ersten Bandes von Christoph Kirsch sind etwas bieder und pädagogisch, während der zweite Band mit Zeichnungen von Thomas von Kummant und der Kolorierung durch Benjamin von Eckartsberg deutlich an Kraft und Ausdruck gewinnt, nicht zuletzt dadurch, dass er im Gegensatz zu Band 1 handgelettert ist.

Ach ja, da fällt mir noch ein: Über das ganze Buch hinweg herrscht ein seltsamer Mischmasch von alter und neuer Rechtschreibung; da hätte man auch mal abschließend drüberschauen können.

Alles in allem also: Inhaltlich gänzlich belanglos, graphisch im zweiten Teil durchaus ansehnlich.

Friedemann Bedürftig / Christoph Kirsch / Thomas von Kummant / Benjamin von Eckartsberg: Goethe – Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt. Sonderausgabe in einem Band. Köln: Egmont, 2007. 109 Seiten. 14,– €.

Ein Urteil über Gibbon

Der Historiker Edward Gibbon kommt bei Arno Schmidt vereinzelt vor; oft wird im Ton der Verehrung über ihn gesprochen, an einer Stelle wird er sogar »ein Großer Mann« genannt – ein Urteil, das Schmidt nicht leicht über die Lippen kam, sonst aber wenig besagen will. Eine Stelle über Gibbon aber hat mich immer besonders neugierig gemacht, denn sie zitiert ein witziges und zugespitztes Urteil über ihn, von dem ich immer gern gewußt hätte, von wem es wohl stammt:

»Du erinnersD Mich an so manichäerleye –« (W): »Erstlich an ein Urteil über GIBBON, das Ich jüngst las: ›he never gave credit for a good motive, when a base one could be found‹.

Zettel’s Traum, S. 1159

Bei der jetzigen Beschäftigung mit Gibbons »Verfall und Untergang« habe ich die Quelle zufällig entdeckt: Es handelt sich um den Artikel »Prostitution« aus der 11. Auflage der »Encyclopædia Britannica« (Bd. 22, S. 459), der von Arthur Shadwell, einem promovierten Mediziner und Mitglied der Epidemiological Society, verfasst wurde. Damals waren unfraglich noch die Epidemiologen und nicht die Soziologen die zuständigen Fachleute in Fragen der Prostitution.

Witzig wird die Fundstelle aber dadurch, dass die Figur Wilma, der Schmidt die oben zitierte Äußerung zuschreibt, offenbar kurz zuvor diesen Artikel gelesen haben muss und gleich im Anschluss an dieses Zitat zu einer großen Schimpftirade gegen eine Freundin ihrer Tochter ausholt, deren freizügiges Benehmen ihr ein Dorn im Auge ist, wahrscheinlich nicht nur aus Sorge um die Sittsamkeit ihrer Tochter, sondern auch weil ihr Mann Paul nicht unanfällig für die Reize der jungen Schönen zu sein scheint. Auch hier bildet – wie so oft bei Schmidt – die verdeckt bleibende Herkunft eines Zitats den Assoziations-Auslöser für den nachfolgenden Text. Das eigentliche Motiv bleibt im Verborgenen.

Die eine Hälfte des Verfalls

gibbon_printEs ist ein merkwürdiger Torso, den dtv im November 2003 mit seiner neuen, anspruchsvollen Übersetzung des Gibbon dem deutschen Publikum vorgelegt hat: Mit Michael Walter übersetzt einer der profiliertesten und besten Kenner des Englischen des 18. Jahrhunderts das bedeutende Geschichtswerk der vorromantischen Epoche neu und – lässt es zugleich bleiben. Edward Gibbons »Decline and Fall of the Roman Empire« ist im englischsprachigen Raum wahrscheinlich die bis heute meistgelesene umfangreiche geschichtliche Darstellung überhaupt. Das Buch sorgte aufgrund seines distanzierten Blicks auf das frühe Christentum im Römischen Reich schon während seines Erscheinens europaweit für Aufregung, und die ersten Bände wurden bereits vor Abschluss des Gesamtwerks erstmals ins Deutsche übersetzt. Seitdem hat Gibbons monumentale Darstellung immer neue Auflagen sowohl des Gesamtwerks als auch diverser Ausgliederungen erlebt.

Der Text der neuen dtv-Ausgabe umfasst die ersten drei der insgesamt sechs Bände des Originals und endet mit dem Untergang des Weströmischen Reiches. Die nachfolgenden drei Bände, die die Geschichte Ostroms, sprich Byzanz’ bzw. Konstantinopels bis zur Eroberung der Stadt im Jahr 1453 enthalten, fehlen kommentarlos. Es findet sich weder eine herausgeberische Reflexion zu dieser Halbierung noch etwa die Ankündigung einer Fortsetzung oder Vervollständigung der vorgelegten Ausgabe.

Eine weitere Merkwürdigkeit tritt hinzu: Mit Michael Walter zeichnet, wie bereits gesagt, ein profilierter und stilistisch brillanter Übersetzer für den deutschen Text dieser Teil-Ausgabe verantwortlich, wenigstens für einen Teil des Teils. Denn Walter scheint seine Übersetzung nach dem Kapitel XXXII abgebrochen zu haben; alle Fußnoten, die Kapitel XXXIII bis XXXVIII und die den dritten Band des Gesamtwerks abschließenden »General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West« sind von Walter Kumpmann übersetzt. Auch diesen Umstand thematisiert die Ausgabe so wenig wie möglich, geschweige denn, dass sie ihn erklärt.

gibbon_fallAls sei dies alles nicht merkwürdig genug, hat sich der Verlag der Digitalen Bibliothek, die normalerweise für umfängliche und möglichst vollständige Ausgaben steht, entschlossen, den Torso des dtv-Verlages unverändert (inklusive der Druckfehler) und ohne Ergänzungen auf einer CD-ROM zu publizieren. Dabei ist das mit den »Ergänzungen« allerdings auch leichter hingeschrieben als getan, denn die letzte einigermaßen vollständige Ausgabe des »Verfalls und Untergangs« stammt vom Anfang des 19. Jahrhunderts und dürfte vermutlich in einem auffälligen stilistischen Kontrast zu Walters Übersetzung stehen. Und die Beigabe des englischen Textes hätte die digitale Ausgabe nicht nur im Preis bedeutend teurer (und damit unverkäuflicher) gemacht, sondern den fragmentarischen Charakter dieser deutschen Ausgabe entweder verdoppelt oder überaus auffällig gemacht, je nachdem ob man nur drei oder alle sechs Bände im Englischen beigegeben hätte.

Sieht man von all diesen Halbheiten einmal ab, so präsentieren die beiden Ausgaben den seit ungefähr 200 Jahren vollständigsten und sicherlich lesbarsten Gibbon in deutscher Sprache. Für den heutigen Leser ist weniger die sachliche Richtigkeit der Darstellung Gibbons en détail entscheidend als vielmehr sein erzählender Stil, sein origineller Blick und sein Humor, denn dies sind die Eigenschaften, die den konstanten Erfolg des Buches über die Jahrzehnte hinweg garantiert haben.

Mit dem ehrwürdigen Prokonsul [Gordian] wurde zugleich sein Sohn, der ihn als Legat nach Africa begleitet hatte, zum Kaiser erklärt. Er war weniger sittenstreng, doch im Wesen ebenso liebenswürdig wie sein Vater. Zweiundzwanzig anerkannte Konkubinen und eine zweiundsechzigtausend Bände umfassende Bibliothek bezeugten die Vielfalt seiner Neigungen, und wie seine Hervorbringungen beweisen, dienten beide Sammlungen mehr dem Gebrauch als zur Prahlerei.

Die Ausgabe wird ergänzt durch zahlreiche Bibliographien, ein Personenregister und einen hervorragenden, knapp 100 Seiten langen Essay von Wilfried Nippel über Gibbon. Zwischen der gedruckten und der digitalen Ausgabe besteht ein Preisunterschied von 48,– € und dies könnte ein Vermarktungsmodell für die Zukunft darstellen: Umfangreiche Werke, die im Taschebuch erscheinen, werden nach einigen Jahren als digitale Ausgaben auf den Markt gebracht, die so zum Taschenbuch des Taschenbuchs werden könnten. Die üblichen Vorteile einer digitalen Ausgabe mit der bewährten Software der Digitalen Bibliothek mit Volltextsuche, Lesezeichen, Notizen und Markierung verstehen sich als Dreingaben inzwischen ja beinahe von selbst.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. 6 Bde. dtv, 2003. Kartoniert, 2296 Seiten. 78,– €.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. Digitale Bibliothek Band 161. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.