Kurz gefasste Literaturgeschichten treffen offenbar ein Bedürfnis der Zeit. So hat jetzt auch der Germanist Walter Hinck – emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln – mit seiner »Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts« einen kurzgefassten Durchgang durch die deutschsprachige Romanliteratur des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Der Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« ist dabei zwar etwas vollmundig geraten, aber ansonsten ist Hincks kleine Literaturgeschichte so schlecht nicht.
Hinck bespricht insgesamt 37 Romane, die zwischen 1900 und 2000 erschienen sind. Jeder Autor ist nur mit einem Werk vertreten (die einzige Ausnahme bildet Herman Broch, dessen Trilogie »Die Schlafwandler« aufgenommen worden ist), und die Liste der Autoren entspricht dem, was man bei einem solchen Buch erwarten darf: Heinrich und Thomas Mann, Franz Kafka und Hermann Hesse, Heinrich Böll und Alfred Andersch, Thomas Bernhard und Arno Schmidt usw. usf. Auch die Auswahl der Romane ist großteils eher sehr konventionell, nur hier und da erlaubt sich Walter Hinck einen Ausreißer: Dass von Thomas Mann etwa der selbstverliebte und zeitferne Roman »Königliche Hoheit« statt des »Zauberbergs« gewählt wurde, begründet Hinck damit, dass er keine Lust gehabt habe »Hunderte von Auslegungen und Spekulationen wiederzukäuen«, ohne allerdings zu verraten, wer solches denn von ihm verlangt oder auch nur erwartet hätte. Auch dass er von Günter Grass statt des einzig im Sinne einer Chronik relevanten Romans »Die Blechtrommel« den weitgehend formlosen und in seinem Anspruch hybriden Spätling »Ein weites Feld« bespricht, bleibt unverständlich. Als einzige wirkliche Überaschung und spannende Ausnahme in der sonst konventionellen Zusammenstellung dürfte Norbert Gstreins »Die englischen Jahre« aus dem Jahr 1999 gelten.
Im Einzelnen findet der Kenner zahlreiche kleinere Fehler, die aber bei der Lektüre des Bandes gar nicht stören müssen. Hincks Roman-Chronik ist ein anregendes Lesebuch, das einen, wenn man den Empfehlungen folgt, mit einer breiten Palette von interessanten deutschsprachigen Roman-Autoren des 20. Jahrhunderts bekannt macht. Gerade den notorisch schlecht belesenen Studenten der Neueren deutschen Literatur kann man das Buch als Lektüreplan sorglos an die Hand geben, und auch der eine oder andere Leser wird aus dem Buch eine knappe Orientierung in der verzweigten Geschichte der Romanliteratur des vergangenen Jahrhundert finden können.
Der mitgelieferte Anspruch, die Roman-Chronik lassen »eine Geschichtschronik durchscheinen«, der sich auch in dem etwas protzigen Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« niedergeschlagen hat, erweist sich letztendlich als gänzlich banal:
Besondere Aufmerksamkeit richtet sich also auf Romane, in denen der Gang der politischen und der Sozialgeschichte, der Kultur-, der Alltags- und der Mentalitätsgeschichte seinen Fußabdruck in der Erzählung hinterlassen hat. [S. 9]
Das gilt in dieser Allgemeinheit offensichtlich für jeden Roman – wie weltabgewandt er sich auch immer geben mag, da sein Autor immer auch »ein Mensch mit Menschen« ist – und wird auch nicht weiter spezifiziert. Man kann diesen Aspekt daher getrost auf sich beruhen lassen.
Wer nicht zuviel von diesem Buch erwartet, sondern es als Anregung und kleinen Wegweiser benutzt, dem kann es wahrscheinlich gute Dienste leisten. Wer etwas mehr erwartet, ist sicherlich mit den Bänden 3–5 des Romanlexikons in der Reclamschen Universalbibliothek besser bedient.
Walter Hinck: Roman-Chronik. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. DuMont, 2006. Pappband, 282 Seiten. 24,90 €.